Aus den Feuilletons

Ein Jahr hinunterspülen

04:22 Minuten
Junge Leute feiern bei einer Party und tragen einen Mund-Nasen-Schutz gegen eine mögliche Infektion.
Ganz so werden die "FAZ"-Feuilletonmacher 2020 wohl nicht verabschieden: zu wenig Abstand. © imago-images / Westend61 / Ezequiel Gimenez
Von Ulrike Timm · 30.12.2020
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Die "FAZ" hat sich entschieden, das vergehende Jahr 2020 im Feuilleton fröhlich zechend zu Grabe zu tragen. Dazu gibt es selbstverständlich ausgesuchte Ausflüge in Literatur, Musik und Kunst.
Weg damit - und auf ein Neues! Viel muss 2021 ja nicht tun, um 2020 abzuhängen.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG - säuft. Wein, Wodka, Whisky, Wassergläser voller Gin - nur der Theaterkritiker tanzt aus der Reihe, seine Hymne gilt gefärbtem Leitungswasser, das gibt's auf der Bühne, Rausch soll man da bloß spielen.
"Über Sinn und Unsinn des Trinkens in herausfordernden Zeiten" schreibt die FAZ–Feuilleton-Mannschaft mit viel Esprit und Sprit, denn: "Schon die Prohibition vor hundert Jahren hat gezeigt: Mit Fruchtpunsch kommt man nicht weit." In legendären Hinterzimmerkneipen wurde weiter gezecht.

Thomas Pynchons Rezept für einen Absacker

Also gibt sich das FAZ-Feuilleton fröhlich die Kante und spült das Jahr hinunter - natürlich mit erlesenen Ausflügen in Literatur, Musik und Kunst und unter ausdrücklicher Würdigung des liebsten Tom-Waits-Songs der Pressebeschauerin, nämlich "The Piano has been Drinking". Not me. Das Lied vom ramponierten Poeten erlaubt gar noch "die glaubwürdige Aufführung selbst in desolatem Zustand."
Der Absacker aus einem Pynchon-Roman ist jedoch ein Anti-Cocktail: "Chinin (durch Tonicwasser ersetzbar), Rinderbrühe, Portwein mit ein wenig Coca-Cola und einer geschälten Zwiebel. Wer danach noch weitertrinkt, braucht dringend Hilfe."

Wahre Prophezeiungen von Karl Lauterbach

Die Kollegen, die beim Gelage offenbar außen vor blieben, haben noch die Menschen des Jahres gekürt. Darunter Karl Lauterbach, "unsere Pythia aus Köln". Pythia war die Priesterin im Orakel von Delphi, Lauterbach der dauerpräsenteste Politiker-Corona–Warner schlechthin.
Wer sich mokiert, dass der "hellsichtige Gesundheitsklabauter der SPD in leiernder Trance" spräche - "Was zählt ist: Es stimmte alles. Er wurde verlacht und bedroht, als er im März eine zweite Corona-Welle im Herbst prophezeite. Alle Fehler, vor denen er gewarnt hatte, haben wir gemacht. Er muss an uns verzweifeln. Aber er kennt das. Hörten wir nur auf ihn, wir würden 400 Jahre alt", wird's schlussendlich noch mal bissig.
Auch Angela Merkel gilt als Mensch des Jahres. "Dass die Bundesregierung und die Länder alles richtig gemacht hätten, wird man kaum behaupten, aber feststellen dürfen, dass Angela Merkel in diesem Jahr viel mehr richtig gemacht hat als andere. Dem Land und ihrer Partei gibt sie einen Schub für 2021. Den muss jetzt nur noch jemand aufnehmen. Wir würden sagen: Friedrich Merz oder Armin Laschet oder Norbert Röttgen sind es nicht."
Das war jetzt viel FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, aber diesmal haben die Kollegen schlicht den Vogel abgeschossen.

Homeoffice-Held und Papa

In der WELT bedankt sich Peter Praschl tapfer für 2020, es war für ihn doch besser als sein Ruf. Zitat: "Weil ich eine Brauereipferdruhe und einen Stoizismus in mir gefunden habe, die ich mir nicht zugetraut hätte - Bruchrechnungen, Lego-Paläste, Trostflüstern, Durchhalten, Dasein. War das wirklich ich? Falls ja, mochte ich es." So der homeofficegestählte Familienvater in der WELT.
Im TAGESSPIEGEL sinniert Rüdiger Schaper über seinen Kalender, der 2020 so viele weiße Seiten hatte wegen abgesagter Termine, der Tag dagegen trotzdem voll mit Calls und Bildschirmkonferenzen. Er führt ganz analog Buchkalender - und solche Bücher müsse man aufbewahren. "Sie werden eines Tages zu einer aufregenden Lektüre und Selbstbefragung, jedermanns Proust."
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG präsentiert uns "Magic Moments", sechzehn Kritiker "haben die besten Filmszenen eines (teilweise kinolosen) Jahres ausgewählt". Der TAGESSPIEGEL präsentiert die Filme 2020 als Gold-Silber-Bronze-Blech-Liste. Beides, Magic Moments und Tagesspiegels "Licht im Dunkel" sind gut an den Kühlschrank zu pinnen. Zum Abarbeiten, in einem besseren 2021.
Wenn Ihnen das zu viel Action ist oder es, bewahre uns, nicht möglich sein sollte - einfach die Silvester FAZ aufschlagen und den Frust wegtrinken. Prohibitionisten eben mit Leitungswasser.
Prost! Und: Guten Rutsch!
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