Generaldebatte im Deutschen Bundestag am 1. Juni 2022. Es geht um den Bundeshaushalt und den Ukraine-Krieg. Traditionell ergreift zunächst der Oppositionsführer das Wort – Friedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion.
„Ich will es mal so sagen: Haben Sie eigentlich außer der formalen Rhetorik irgendeinen Vorschlag, wie sich Europa in dieser historischen Phase des Umbruchs aufstellen und dauerhaft auch verteidigen kann? Gibt es irgendeinen Vorschlag aus Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler?“
Er kritisiert, dass von der Regierung zugesagte Waffenlieferungen an die Ukraine noch nicht in umfangreichem Maße erfolgt seien und die groß angekündigte Zeitenwende bislang nicht stattgefunden habe. Seit der Sondersitzung des Bundestages habe Scholz viel geredet, aber wenig gesagt.
„Seitdem verdampft und verdunstet das alles, was Sie da gesagt haben, im Unklaren, im Ungefähren und es wird keine konkrete Entscheidung hier getroffen und hier begründet, die an dieses Niveau, an dieses Level anschließt, das Sie an diesem 27. Februar 2022 hier selbst gesetzt haben“, so der Oppositionsführer.
Scholz kontert ohne Redemanuskript
Am Ende seiner Rede bittet Merz den wegen seines mechanisch ablesenden Vortragsstils auch als „Scholzomat“ titulierten Bundeskanzler, das vom Kanzleramt vorbereitete Redemanuskript zur Seite zu legen und konkret zu antworten.
Generaldebatte im Bundestag: Oppostitionsführer Friedrich Merz (CDU) spricht, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hört zu.© picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Olaf Scholz tut Friedrich Merz diesen Gefallen: „Verehrter Herr Merz, Sie haben sich mit Ihrem Manuskript, das Sie hier vorbereitet haben, ja sehr viel Mühe gegeben, allerdings muss man ausdrücklich sagen: Das, was Sie hier vorgetragen haben, sind lauter Fragen. Sie sind hier durch die Sache durchgetänzelt und haben nichts Konkretes gesagt. ‚More beef‘ wäre wirklich sehr vernünftig gewesen.“
„Was ich lustig finde, ist, er hat Scholz quasi aufgefordert, legen Sie Ihr Manuskript beiseite, was dieser in der Folge auch getan hat, und zwar richtig gut, während Merz selber doch ein bisschen am Manuskript geklebt hat“, sagt Jacqueline Schäfer. Sie ist als Journalistin und Präsidentin des Verbandes der Redenschreiber deutscher Sprache geschult in der Analyse von Debattenbeiträgen.
Was ich in dieser Generaldebatte sehr entscheidend fand, das war wirklich die Reaktion von Scholz, von dem ich auch lange Zeit sehr enttäuscht gewesen bin, was eben seine Kommunikation anging. Aber da war er derjenige, der tatsächlich sein Manuskript weglegte und wunderbar parierte. In dem Moment erinnerte er mich fast ein bisschen an Helmut Kohl, der auch immer dann gut war, wenn er das Manuskript beiseitegelassen hat.
Jacqueline Schäfer, Journalistin und Redenschreiberin
Noch mal Olaf Scholz in der Generaldebatte: „In den kommenden Wochen werden wir der Ukraine, eng abgestimmt mit den Niederländern, zwölf der modernsten Panzerhaubitzen der Welt liefern. Was sollen – abgesehen davon, dass das Abschießen von Flugzeugen mit Luftabwehrraketen auch ein schwerer Vorgang ist –, aber was sollen denn andere schwere Waffen sein als zum Beispiel Gepard oder die Panzerhaubitze? Das ist doch einfach dahergeredetes Zeug, das Sie da vortragen.“
Große Krisen, aber keine großen Debatten
Ein Rededuell bei einer Generaldebatte! Wo, wenn nicht an diesem Ort, im Deutschen Bundestag, und wann, wenn nicht zu einem solchen Anlass, sollte ein öffentlicher Schlagabtausch verantwortlicher Spitzenpolitiker stattfinden? Und doch haben solche Dispute zu entscheidenden politisch-gesellschaftlichen Debatten hierzulande mittlerweile Seltenheitswert.
