Demokratie vierstimmig

Von Kirsten Westhuis · 20.01.2012
Volksabstimmung unter Sopran, Alt, Tenor und Bass - der Chor der Woche "Elbcanto" aus Hamburg probt basisdemokratisch. Es gibt keinen Chorleiter und alle Sängerinnen und Sänger können und sollen sich sogar in die Probenarbeit einbringen.
"Wir stimmen jetzt ab. Männerstimme: Wer ist für eins? Wer ist für zwei? Lachen. Wer ist für drei? Ok, damit ist Vorschlag drei einstimmig angenommen. Lachen."

Beim Hamburger Chor "Elbcanto" steht die Volksabstimmung auf der Tagesordnung. Basisdemokratisches Singen sozusagen. Es gibt keinen Chorleiter, sondern alle 16 Sängerinnen und Sänger erarbeiten die Stücke gemeinsam. Jede Stimme zählt. Jeder einzelne bringt sein Wissen, seine Meinung, seine Gefühle in die Musik ein.

"Ich finde dieses Ritardando zum Schluss viel zu groß für dieses kleine Liedchen. Ich würde gerne ausprobieren komplett ohne Ritardando und dann können wir irgendwas in der Mitte finden."

Im Hintergrund: Diskussion, Gespräch.

"Manchmal merkt man, wie wenig doch gesungen wird und wie viel gesprochen wird. Wir haben manchmal auch eine Stoppuhr, die dann läuft. Wenn gesungen wurde, fängt die Stoppuhr an zu laufen und wenn wir zwei Minuten geredet haben gibt's n Zeichen und dann muss gesungen werden."

Andreas Heinemeyer soll im Interview über Elbcanto berichten, beschließt die Gruppe. Denn er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Chores. 2006 haben sich Studenten aus dem Umfeld der Musikhochschule Hamburg zusammengetan, um selbstbestimmt zu singen. Mittlerweile sind einige von ihnen Musiklehrer in der Schule, aber auch Informatiker und Juristen singen mit. Die Stücke bereiten sie zuhause vor und in der Probe werden dann die Details diskutiert.

"Durcheinander./ Wenn man mehr auf das Wort geht als auf die Silben, dann hat man mehr den Zusammenhang/ Frauenstimme: Kommt, jetzt singen
wir mal wieder!"

Organisierte Proben mit einem Leiter, der klipp und klar sagt, wo es lang geht, seien zwar auf den ersten Blick effizienter, meint die 29-jährige Ulrike Beinschob. Doch sie mag die Mühe und die Konzentration, die Elbcanto für jeden Einzelnen bedeutet:

"Ich weiß halt, warum ich das mache, denn ich hab noch sehr selten solche Konzertsituationen erlebt wie mit Elbcanto. Weil man so direkt mit dem Publikum kommuniziert. Also, man spürt das. Beim ersten Auftritt, das hat mich total mitgenommen, positiv, emotional, weil man merkt, wie sehr man dran ist an all dem. Diese Art zu arbeiten erhöht halt das Verantwortungsgefühl des einzelnen ungemein."

"Wir haben sicher manchmal sehr besondere Interpretationen, weil sie nicht von einer Person durchdacht ist. Wobei wir immer probieren, das der Musik entsprechend und stilentsprechend zu machen, aber sicher gibt es immer Besonderheiten dadurch. Ob man die wirklich hört, weiß ich nicht."

Aber ja, fand die Jury des 8. Deutschen Chorwettbewerbs 2010 in Dortmund. Sie zeichnete Elbcanto mit dem Sonderpreis für die Interpretation deutscher Volkslieder aus.

Das aktuelle Programm ist weniger weltlich: "Von früh bis spät - 1000 Jahre Messe" ist eine Reise durch verschiedene Mess-Vertonungen vom gregorianischen Choral bis zur freien Improvisation, erzählt Rüdiger Bültmann, Mitglied der Programmkommission:

"Weil wir ja den Volksliedpreis gewonnen haben beim deutschen Chorwettbewerb, hatten wir halt eine Idee, dass wir uns auf Volkslieder stürzen könnten und da halt Bearbeitungen von, oder diese Idee, die Messe durch die Jahrhunderte zu schicken. Und dann haben wir darüber gesprochen, Pros und Kontras ausgetauscht mit einem Bierchen in der Hand und dann uns entschieden für dieses Programm."

Rüdiger Bültmann hört Aufnahmen, vergleicht, besorgt Noten, setzt sie in die richtige Form. Dadurch kennt er manche Stücke besser als seine Mitsänger und führt eine Weile die Probe an:

"Und dann kommt halt zum Schluss nochmal, ähnlich zu dem vorderen Block, der hintere."

Er ist aber nicht etwa der heimliche Chorleiter. Sobald jemand zu sehr in den Mittelpunkt drängt, weisen die anderen ihn dezent in seine Schranken. So funktioniert das demokratische Konzept bei Elbcanto.

"Gibt's wen, der am besten Englisch kann, andere Leute, die sich mit lateinischen Texten gut auskennen und irgendwelche Schwerpunkte hat auch und wir gerne sagen, okay, du bist Spezialist in dem Fall, du bist zum Beispiel Spezialist bei diesem Stück, weil du dir das angehört hast zu Hause und die Noten eingeschrieben hast, dann fragt man gerne den Spezialisten auch mal."

Ein Chor ohne Leiter. Ist das Anarchie, Guerilla-Singen, Revolution? Nein. Die Sängerinnen und Sänger von Elbcanto wollen sich gegenseitig bereichern. Das geht, wenn jeder sich ein wenig zurücknimmt, sagt Henrike Korb, die sich in der Probe gerne mal von den anderen mitziehen lässt.

"Jeder hat ja so ein bisschen unterschiedliche Rollen darin. Ich finde auch das Zwischenmenschliche immer wichtig in so 'nem Ensemble, das ist mir immer ganz wichtig, dass zum Beispiel die Stimmung nicht kippt oder so was, das seh' ich dann manchmal mehr als meine Aufgabe an, als jetzt musikalisch was voranzutreiben."

"Das gehört natürlich auch mit dazu, dass wir uns sozial weiterentwickeln, also was den Umgang miteinander angeht, das gehört dazu. Je weiter wir da sind, desto besser wird auch das musikalische Arbeiten."

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.
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