Wo die Klaviermaus wohnt

Von Stefanie Müller-Frank · 23.12.2011
Die Singakademie Potsdam hat neben ihrem Kinder- und Jugendchor auch einen Spatzenchor zu bieten. An die 50 Kinder von der ersten bis zur dritten Klasse proben dort einmal pro Woche gemeinsam – sogar drei Kindergartenkinder sind dabei. Sie können zwar noch keine Texte lesen, merken sich die Lieder aber oft am schnellsten.
Endlich: Alle 46 Chorkinder sitzen. Na ja, fast alle. Paul musste zum Zahnarzt, ruft Benno. Nässrin und Vanessa sind beim Hockey. Und Tim ist gerade wieder vom Stuhl aufgesprungen, holt eine Tupperdose aus seinem Ranzen und packt ein Käsebrot aus.

Die Chorleiterin Konstanze Lübeck blickt einmal streng, und während das Käsebrot blitzschnell wieder in der Dose verschwindet, hebt die 49-Jährige beide Arme:

Die Chorprobe beginnt für die Musikpädagogin lange vor dem Einsingen: Die Tische im Speisesaal zur Seite schieben, drei Stuhlreihen aufbauen, die Chorkinder vom Hort abholen – und: sie bändigen. Schließlich haben die schon vier Stunden Schule hinter sich. Und sind im Hort vielleicht gerade beim Fangenspielen, wenn Konstanze Lübeck sie abholen kommt.

" Letztendlich wenn man hier vor den Kindern steht, man hat so einen Dompteurstatus inne. Im positiven Sinne, nicht mit der Peitsche. Aber trotzdem: Man muss sie die ganze Zeit im Banne haben. Das hat schon viel von so einem – von einem lieben Dompteur aber. "

Die Kinder lümmeln vergnügt auf ihren Stühlen, ein Mädchen in der ersten Reihe wickelt sich Haarsträhnen um den Finger, der Junge neben ihr hat gedankenverloren sein T-Shirt hochgeschoben. Ein anderer gähnt. Dem Vordermann Hasenohren zeigen ist beliebt, sich gegenseitig kitzeln oder schubsen noch mehr. Immer wieder verschwinden Mädchen zu zweit aufs Klo. Eine spezielle Sitzordnung gibt es nicht.

Auch eine Aufnahmeprüfung findet Konstanze Lübeck überflüssig. Viele, die in der ersten Klasse kommen, können zwar noch gar nicht singen, erzählt sie. Aber woher auch? Im Kindergarten wird meist zu tief gesungen, in der Familie genauso. Die Kinder müssen ihre Stimme also erstmal entdecken.

" Seit vielen Jahren ist eigentlich die Devise: Es kommt jedes Kind in den Chor, das möchte. Es wird nicht überprüft, ob er richtig singen kann. Sondern das wird sich schon im Laufe der Zeit entwickeln – und sei es, dass ich mit demjenigen mal alleine übe im stillem Kämmerlein. Und das Andere ist auch, dass man mit kleinen Kindern – na ja, was heißt klein? (lacht) Die würden sich jetzt aufregen – dass man mit denen ganz anders arbeiten kann. Und zwar viel offener. Also das heißt, ich kann hier im Chor einzelne singen lassen und dann sagen: Du bist aber jetzt noch nicht richtig gewesen, du warst zu tief. Machen Sie das mal mit Erwachsenen! Das funktioniert nicht. "

Als die nächste Strophe vom Regenwurmlied dran ist, und Konstanze Lübeck fragt, wer sich noch an den Text erinnern kann, schnellen fünf, sechs Finger auf einmal hoch. Die Chorleiterin ruft einen nach dem anderen auf, vorzusingen. Ein Junge stampft wütend mit dem Fuß auf, weil er nicht gleich drankommt. Dann ist ein Mädchen aus der ersten Klasse an der Reihe. Sie hatte sich gemeldet, traut sich dann aber doch nicht so recht, die hohen Töne zu singen und hält sich verlegen die Ohren zu. Mit einem Mal ist es ganz still im Speisesaal.

" Alle Kinder hören zu, wie das eine Kind sich müht – und wenn es das dann schafft, dann kommt natürlich ein Riesenbeifall. Und damit ist auch das Selbstwertgefühl gestärkt. Und das finde ich unheimlich wichtig, dass die auch wissen: Es ist absolut keine Schande, einen falschen Ton zu singen, ja? "

Und wenn gar keine Töne rauskommen wollen, singt die Chorleiterin eben behutsam mit. Dann setzt sie wieder ihre Brille auf, wirft schnell einen Blick auf das Pult vor sich und gibt ein Zeichen.

" Ich habe den Text fast immer vor der Nase, und die Kinder haben es unheimlich schnell drauf. Da staune ich immer wieder. Also Kinder lernen ganz schnell die Texte. Und die lernen auch gern. Weil es kommt immer wieder die Frage: Und? Lernen wir ein neues Lied? "

Am liebsten mögen die Chorkinder Lieder, die von Tieren erzählen. Von mutigen Tieren, die spannende Dinge erleben. Wie die Maus zum Beispiel, die im Klavier wohnt und nachts heimlich auf den Tasten tanzt.

Konstanze Lübeck macht beim Dirigieren große Gesten und noch größere Augen – sie führt die Geschichte quasi vor ihrem Spatzenchor auf. Und als das Lied wieder zum Refrain kommt, kreisen die Kinder begeistert mit den Hüften und klatschen in die Hände. Dem Singen tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil.

Immer mehr Menschen in Deutschland singen im Chor. In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft deutscher Chorverbände (ADC) stellt Deutschlandradio Kultur jeden Freitag um 10:50 Uhr im Profil Laienchöre aus der ganzen Republik vor: Im "Chor der Woche" sollen nicht die großen, bekannten Chöre im Vordergrund stehen, sondern die Vielfalt der "normalen" Chöre in allen Teilen unseres Landes: mit Sängern und Sängerinnen jeden Alters, mit allen Variationen des Repertoires, ob geistlich oder weltlich, ob klassisch oder Pop, Gospel oder Jazz und in jeder Formation und Größe.
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