„Wenn Sie sich angucken, was hat in den letzten 15 Jahren unser Land bewegt? Dann kämen Sie vielleicht auf die Flüchtlingskrise, auf Corona und jetzt auf die Ukraine - um nur drei zu nennen. Die großen Debatten dazu hat es aber nicht gegeben“, sagt Robin Alexander.
Er ist Hauptstadtjournalist, stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung „Die Welt“ und hält die Folgen des kommunikationsarmen Durchregierens in den vergangenen Jahren für problematisch.
„Es gab keine Debatte, wo Angela Merkel gesagt hat: Ich lass diese Grenze offen, weil ... Und dann wäre jemand von der Opposition gekommen und hätte gesagt: Das sehen wir aber anders. Das hat es gar nicht gegeben“, kritisiert er. “Genauso bei Corona. Die entscheidenden Debatten in der Corona-Krise haben in dem Gremium der Ministerpräsidentenkonferenz stattgefunden, das im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist. Ich beklage das, weil ich glaube, dass eine Demokratie so einen Ort braucht, wo die Leute zusehen können, wie argumentativ gerungen wird, um sich auch ihr eigenes Urteil bilden zu können.“
Fehlende Kontroversen, ein Erbe der Merkel-Ära
Nach der Generaldebatte am 1. Juni war in der Presse von „Ruppigkeit“ die Rede. Es habe „Zoff“ gegeben. Merz habe „provoziert“ und Scholz „reagiert“.
Was eigentlich als normaler Bestandteil der parlamentarischen Debattenkultur gelten sollte, scharfe Rhetorik und direkte Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, sorgte für Erstaunen, ja, für Schlagzeilen. Ebenso die Tatsache, dass Olaf Scholz nicht wie üblich an seinem Redemanuskript geklebt hat.
Dabei heißt es in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages: „Die Redner sprechen grundsätzlich in freiem Vortrag. Sie können hierbei Aufzeichnungen benutzen.“
Merkel wäre aus der Polis geschmissen worden
Für Robin Alexander sind die fehlenden Kontroversen ein Erbe der Großen Koalition und der Kanzlerschaft Angela Merkels. „Angela Merkel hat immer von sich selbst gesagt, dass sie überhaupt kein rhetorisches Talent hat, und das ist eine völlig zutreffende Einschätzung.“
Das hörte sich bei der Ex-Bundeskanzlerin beispielsweise so an: „Wir gestalten Deutschlands Zukunft, um es mit dem ebenso einfachen und klaren Motto des Koalitionsvertrages von CDU/CSU und SPD zu sagen.“
„Eine Frau wie Frau Merkel wäre aus der Polis des Perikles, dem Geburtsort der Demokratie, hinausgeschmissen worden“, sagt Jürgen Roth.
Der Autor und Journalist hat für diverse Hörbücher zur Rhetorik im Deutschen Bundestag Hunderte von Bundestagsreden gehört und gesehen – leider auch einige von Angela Merkel, wie er sagt. „Wenn Sie versuchen, diese Reden zu verstehen, werden Sie in einer fast kafkaesken Weise verzweifeln, weil dahinter nichts steckt. Gar nichts!“
Für sein Buch „Das Hohe Haus“ verfolgte der 2016 verstorbene Publizist Roger Willemsen ein Jahr lang die Sitzungen des Deutschen Bundestages. Den Redestil der Ex-Kanzlerin beschreibt er folgendermaßen:
„Die Art, wie sie spricht, folgt wohl der Idee dessen, was man ‚staatsmännisch‘ nennt, ohne dafür ein weibliches Pendant gefunden zu haben. Es handelt sich um einen bürokratisch auftretenden Deklarationsstil, der die große Geste, das einprägsame Bild, die treffende Metapher, die rhetorische Überraschung, den wahrhaftigen Appell meidet. Der Regierungsapparat verlautbart. Es spricht die Behörde.“
Aus „Das Hohe Haus" von Roger Willemsen
Früher wurde verbal ausgeteilt
In der noch jungen Bundesrepublik war der Umgang mit dem politischen Gegner nicht gerade zimperlich. Diffamierungskampagnen gehörten zum Repertoire der politischen Auseinandersetzung. Es wurde verbal ausgeteilt, was das Zeug hielt.
