Debatte um Takis Würgers Roman "Stella"

Die Schwierigkeiten beim Schreiben über die Shoah

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Zu sehen ist das Cover des Buchs "Stella" von Takis Würger, ausgelegt im Heine-Haus in Düsseldorf.
Die wichtigen Fragen werden nicht gestellt: Der Roman "Stella" von Takis Würger wurde im Feuilleton heftig kritisiert. © Picture Alliance / dpa/ Christophe Gateau
Von Ralph Gerstenberg · 10.05.2019
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Ärgernis, Beleidigung, Hochstapelei – der Schriftsteller Takis Würger wurde für seinen Roman "Stella" heftig kritisiert. Über den Holocaust zu schreiben droht, oftmals zu Kitsch zu werden. Doch es gibt auch Beispiele, die das Gegenteil beweisen.
Am 14. Januar 2019 erschien "Stella", der zweite Roman des 33-jährigen Spiegel-Reporters und Schriftstellers Takis Würger. Er erzählt darin die Geschichte der Stella Goldschlag, einer Jüdin, die Anfang der 40er-Jahre in Berlin mehrere hundert in der Illegalität lebende Juden der Gestapo auslieferte. Ihre Geschichte wurde bereits in einem Dokumentarfilm, in einem Sachbuch, in einem Spielfilm sowie in einer Musicalinszenierung der Neuköllner Oper erzählt.

Verriss von "Stella" in den Feuilletons

"Stella" wurde vom Hanser-Verlag schon vor dem Erscheinen mit Anzeigen, Vorabinterviews und Videos in diversen Medien, sozialen Netzwerken und branchenüblichen Kanälen als literarisches Großereignis gepriesen. Dass die Latte für den jungen Bestsellerautor damit zu hoch gehängt worden war, offenbarte sich mit den ersten Rezensionen in den Feuilletons.
Fabian Wolff schrieb beispielsweise in der Süddeutschen Zeitung:
"Würgers ‚Stella‘ ist ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen – und das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint, wenn sie ein solches Buch auch noch als wertvollen Beitrag zur Erinnerung an die Schoah verkaufen will. Selbst Stella Goldschlag hat diesen Roman nicht verdient."
Und der SWR-Literaturredakteur, -kritiker und Autor Carsten Otte bezeichnete den Roman in seiner taz-Rezension als "literarische Hochstapelei".

Das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit

"In der Gesamtschau hat es etwas von Romanfake. Das hört sich vielleicht härter an als es ist. Nur bei diesem moralisch so aufgeladenen Thema wird es dann tatsächlich zu einem Problem."
Aber gerade wenn man eine so imposante, schreckliche, berührende und wichtige Geschichte wie die der Stella Goldschlag erzähle, müsse man es, so Carsten Otte, mit der Wirklichkeit sehr genau nehmen.
So wie der deutsch-amerikanische Journalist Peter Wyden beispielsweise, der für sein Buch über die reale Stella Goldschlag mit Opfern, Tätern und mit Stella Goldschlag selbst gesprochen hatte und der Frage nachgegangen war, die Takis Würger in seinem Roman gar nicht stellt: Warum hat Stella Goldschlag so gnadenlos und effektiv für die Gestapo weitergearbeitet, obwohl sie wusste, dass ihre Eltern längst deportiert worden waren? Und wie kann man mit einer solchen Schuld Jahrzehnte lang weiterleben?

Das Problem mit dem "Holocaust-Kitsch"

Takis Würgers Roman wurde in der Debatte auch als "Holocaust-Kitsch" bezeichnet. Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler sieht das Kitschproblem auch bei anderen Werken, die sich mit dem Thema befassen wie dem Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink oder dem Film "Schindlers Liste": "Der Kitsch ist eigentlich immer stärker als die qualitätvolle Literatur. Und ich nehme an, dass die Kitschbilder in Filmen wie ‚Schindlers Liste‘ natürlich auch stärker sind und sich durchsetzen."
Sigrid Löffler hat in den vergangenen zehn bis 15 Jahren eine Art Paradigmenwechsel in der Literatur über den Holocaust beobachtet. Nachdem Holocaust-Überlebende wie Primo Levi oder Jorge Semprún nicht mehr aus eigener Erfahrung von der beispiellosen Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten berichten könnten, entstehe nun eine Erinnerungsliteratur aus zweiter Hand.

"Secondhand-Shoah-Literatur"

"Secondhand-Shoah-Literatur! Diese Nachgeborenen verfügen natürlich über die Freiheit, mit dem Holocaust als frei verhandelbarem und frei verfügbarem Stoff umzugehen. Und das tun sie natürlich auch, sie schreiben jetzt nicht mehr dokumentarische Literatur, sondern Doku-Fiction. Oder überhaupt Fiktion. Jetzt geht‘s halt um das Nachfühlen, um das Nachfühlen dessen, was die Opfer erlebt haben. Und die Literatur, die dabei entsteht, ist ganz unterschiedlich. Es kann hohe Literatur sein, es kann Kolportage sein, es kann Kommerzliteratur sein", sagt Löffler.
Um Kommerz, Kitsch und Kolportage, zu denen Sigrid Löffler auch "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell und "Interessengebiet" von Martin Amis zählt, macht sie einen großen Bogen. Die Grande Dame der Literaturkritik bevorzugt dagegen zum Beispiel den auf einer wahren Lebensgeschichte basierenden Roman "Daniel Stein" von Ljudmilla Ulitzkaja oder "Oxenberg & Bernstein", in dem der rumänische Autor Cătălin Mihuleac das Pogrom in seiner Heimatstadt Iasi beschreibt. Neben literarischen gebe es auch moralische Anforderungen, denen ein Autor, der sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, gewachsen sein müsse.

Literatur orientiert sich an Vermarktungszielen

"Also ich würde jederzeit als Literaturkritiker eine solche Anforderung an literarische Texte zum Thema Holocaust stellen. Aber mir ist natürlich gleichzeitig vollkommen klar, dass sehr viele Autoren nach ganz anderen Kriterien vorgehen. Da geht es um das Vermarktungsziel."
Die Debatte um "Stella" hat deutlich gemacht, dass es ästhetische und ethische Maßstäbe zu beachten gilt, wenn es um ein so bedeutsames Thema wie den Holocaust geht.
Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument und als barrierefreies Text-Dokument
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