Debussy im Flakon

Von Bettina Kaps |
Lavendel, Jasmin - oder doch Zitronengras? Mit der Nase durch die Zeit reisen: Das ermöglicht das weltweit einzigartige Archiv für Gerüche in Versailles. Die "Osmothek" von Jean Kerleo besitzt eine Sammlung von 1800 Parfums, darunter viele, die verschollen sind.
300 dunkelbraune Apothekerfläschchen stehen aufgereiht in einem Wandregal. Davor: Glaskolben, Pipetten, Teststreifen und eine elektronische Waage. Das ist alles, was Jean Kerléo braucht, um ein Parfum zusammen zu mischen. Der weißhaarige Mann sitzt auf einem Drehschemel und studiert eine eng beschriebene Liste mit Zutaten und Mengenangaben. Sie sieht aus wie ein raffiniertes Kochrezept.

"'"Ich will ein Parfum nachmachen, einen Duft für Männer, er heißt 'Patou pour homme'. Unser Vorrat davon geht zur Neige. Deshalb müssen wir das Parfum neu herstellen, und zwar soviel, dass es für die nächsten zehn Jahre reicht. Es ist ein verschollenes Parfum, das nicht mehr im Handel ist. Nur hier, in der Osmothek, bewahren wir es noch auf.""

Die Osmothek - ohne ihn, Jean Kerleo, gäbe es diese Institution nicht. Es ist eine weltweit einzigartige Einrichtung, deshalb musste auch ein neues Wort geschaffen werden. Osme ist das griechische Wort für Geruch und Thek für Sammlung.

Die Osmothek ist kein Museum, sagt der 80-Jährige nachdrücklich, sondern ein Archiv für Düfte.

Seit über 20 Jahren sammelt er nun schon Parfums und bewahrt sie hier, auf dem Gelände der Parfümeurschule von Versailles auf. Aktuelle Düfte, und auch verschollene, wie zum Beispiel "Patou pour homme", einen Duft, den Kerleo selbst einmal kreiert hat, als er noch für das Pariser Modehaus Jean Patou gearbeitet hat. Damals kam ihm die Idee, ein Duft-Konservatorium zu gründen:

"Als ich Parfums geschaffen habe, sagte man mir oft: Es riecht gut, aber etwas Ähnliches habe ich schon gerochen. Das war ärgerlich. Außerdem hörte ich immer wieder: Früher waren die Parfüms besser. Stets kam die Erinnerung ins Spiel. Deshalb beschloss ich, verschollene Parfums wieder zu finden."

Unmöglich, sagten die Kollegen, seine Formel wird dir niemand anvertrauen. Aber als wieder einmal ein altbekanntes Parfumhaus verkauft wurde, gab der ehemalige Besitzer die Rezeptur seines berühmtesten Duftes in Kerleos Obhut. Er wollte das Parfum vor dem Vergessen retten. Jean Kerleo bürgte dafür, dass die Formel geheim bleiben werde, und verschloss sie im Safe einer Bank: "Crêpe de Chine", ein Kultparfum aus dem Jahr 1925, war der erste Duft der Osmothek.

Der energische alte Herr steht auf: Ihm fehlen noch ein paar Rohstoffe, um "Patou pour homme" zusammen zu mischen. Sie sind im Keller aufbewahrt, zusammen mit der Parfumsammlung der Osmothek. Einfache Wandregale kleiden den Raum aus, auch sie vollgestellt mit braunen Laborflaschen. Nur ein weißes Etikett verrät, welche Rarität sich jeweils darin verbirgt.

"La Rose Jacqueminot" zum Beispiel war der erste Duft, den der Begründer der modernen Parfümerie, Francois Coty, kreierte. "Fougère Royale", ein weiterer Duft, stammt aus dem Jahr 1884.

Damit knapp 130 Jahre später Fougère Royale auch noch nach Fougère Royale duftet, hat Jean Kerleo eine ganz spezielle Methode entwickelt:

"Der Keller wird auf 12 Grad Celsius gekühlt. Die Parfums füllen wir in getönte Glasflaschen ab, um sie vor Licht zu schützen. Außerdem, das ist ganz wichtig, spritzen wir jedes Mal, wenn wir ein Flakon geöffnet haben, Argon ein. Das ist ein neutrales Gas, es ist schwerer als Sauerstoff und legt sich auf das Parfum. So verhindert es die Oxidation."

Fast 30 Besucher sind in die Osmothek gekommen, um mit der Nase durch die Zeit zu reisen. Jean Kerléo schiebt ein Wägelchen in den Vortragsraum, taucht Teststreifen in einzelne Duftessenzen, verteilt sie an die Besucher. Das älteste Parfum der Osmothek, erzählt er, stammt aus römischer Zeit. Plinius der Ältere hat das Rezept des "Parfum Royale" vor 2000 Jahren in seiner "Naturgeschichte" notiert, Kerleo hat es zu neuem Leben erweckt:

"Der Duft besteht aus 27 Ingredienzien. Ich habe das Rezept exakt respektiert, aber dummerweise hat Plinius keine Mengen angegeben. Deshalb ist es zwar das älteste, aber auch das ungenauste Produkt der Osmothek."

Eine Besucherin riecht Zimt heraus, auch Kümmel ist im Königlichen Parfum enthalten.
Kerleo hat auch das lange Zeit vergessene Skandalparfum "Le Fruit défendu" rekonstruiert. "Die Verbotene Frucht" kam Anfang 1918 in den Handel, mitten im Krieg:

"Es ist schwül und durchdringend. Damit parfümierten sich die Pariserinnen, während unsere Soldaten beim Gasangriff in den Schützengräben starben. Das kam ganz schlecht an."

Die Besucher drängen sich um die Glasflakons, alle wollen verschwundene Düfte riechen. Eine junge Frau kann nicht von ihrem Lieblingsparfum lassen: es heißt "Après l´ondée", nach dem Regenschauer.

Hier riecht sie die Originalversion von 1904:

"Für mich ist es ein Zauber, so als wäre hier Musik von Debussy in ein Flakon gefüllt. Heute wird es in einer neuen Formel hergestellt, da ist es nur noch ein Schatten seiner selbst. Ich bin glücklich, dass ich jetzt das Original riechen konnte."

Jean Kerleo nickt zufrieden, anerkennend. "Als wäre hier Musik von Debussy in ein Flakon gefüllt ... ". Viel schöner kann der Meister selbst kaum umschreiben, was für ihn ein gutes Parfum ausmacht:

"Es ist wie Musik. Es muss verführen. Zum Träumen anregen. Und die Persönlichkeit des Einzelnen vollenden. Ein gutes Parfum ist wie ein Sonnenschein an einem grauen Tag wie heute, es verschönert das Leben."
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