Herbert Wehner bei seiner viel beachteten Rede während der außenpolitischen Debatte am 30.06.1960: Seine verbalen Attacken im Bundestag waren berühmt-berüchtigt.© picture-alliance / dpa
Im Bundestagswahlkampf 1957 attackierte Bundeskanzler Adenauer die Sozialdemokraten, wo es nur ging wie bei diesem Wahlkampfauftritt: „Die Politik, die die sozialdemokratische Regierung will, macht Deutschland zum russischen Satelliten.“
Der Sozialdemokrat Wolfgang Erler entgegnete wutentbrannt: „Meine Damen und Herren, wer in einem demokratischen Staatswesen sagt, die einzige andere große Partei, um die es in Wahrheit geht, die dürfe niemals an der Macht teilhaben, der beansprucht damit für seine Partei das Recht der Alleinherrschaft für immer. Das ist ein Anschlag auf die Grundprinzipien der freiheitlichen Demokratie.“
Drei Jahre später, am 30. Juni 1960, forderte Herbert Wehner in seiner Grundsatzrede zur künftigen Außenpolitik der SPD im Bundestag dazu auf, offene Feindschaften in innenpolitischen Debatten zu unterlassen: „Innenpolitische Gegnerschaft belebt die Demokratie, aber ein Feindverhältnis, wie es von manchen gesucht und angestrebt wird, tötet schließlich die Demokratie – so harmlos das auch anfangen mag.“
Herbert Wehner wusste, wovon er sprach. Sein Furor und seine verbalen Attacken im Bundestag waren berühmt-berüchtigt. Zeitlebens wurde ihm seine kommunistische Vergangenheit von politischen Kontrahenten zum Vorwurf gemacht. Am 3. März 1975 platzte dem Sozialdemokraten in einer Bundestagssitzung der Kragen.
Wehners berüchtigter Furor
In Richtung der CDU/CSU-Fraktion sagte oder – besser - schrie er: „Wenn Sie das Wort Marxist hören, geht es Ihnen so, wie Goebbels damals damit operiert hat. Nichts anderes. Sie sind nämlich genauso dumm in dieser Frage, wie jener war, nur war er ganz jesuitisch raffiniert.“ Ein Ordnungsruf von Bundestagspräsidentin Annemarie Renger war die Quittung.
Was hat Wehner den Kollegen und Kontrahenten alles an den Kopf geworfen: Sie ‚Salatöl‘, ‚geistiges Eintopfgericht‘ und ähnliche Dinge. Da hat er dermaßen ausgeholt, dass er die CDU/CSU-Fraktion als eine ‚Versammlung von geistigen Terroristen‘ bezeichnet hat. Und daraufhin ist die CDU/CSU-Fraktion komplett aus dem Bundestag ausgezogen.
Jürgen Roth, Autor und Journalist
„Das ist der Nachteil derer, die rausgehen, sie müssen wieder reinkommen. Ich sage Ihnen Prost, weil Sie wahrscheinlich da hingehen“, sagte Wehner. „Also in die Bundestagskantine, um sich mit Alkohol zuzurüsten“, erklärt Jürgen Roth. Beim Verlassen des Saals rufen CDU/CSU-Abgeordnete: „Bolschewist! Pfui, Deibel! Sie Kommunist!“
Und Wehner: „Wer einmal Kommunist war, den verfolgt Ihre gesittete Gesellschaft bis zum Lebensende, und wenn es geht, lässt sie ihn auch noch durch Terroristen umbringen. Das weiß ich, das ist so. Und deswegen habe ich damals Kurt Schumacher gesagt: ‚Die werden mir doch die Haut vom lebendigen Leibe abziehen.‘ Da hat er mir gesagt: ‚Und du bist einer, der das aushält, und du musst hier sein.‘“
„Das ist eine der ganz, ganz großen Reden von Herbert Wehner“, sagt Jürgen Roth, Jahrgang 1968, der als Heranwachsender in den späten 70er- und 80er-Jahren Bundestagsdebatten in voller Länge im Fernsehen verfolgt hat.
