Das Feuilleton 2022
Die junge Generation lässt sich in ihrem Aktivismus den Mut nicht nehmen – obwohl die Alten im Feuilleton auf sie "einprügeln", meint unser Autor bewundernd. © picture alliance / dpa / Peter Kneffel
Dauerhafter Ausnahmezustand
12:30 Minuten

Früher war das Feuilleton ein geschützter Raum für lustige Debatten. Durch Pandemie, Krieg und Klimawandel war es 2022 aber vor allem politisch. Besonders der Hass einer mächtigen alten Generation auf die junge hat unseren Autor fassungslos gemacht.
Für manch einen ist es ein Dauer-Ausnahmezustand: Pandemie, Krieg, eine dramatische Inflation – die meisten kennen all das nur aus den Geschichtsbüchern. Die Jüngeren, so Hans von Trotha, sagen: "Das seid ihr Alten, die das als Ausnahmezustand empfinden, wir leben damit." Für von Trotha prägten das Feuilleton 2022 deshalb weniger Kultur-, sondern mehr politische Debatten.
Wie der Krieg ins Feuilleton getragen wurde
Wenn ein Krieg ausbricht, "verändert das auch die Raumverhältnisse in der Kulturberichterstattung“, meint von Trotha. Lange Zeit sei es nur darum gegangen: Wie verhält sich Kunst zum Krieg?
Es seien absurde Debatten geführt worden: Kann man jetzt Tolstoi noch lesen? Oder müssen sich Künstler von Putin distanzieren, um noch auftreten zu dürfen? Gleichzeitig habe die Pandemie aufgehört und die Berichterstattung über einzelne kulturelle Veranstaltungen wieder angefangen.
Feuilleton machen, wenn Krieg ist?
Schon Ende des letzten Jahres wurde laut von Trotha insbesondere von russischen Autorinnen und Autoren sehr klar analysiert, wie Putin den Krieg vorbereitet. Dann kam der Krieg. Das sei erst mal eine Agonie gewesen mit der Frage: Kann man normales Feuilleton machen, wenn Krieg ist?
„Es ist wie beim Ersten Weltkrieg, wo erst mal alle gedacht haben, länger als drei Wochen kann das nicht dauern", meint von Trotha. Damit habe man sich erst mal abfinden müssen, dass in Europa Krieg herrscht. „Darüber muss ständig weiter berichtet werden, das ist das dramatischste Ereignis, das wir haben.“
Es habe viele literarische, historische und philosophische Rückblicke gegeben. Aber vor allem, so von Trotha, sei es darum gegangen, zu verstehen, wie das passieren konnte: "Wir haben gedacht, dass wir nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Sicherungsmechanismen geschaffen haben."
Wertschätzung des einzelnen Kulturereignisses
Mit Wiederöffnung der Kulturinstitutionen nach der Pandemie habe es eine "unglaubliche Wertschätzung des einzelnen Ereignisses" gegeben, erinnert sich Hans von Trotha. Ein gewisser "Hang zum Mäkeln" sei weggefallen. Die Passionsspiele in Oberammergau zum Beispiel habe das Feuilleton durchweg "toll" gefunden.
Die Hauptdebatte in der Kunst war für von Trotha die Documenta 15 im Zusammenhang mit Antisemitismus und Paternalismus. Diese Debatte habe sich völlig verselbständigt, sagt von Trotha: "Es gab eine Documenta 15 in Kassel und eine im Feuilleton." Von Trotha vergleicht die Dynamik der Debatte mit dem Historikerstreit 1986/87. Einig sei sich das Feuilleton dabei in der Verurteilung der Documenta gewesen.
Feuilleton ist kein Safe Space mehr
Insgesamt sei zu beobachten, dass die Kultur- und Kunstdebatten in den Feuilletons von vornherein politisch sind. So auch bei Themen wie dem Humboldt Forum oder den Benin-Bronzen. "Das ist neu", meint von Trotha. "Früher war das Feuilleton auch ein Safe Space für lustige Debatten."
Für Hans von Trotha steht fest: Wir brauchen das Feuilleton so dringend wie nie. Aber man müsse aufpassen, dass es seine Relevanz nicht verliert, weil es vorsichtig wird.
"Wir haben gerade keine gute Zeit für Diskussionen", meint er. "Wir haben eine gute Zeit für das Zurückweisen von Positionen." Leute würden sich mit bestem Willen in Diskussionen begeben, um mit einer These etwas zu klären, und dann würden sie "fertiggemacht". "Eine Debatte, in der Thesen nicht gehen, wird schwierig." Klar gebe es Grenzen, aber die werde gerade fast dramatisch verschoben. Von Trotha besorgt das: "Wir müssen fremde Meinungen kennenlernen, um unsere eigene Meinung kennenzulernen. Dafür ist Feuilleton da."
Hass der Alten auf die Jungen macht fassungslos
Im Hinblick auf die Aktionen der "Letzten Generation" habe das Feuilleton anfangs sanft reagiert, dann aber doch umgeschwenkt. Für Hans von Trotha hat das vor allem etwas mit dem Alter der Feuilletonistinnen und Feuilletonisten zu tun: "Da ist eine sehr starke und laute alte Generation, die mit einem Hass und einer Verachtung auf junge Menschen einprügelt, die sich engagieren."
Die Absurdität dieses Hasses der Alten auf die Jungen, so von Trotha, nachdem die Alten den Jungen diese Welt in dem Zustand hinterlassen, "die macht mich wirklich fassungslos zum Jahresende". Aber die Jungen ließen sich den Mut nicht nehmen, bewundert von Trotha. Darüber sollten die Alten in den Feuilletons des neuen Jahres etwas nachdenken, meint er.