Vom Leben überfordert

20.06.2013
Die schillernde und leidvolle Geschichte einer Familie erzählt die Französin Delphine de Vigan: Ein Bruder verunglückt tödlich im Alter von sechs Jahren, zwei begehen Selbstmord. Doch es gibt auch rauschende Feste, Ferien im Süden, viele Freunde und anregende Tafelrunden.
In ihrem neuen Roman "Das Lächeln meiner Mutter" liefert sich Delphine de Vigan ihren Lesern aus, indem sie die eigene Familiengeschichte aufdeckt. Und doch lässt sie sich nie ganz das Heft aus der Hand nehmen, dazu ist sie zu sehr eine Autorin, die mit der Sprache spielt, die Perspektiven wechselt und der es gelingt, den Spannungsbogen bis zum Ende zu halten. Dafür wurde sie für alle vier bedeutenden französischen Literaturpreise nominiert.

Delphine findet ihre Mutter Lucile tot in der Wohnung, als sie sich gerade auf die Verleihung eines Literaturpreises vorbereitet. Die Mutter hat Suizid begangen – ihre Tochter fühlt sich zum wiederholten Male von ihr verlassen. Wer war diese Frau, die sich häufig zurückzog, in ihrer eigenen Welt lebte und nach außen oft ein wunderschönes, aber verschlossenes Lächeln zeigte? Luciles Foto, geheimnisvoll und verführerisch, ein wenig an Romy Schneider erinnernd, ziert den Einband des Buches.

Um sich der Geschichte von Lucile, aber auch ihrer eigenen anzunähern, beginnt Delphine de Vigan das Projekt, einen Roman über ihre Mutter zu schreiben. Dazu sichtet sie Unmengen von hinterlassenen Papieren und Veröffentlichungsversuchen ihrer Mutter, Fotos, macht Interviews mit den Geschwistern Luciles und gleicht ihre eignen Erinnerungen mit denen ihrer Schwester ab.

Wenn die Autorin Luciles Lebensgeschichte erzählt, spricht sie in der dritten Person. Wir erfahren, dass Lucile schon immer sehr ruhig und zurückgezogen war in der Großfamilie mit neun Geschwistern, und bereits in ihrer Kindheit mit ihrer Schönheit als Fotomodell Geld für die Familie verdiente. Luciles Familie lebt unkonventionell, geprägt von der Liebe und Leichtigkeit der Mutter und dem alles überragenden Vater, den Lucile zuerst vergöttert und dann zu hassen lernt, bis sie ihn eines Tages wegen Missbrauchs anprangert, ohne dass ihre Anklage in der Familie aufgenommen und ihr Glauben geschenkt wird.

Die Familie erfährt viel Leid. Ein Bruder verunglückt tödlich im Alter von sechs Jahren, zwei begehen Selbstmord. Auf der anderen Seite gibt es große rauschende Familienfeste, Ferien im Süden mit vielen Freunden und großen anregenden Tafelrunden.

Was ist die Wahrheit? Gibt es nur eine?
Die chronologische Darstellung von Luciles Leben wird immer wieder unterbrochen von Einschüben, in denen Delphine de Vigan dieses Projekt in Frage stellt. Als Ich-Erzählerin macht sie sich darüber Gedanken, welche Auswirkungen die Aufarbeitung der Familiengeschichte auf ihre Beziehungen zur Familie haben kann. Werden einige ihre Sicht der Dinge ablehnen und den Kontakt zu ihr abbrechen? Und sie stellt sich die immer wiederkehrende Frage, was ist die Wahrheit, gibt es nur eine?

Die Leser erfahren viel über die Autorin, ihre frühe Verlassenheit durch ihre vom Leben überforderte Mutter, über ihre Abgrenzung – auf keinen Fall so wie ihre Mutter werden zu wollen –, über die großen Verunsicherungen und Ängste, als Delphine und ihre Schwester mit ansehen und erleben müssen, wie Lucile den Kontakt zur Wirklichkeit verliert, nur noch in ihrem Wahn lebt und schließlich mehrfach in der Psychiatrie landet.

Der Roman verführt zu der Frage, was ist echt und wo beginnt die Freiheit der Schriftstellerin? Delphine de Vigan schreibt in einer sehr authentischen Sprache, die ein berührendes und teilweise auch verstörendes Gefühl beim Lesen erzeugt. Gleichzeitig wird klar, aus welchen Erfahrungen sie schon bei ihren vorhergegangenen Romanen und deren Figuren geschöpft hat. Ihre Wahrhaftigkeit entwickelt einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann und will.

Besprochen von Birgit Koß

Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner Mutter. Roman
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
Droemer Verlag, München, 2013
384 Seiten, 19,99 Euro
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