Finesse, Eigensinn und Kampfeslust
„Ich habe wirklich auf dem Flokatiteppich gelegen und habe das mit großer Begeisterung angeschaut und mitgefiebert – ähnlich wie bei großen Fußballspielen. Das Bonner Parlament, das ‚Hohe Haus‘, war tatsächlich ein hohes Haus der rhetorischen Unterhaltung und Gelehrsamkeit zugleich. Die Leute konnten formulieren, sie hatten Finesse. Sie hatten Eigensinn, und sie hatten Kampfeslust in sich“, erinnert er sich.
CSU-Politiker Franz Josef Strauß ist ein weiteres Beispiel: „Ich gebrauche jetzt ein Lieblingswort des Regierungschefs: Crisis Management. Dieses Wort wird mit einer beinahe rhetorischen Wollust ausgesprochen. Crisis Management!“
"Dann sprudelte es aus ihm heraus“, sagt Jürgen Roth über den Redner Franz Josef Strauß.© picture alliance / Fritz Fischer / Fritz Fischer
Strauß weiter: „Sie haben sicherlich schon, ich hoffe bewundernd, Ihren Regierungschef angehört, wenn er mit einem kleinen, etwas verächtlichen Seitenblick auf die Amerikaner, Schulter an Schulter mit seinem französischen Freund, dem Staatspräsidenten, das Jahrhundert in die Schranken fordert und eben davon spricht, dass man Crisis Management an den Tag legen müsse.“
Und schließlich: „Jetzt ist Ihre Stunde als Zaubermeister des Crisis Managements gekommen, Herr Bundeskanzler. Und der Zustand der Regierungsparteien, vor allem der SPD, und die Problematik der Koalition bieten dazu die günstigst denkbaren Voraussetzungen.“
Jürgen Roth dazu: „Franz Josef Strauß hat als Redner vorderhand ausgemacht, dass er in der Regel betrunken war. Dann sprudelte es aus ihm heraus.“
Die rhetorische Rede, die politische, die öffentliche Rede bedarf immer der Plastizität. Denn man will überzeugen, überreden, für sich einnehmen. Und das konnte Strauß ganz fantastisch.
Jürgen Roth
„Legen Sie Ihren deutschen Größenwahn ab!“
Auch der hier attackierte Bundeskanzler Helmut Schmidt zählt für Jürgen Roth zu den großen Rednern der Bonner Republik. Nicht umsonst trug er einen derben Spitznamen.
„Schmidt-Schnauze wurde er von Rainer Barzel genannt“, erklärt Jürgen Roth. „Es gibt Reden von dem jungen Bundestagsabgeordneten Schmidt aus den 50ern, in denen er gegen die Wiederaufrüstung so vehement und ausufernd und aggressiv gesprochen hat, dass es Ihnen die Schuhe auszieht.“
Ein Zitat von Helmut Schmidt: „Wenn Sie von der Einigkeit der NATO reden, dann meinen Sie Atombomben für die Bundeswehr. Und wenn Sie von Atombomben für Ihre Bundeswehr sprechen, dann meinen Sie militärische Macht, nichts als die Macht und die Macht um ihrer selbst willen. Legen Sie endlich Ihren deutschen Größenwahn, Ihren deutschnationalen Größenwahn ab.“
„Brandt war ein Künstler der Pausensetzung“
Der Redestil von Schmidts Vorgänger im Kanzleramt, Willy Brandt, war ebenfalls unvergleichlich: „Wir sind entschlossen (Pause) die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und den Zusammenhalt der deutschen Nation zu wahren… Die Freiheitsrechte und den Wohlstand unseres Volkes zu erweitern (Pause) ... Wir wollen mehr Demokratie wagen.“
Jürgen Roth erklärt: „Brandt war ein Künstler der Pausensetzung. Dieses: ‚Ich will hier mal sagen ...‘, drei Sekunden Pause. Also er wusste das Pathos zu bedienen, während Wehner und Strauß eher die Angriffsredner waren."
