Delphine de Vigan: "Dankbarkeiten"

Macht der Gefühle

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Buchcover zu Delphine de Vigan: "Dankbarkeiten"
Wenn die Sprache nach und nach verloren geht: Davon erzählt Delphine de Vigan in "Dankbarkeiten". © Dumont Verlag
Von Birgit Koß · 01.04.2020
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In "Dankbarkeiten" erzählt Delphine de Vigan von Michka, der im Alter die Sprache abhanden kommt. Stattdessen entwickelt sie starke Emotionen für das Ehepaar, das sie als Kind vor den Nazis gerettet hat - und möchte sich bei ihnen bedanken.
Immer wieder lotet die französische Bestseller-Autorin Delphine de Vigan in ihren Romanen gesellschaftliche Phänomene und die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen aus. Ging es in ihrem vorherigen Roman "Loyalitäten" um die unverbrüchliche Liebe von Kindern zu ihren Eltern, widmet sie sich diesmal den "Dankbarkeiten" – in seinen verschiedenen Facetten.
Michka und Marie kennen sich bereits seit Maries Kindheit. Da ihre Mutter oft nicht ausreichend für ihre kleine Tochter sorgen konnte, hat sich die Nachbarin Michka immer wieder rührend um Marie gekümmert. Daraus ist eine tiefe Beziehung entstanden.

Angst vor Verlust der Sprache

Nun dreht sich die Verantwortung um. Michka plagen mit dem Älterwerden zunehmend körperliche Gebrechen, sie hat beängstigende Träume und allmählich kommt ihr die Sprache abhanden. Als Marie ihre gebrechliche Freundin zu sich holen will, wehrt diese ab und entscheidet sich für ein Altenheim. Hier kommt die dritte Hauptfigur ins Spiel: Der Logopäde Jérôme. Auch er freundet sich mit Michka an. Jérôme bewundert dabei den blitzenden Humor, den die alte Dame immer noch hat, obwohl ihr die Sprache langsam entgleitet. Das zu akzeptieren, fällt Michka sehr schwer. Sie hat als Fotoreporterin gearbeitet, war Korrektorin für eine Zeitung und hat zeitlebens ihre Unabhängigkeit genossen. Da sie nicht an Demenz, sondern an Aphasie leidet, erfüllt sie der Verlust der Worte mit Angst. Marie, die sie oft besucht, leidet mit.
Und trotz des Trainings mit Jérôme werden Michkas Ausdrucksmöglichkeiten immer fragmentarischer. Die Autorin zeigt das, indem sie die Handlung immer mehr verknappt und auf ein jähes Ende zuführt. Schließlich hat Michka nur noch einen Wunsch: Sie möchte sich bei den Menschen bedanken, die sie während des Zweiten Weltkriegs versteckt haben. Ihre jüdische Mutter hatte sie zu dem Ehepaar gebracht, zu dem später nie wieder Kontakt hatte. Sowohl Marie als auch Jérôme begeben sich für Michka auf die Suche.

Vorwiegend Dialoge

Delphine de Vigan erzählt diese Geschichte in kurzen Kapiteln mal aus der Sicht von Marie, mal aus der von Jérôme. Überwiegend handelt es sich um Dialoge zwischen Michka und den beiden. Zu Beginn wird Michkas Aphasie nur durch die Vertauschung einzelner Buchstaben deutlich – "Dante" statt "Danke" oder "Oje" statt "Okay". Doch dann wird alles lückenhafter. Geschickt nutzt die Autorin Wortvertauschungen und schafft Assoziationen, die über die kurzen Dialoge hinausgehen.
So scheint es als könne Michka noch immer mit der Sprache spielen. Delphine de Vigan schafft Mitgefühl für ihre Protagonistin und macht sie gleichzeitig zur Botschafterin ihres Anliegens, dass Zuneigung und Dankbarkeit zu den wichtigsten zwischenmenschlichen Gütern gehören. Auf knapp 170 Seiten entsteht eine dichte Geschichte, die lange nachklingt.

Delphine de Vigan: "Dankbarkeiten"
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Dumont Verlag, Köln 2020
166 Seiten, 20 Euro

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