Und weiter: "Brandt hatte gute Berater. Sein Hauptredenschreiber war Klaus Harprecht. Der hat ja die berühmte Formulierung erfunden ‘Wir wollen mehr Demokratie wagen.‘ Er war sehr wirkungsbewusst, aber das ist die Kunst der politischen Rhetorik. Man muss auf Wirkung aus sein, sonst braucht man nicht zu reden in einem Parlament oder vor der Öffentlichkeit."
Bei aller Faszination für die Qualitäten damaliger Parlamentsdebatten genügt ein Blick in die Stuhlreihen und auf die Rednerlisten, um festzustellen, dass es fast ausschließlich Redner waren, also Männer, die im Bonner Bundestag den Ton angaben.
Politikerinnen waren die Ausnahme
Politikerinnen wie Elisabeth Schwarzhaupt, Hildegard Hamm-Brücher oder Herta Däubler-Gmelin waren die Ausnahmen.
„Heinrich Bölls Roman ‚Gruppenbild mit Dame‘ ist ja auch deshalb so sprechend und schlagend der Titel, weil er genau das ausdrückt. Gruppenbild mit Dame, viele Männer, eine Dame als Blümchen“, sagt Torsten Körner.
Er hat Politikerinnen der Bonner Republik zunächst in einem Buch, dann in einem Film mit dem Titel „Die Unbeugsamen“ porträtiert. Darin zeigt er, dass erst 1983, mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag, das grundsätzliche Rollenverständnis im männerdominierten Parlament offensiv infrage gestellt wurde.
Am 5. Mai 1983 hielt die Grünen-Abgeordnete Waltraud Schoppe ihre erste Bundestagsrede: „Sie müssen noch etwas arbeiten an sich, meine Herren, damit die Würde dieses Hauses nicht ganz auf den Hund kommt.“ Es ging um den Paragrafen 218 und um Grundsätzliches.
„Sie hält den Abgeordneten den Spiegel vor": Für Torsten Körner ist Waltraud Schoppes erste Budestagsrede eine wichtige Zäsur.© dpa picture alliance / Martin Athenstädt
Waltraud Schoppe weiter: „Wir bewegen uns in einer Gesellschaft, die Lebensverhältnisse normiert auf Einheitsmoden, Einheitswohnungen, Einheitsmeinungen, auch auf eine Einheitsmoral, was dazu geführt hat, dass sich Menschen abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollführen, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt. … Wir fordern Sie alle auf, den alltäglichen Sexismus hier im Parlament einzustellen.“
Eine Rede als Zäsur im Parlamentsbetrieb
Torsten Körner dazu: „Sie spricht von Abtreibung, sie spricht von Formen des Liebesspiels und der Lustgewinnung, an der auch der Mann emanzipativ beteiligt sein muss.“
Sie hält den Abgeordneten den Spiegel vor und die grölen und beschimpften sie auf eine derart unflätige und dumme Art und Weise, dass man, wenn man das heute im Archiv sieht, vielleicht nicht Mitleid mit diesen Tölpeln hat, aber doch erkennt, dass die das Problem überhaupt nicht verstehen.
Bei Sexismus denken die gleich an Sex, aber, dass Sexismus insgesamt eine gesellschaftliche Aufgabe ist, hat kaum einer von denen begriffen und hat sich auf so eine Schenkel klopfende Weise über diese Rede lustig gemacht.
Torsten Körner, Journalist, Autor und Dokumentarfilmer
Torsten Körner hält die Rede von Waltraud Schoppe für eine wichtige Zäsur, weil sie den anderen Parlamentarierinnen Mut gemacht hat und Probleme aufzeigt, die auch heute noch bestehen. Eine andere Frau in der ersten Grünen-Fraktion, Petra Kelly, war bereits eine Ikone der Bürgerrechtsbewegung, als sie ins Bonner Parlament einzog.
„Und wenn gesagt wird, die Friedensbewegung ist die Angstbewegung, weise ich dies zurück. Das hier ist die Angstbewegung, die hier auf der Regierungsbank sitzen und uns Angst machen“, ist ein Zitat von ihr.
„Petra Kelly ist noch einmal eine besondere Biografie. Die war auch teilweise in den Medien sehr präsent und auch charismatisch“, erklärt Torsten Körner. „Aber im Bundestag ist sie tatsächlich auch, um das mal mit so einer männlichen, typisch kriegerischen Metapher zu beschreiben, sturmreif geschossen worden, könnte man sagen, weil die Männer gerade der CDU/CSU keine Gelegenheit ausließen, sie zu attackieren, sie zu verhöhnen, sich über ihren in Anführungszeichen weinerlichen Tonfall lustig zu machen.“
CSU-Politiker Hans Klein zum Beispiel: „Die Medien haben ein Bild von Ihnen gezeichnet, dass ich dachte, Wunder, wer hier erscheinen wird, und dann diese Rede: Ach, du lieber Gott!“
„Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“
Letztendlich war es auch bei den Grünen wieder ein Mann, der durch seine Auftritte im Parlament von sich reden machte, Joschka Fischer: „Bei allem, was wir falsch gemacht haben, bei allem, wofür wir auch Verantwortung zu übernehmen haben, wofür wir uns zu entschuldigen haben, wovon wir uns zu trennen hatten, letztendlich war es eine Freiheitsrevolte mit Elementen totalitärer Gewalt.“
Und Joschka Fischer weiter: „An dem Punkt, Kollege Pflüger, bin ich dann anderer Meinung. Es hatte totalitäre, es hatte gewalttätige Elemente, zu denen ich persönlich auch zu stehen habe, aber ’68 und das Folgende hat zu mehr Freiheit in diesem Land und nicht zu weniger Freiheit geführt. Das ist meine Haltung bis heute.“
Jürgen Roth dazu: „Joschka Fischer war nach Herbert Wehner sicherlich der beste Redner im Deutschen Bundestag. Nicht umsonst steht er für dieses berühmte, übrigens auf keinem Tonband verewigte ‚Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!‘"
Haltung und Biografien bilden die Basis
Haltung und politische Biografien schwangen in den Reden von Politikern wie Joschka Fischer, Herbert Wehner, Konrad Adenauer oder Willy Brandt stets mit. „Da kamen auch sehr stark die Persönlichkeiten zum Tragen“, sagt Jacqueline Schäfer.
Eine gute Rede, findet die Redenschreiberin, zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Mensch, der sie hält, zum Vorschein kommt - mit seiner Leidenschaft und seinen Idealen. Vor allem in den frühen Jahren der Bonner Republik waren der persönliche Standpunkt und die moralische Integrität elementar für die Überzeugungskraft der Redenden.
„Weil natürlich dieses Land in einer völligen Agonie begriffen war. Die wussten nicht, wem sollen sie überhaupt noch glauben. Sie sind mit Agitation jahrelang beschallt worden, und man musste auf einmal Vertrauen zurückgewinnen. Das kann ich nur als Persönlichkeit“, erklärt sie.
„Gysi spricht direkt ins limbische System“
Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache, dem Jaqueline Schäfer als Präsidentin vorsteht, kürt seit 2009 alle vier Jahre den besten Wahlkampfredner, die beste Wahlkampfrednerin.
2013 gewann der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, Gregor Gysi, den Titel - auch eine starke Persönlichkeit. Eine Kostprobe: „Also ich finde, das Auswärtige Amt könnte umbenannt werden in ein Aufrüstungs-, Waffenexport- und Sanktionsministerium, denn all das geht ja von dieser Politik aus.“
Gregor Gysi hat dieses Logos, Ethos, Pathos, diese drei Grundsäulen der klassischen Rhetorik. Den Inhalt, das Logos, das Belehren, ‚docere‘, der hat aber auch dieses ‚delectare‘ - erfreuen, unterhalten. Und er hat auch immer etwas, was Werte anspricht in Reden. Das ist das, worauf wir Menschen reagieren. Gregor Gysi spricht direkt ins limbische System.
Jaqueline Schäfer
Gregor Gysi selbst sagt: „Wichtig ist mir, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer was mitnehmen aus meiner Rede, dass ich irgendein Argument habe, das sie überzeugt, das vielleicht auch dann den Zeitgeist ein kleines Stück verändert. Dass ich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht überzeugen kann, das weiß ich vorher. Deshalb ist das andere mein eigentliches Ziel.“
Gregor Gysi ist ein Meister der freien Rede. In seinem Buch „Das Hohe Haus“ schrieb Roger Willemsen über Gysi:
„Er kommt von außen, seine Position ist hoffnungslos. Deshalb spricht er gut, ohne die realpolitische Vernebelung, die die Koalitions- und Lobbyarbeit so mit sich bringt. Er ist der Typus des Parlamentariers, der das Richtige immer wieder vergeblich gesagt hat. Das hat seine Intelligenz geschärft.“
Aus „Das Hohe Haus" von Roger Willemsen
In seiner Rede vom 1. Juni 2022 über wertebasierte Außenpolitik greift Gregor Gysi Annalena Baerbock direkt an. „Sie, Frau Bundesministerin, haben in Bezug auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine die Befürchtung geäußert, dass unsere Bevölkerung – ich zitiere Sie wörtlich – ‚kriegsmüde‘ wird. Was wäre denn die Alternative? Soll die deutsche Bevölkerung etwa kriegsbegeistert werden?“
Die Außenministerin spielt nervös mit dem Kugelschreiber, während der Linkenpolitiker genüsslich Karl Kraus zitiert: „Der sagte: ‚Kriegsmüde, das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein, das heißt, müde sein des Mordes, müde sein des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter?‘ Ich sage Ihnen, die Mehrheit unserer Bevölkerung ist friedliebend und deshalb immer kriegsmüde.“
"Der kann Selbstironie“, sagt Jaqueline Schäfer über Gregor Gysi.© picture alliance / Flashpic / Jens Krick
Ein Zitat, das sitzt und die rhetorische Unbedarftheit der politischen Kontrahentin bloßstellt! „Gregor Gysi hat etwas, was auch Joschka Fischer damals hatte, der kann Selbstironie“, sagt Jaqueline Schäfer.
Zum Beispiel hier: „Herr Bundestagspräsident, wissen Sie was, ich werde mir jetzt mal notieren, wann Sie Geburtstag haben, und dann werde ich Ihnen eine neue Uhr schenken. Es gibt hier Leute, die reden elf Minuten, und es kommt mir dann wie eine halbe Stunde vor. Und bei mir rennt Ihre Uhr immer. Aber ich danke Ihnen trotzdem. Alles Gute!“
Wie die Debattenkultur vergiftet wird
Seit dem Einzug der AfD im Oktober 2017 habe sich das Klima im Bundestag sehr verändert, findet Gregor Gysi, finden auch andere Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Das kollegiale Miteinander der Abgeordneten über Parteigrenzen hinweg sei gestört, Provokationen und Bösartigkeiten vergiften die Debattenkultur.
„Von rund 4000 in unser Land evakuierten Afghanen waren ganze 168 Ortskräfte, aber mehr als 250 Personen ganz ohne Papiere“, lautet ein Zitat der AfD-Politikerin Alice Weidel. „Darunter bereits abgeschobene Straftäter, polizeibekannte Kriminelle, Vergewaltiger, Kinderschänder, Islamisten, die auf Staatskosten geholt wurden und in Folge des neuerlichen Abschiebestopps auf unabsehbare Zeit bleiben werden.“
Gregor Gysi sagt dazu: „Die AfD strahlt erstaunlicherweise Selbstbewusstsein aus, und zwar genießen die auch ihre Ausgrenzung. Weil sie wissen, dass sie damit alle Ausgegrenzten draußen erreichen. Und damit sie ausgegrenzt werden, müssen sie auch immer wieder provozieren.“
„Oft haben Sie AfD-Reden, wo die Redner eigentlich ohne jeglichen Höhepunkt einfach so ihr Argument machen“, sagt der stellvertretende „Welt“-Chefredakteur Robin Alexander.
Er beobachtet, dass die AfD-Reden oft so gestaltet sind, dass deren Inhalte in sozialen Medien rasch Verbreitung finden. „Dann haben Sie vielleicht 20, 25, 30 Sekunden, wo eine wahnsinnige Schärfe reinkommt, eine wahnsinnige Verletzung, ei ne gewollte Verletzung. Und dann schreien alle anderen im Bundestag auf.
„Das ist so angelegt, dass das später für Social Media geschnitten wird, damit die ihrem Publikum zeigen können: Hier haben wir‘s mal allen gezeigt. Und der Aufschrei der anderen ist dann sogar der Beleg, dass es angeblich funktioniert hat.“ Robin Alexander, Hauptstadtjournalist
Robert Habeck zeigt eigene Zweifel
Für einen neuen Stil in der parlamentarischen Redekultur steht Wirtschaftsminister Robert Habeck, der in Umfragen immer wieder an der Spitze der Beliebtheitsskala steht. „Und wo ich die Zwischenrufe von ganz rechts höre. Hören Sie mir kurz zu, jetzt wird es interessant“, sagt der Grünenpolitiker.
Er spitzt seine Thesen nicht zu, er belehrt nicht, sondern erklärt und zeigt eigene Zweifel: „Deswegen ist die Korrektur, die die Bundesregierung gemacht hat, also die Bereitschaft, Waffen zu liefern, richtig. ... Sie ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner, und ich weiß es auch nicht, und ich habe mich ja immer sehr offen dafür gezeigt, diesen Schritt zu gehen.“
Dazu Robin Alexander: „Habeck dichtet sich nicht ab durch Alternativlosigkeit, durch Suggestion von Sachzwang, durch Vorlesen von Referentenpunkten, sondern er stellt sein eigenes Überlegen dar. Er macht sein Argument und spricht immer das Gegenargument mit und gibt dem Publikum die Chance, ihm beim Abwägen zuzuschauen.“
Insofern mag Habeck ein Indiz dafür sein, dass die politische Kommunikation in der heutigen Gesellschaft ein anderes Niveau hat als in früheren Jahrzehnten. Argumentative Angebote zum eigenen Nachdenken finden mehr Resonanz als rhetorische Ringkämpfe, in denen es nur um Sieg und Niederlage geht.
Robert Habeck weiter: „Denn wer weiß schon, wie sich der Krieg entwickelt, und wer weiß, ob aus dieser Entscheidung heraus nicht weitere Entscheidungen getroffen werden und wir irgendwann lauter Waffen liefern für einen dauerhaften, langen Krieg in Europa. Auch das ist möglich.“
Leidenschaftliche Debatten kehren zurück
Die lebendige politische Auseinandersetzung, die angriffslustige Kontroverse, der argumentative Schlagabtausch gehören zur Demokratie wie das Wahlrecht und die Meinungsfreiheit.
In den langen Jahren der Großen Koalition waren leidenschaftlich geführte Debatten, mit Witz und Verve ausgetragene Dispute eine Seltenheit. Heute steht der Ampelkoalition wieder eine stärkere Opposition gegenüber. Das verändert auch die parlamentarischen Debatten.
„Es ist ja nicht umsonst so gewesen, dass sowohl Kurt Schumacher als auch Konrad Adenauer damals bei der ersten Wahl ‘49 gesagt haben: Auf keinen Fall darf es eine Große Koalition geben, die Lager müssen abgebildet sein in Regierung und Opposition im Parlament“, sagt Jaqueline Schäfer. „Das ist einfach wichtig, um tatsächlich auch im Volk das Gefühl auch wieder zu etablieren: Ja, das ist nicht nur eine abgehobene Gruppe, sondern ich bin auch vertreten in der anderen Meinung.“