Sachbuch "Stella Goldschlag" neu aufgelegt

Annäherungen an eine ambivalente Figur

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Cover von Peter Wydens "Stella Goldschlag", im Hintergrund sind Badegäste im Berliner Strandbad Wannsee um 1935 zu sehen
Cover von Peter Wydens "Stella Goldschlag", im Hintergrund sind Badegäste im Berliner Strandbad Wannsee um 1935 zu sehen © Steidl / akg / Collage: DLF Kultur
Vladimir Balzer im Gespräch mit Joachim Scholl · 01.03.2019
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Takis Würgers Roman "Stella" wird heftig debattiert. Die Erben der echten Stella Goldschlag leiteten sogar rechtliche Schritte ein. Nun ist das Sachbuch von Peter Wyden über die Berliner Jüdin neu aufgelegt worden – und er ist ganz nah an ihr dran.
Joachim Scholl: Es ist ein richtiger Literaturskandal geworden, die Debatte um "Stella", dem Bestsellerroman von Takis Würger über die Berliner Jüdin, die während der Nazizeit andere Juden an die Gestapo verraten hat. Kritiker griffen den Roman scharf an, so könne, so dürfe man nicht über eine reale Figur schreiben, die Erben von Stella Goldschlag leiteten juristische Schritte ein. Jetzt haben sich Buchhändler in einem offenen Brief vor Takis Würger gestellt, und das Buch, das verkauft sich weiter wie geschnitten Brot.
Jetzt aber gibt es die Chance, die Geschichte der Stella Goldschlag aus wirklich erster Hand zu erfahren, mit dem Buch nämlich des amerikanischen Journalisten Peter Wyden. Es ist vor 20 Jahren erstmals erschienen, und jetzt gibt es es wieder auf Deutsch. Im Studio ist unser Kollege Vladimir Balzer, er hat den Band gelesen. Wer ist denn dieser Peter Wyden?
Balzer: Peter Wyden ist eigentlich Peter Weidenreich, 1923 in Berlin geboren, 1937 nach Amerika gegangen und vor allem ganz nah dran an dieser Stella Goldschlag als Mädchen, als ganz junge Frau. Er war Klassenkamerad von ihr in Zeiten der Verfolgung. Die beiden besuchten in den 30er-Jahren von '35 bis '37 das Goldschmidt-College, die Goldschmidt-Schule, wo jüdische Kinder hinmussten mehr oder weniger, weil sie in den staatlichen Schulen nicht mehr zugelassen waren und da vorbereitet wurden auch auf die Emigration.
Aus dieser Erinnerung heraus beschreibt er. Also näher dran kann man eigentlich kaum sein. Das war sein letztes Buch. Er ist 1998 gestorben. Man kann ihn leider nicht mehr fragen, aber jetzt ist es endlich wieder erschienen. Es war ja Anfang der 90er mal auf Deutsch verfügbar, und jetzt, 25 Jahre später, endlich wieder da.
Porträt des amerikanischen Autors und Journalisten Peter Wyden
Der amerikanische Journalist Peter Wyden, eigentlich Peter Weidenreich, war ein Klassenkamerad von Stella Goldschlag.© Steidl Verlag
Scholl: Wie geht denn nun Peter Wyden auf diese ja doch sehr ambivalente Figur der Stella zu?
Balzer: Und das ist das Schöne, und das unterscheidet ihn eben auch von den ganzen Debatten der letzten Wochen und Monate, er geht auf sie als ambivalente Figur zu. Er nähert sich ihr als Forschender, als Rechercheur, als Journalist, der er ja auch war. Er hat für die "Newsweek" gearbeitet sein Leben lang und wollte dann irgendwann zum Ende seines Lebens diese Geschichte erzählen.
Es ist sehr seriös, es ist recherchiert, er hat mit 70 Überlebenden gesprochen, und er erzählt von ihr, auch von der Faszination von diesem jungen Mädchen. Er war verknallt in sie, war 13, 14, 15 Jahre alt, hatte nur Blicke für sie, wollte ihr ganz nahe sein, spürte aber schon auch als Kind diese Ambivalenz. Man konnte ihr nicht ganz trauen, eine sehr seltsame Figur, gleichzeitig aber auch faszinierend. Was auch so toll ist, dass er sie in diesem Kontext beschreibt, in dem sie sich bewegt hat – ein Zusammenhang und nicht nur auf diese eine Figur isoliert.
Scholl: Fällt er denn ein Urteil über sie?
Balzer: Zum Glück nicht. Das ganze Buch ist eigentlich der Versuch, einem Urteil auszuweichen, auch wenn er natürlich darüber schreibt, welche Verbrechen sie letztlich dann doch begangen hat. Natürlich, sie hat hunderte Menschen auch tatsächlich an die Gestapo verraten und hat vermutlich auch große, große Schuld auf sich geladen, aber er schreibt, dass das alles in einem Zusammenhang stattfand.
Er beschreibt sie auch als eine Figur, als behütetes Einzelkind, als jemand, der wahnsinnig viel Aufmerksamkeit brauchte, der aber auch spürte irgendwie, dass er eigentlich gar nicht zu diesem Berliner Judentum gehören wollte. Irgendwann entwickelte sich bei dieser Stella Goldschlag so eine Art Selbsthass. Sie wollte keine Jüdin mehr sein. Sie hat das mal behauptet, dass ihre Mutter Christin sei und hat sich so eine Scheinwelt irgendwie aufgebaut. Also er beschreibt sie persönlich, er skizziert sie, er versucht zu erklären, wie man das verstehen konnte, und er hat sie auch selbst getroffen als ältere Frau.

Stella als Inspiration für Takis Würger

Scholl: Jetzt vor dem Hintergrund der Debatte, der aktuellen um Takis Würger, Vladimir Balzer, liefert denn Wydens Buch jetzt eine neue Perspektive, mit der man den Roman jetzt von Takis Würger auch vielleicht besser einordnen kann? Takis Würger hat das Buch von Peter Wyden ja auch als Grundlage gehabt.
Balzer: Ja, man spürt das jetzt. Ich habe tatsächlich Takis Würger noch mal gelesen, um einfach noch mal zu sehen, wo er sich auch bedient hat von den Quellen her. Man merkt schon, dass er das gelesen hat. Also die Fakten, die da drin sind in dem Buch von Takis Würger, stammen auch zum Teil von Peter Wyden.
Also die Debatte ist ein bisschen ambivalent über diesen Roman von Takis Würger, so empfinde ich das jedenfalls, die wurde sehr, sehr moralisch geführt und weniger eigentlich tatsächlich nach künstlerischen Kriterien. Also dieser Takis Würger hat sozusagen Stella als eine vielleicht Inspiration, aber höchstens, er wollte nicht die Geschichte von Stella Goldschlag erzählen. Das wollte er nicht. Es ist ein Roman gewesen. Peter Wyden will die Geschichte dieser jüdischen Nazi-Kollaborateurin erzählen. Das kann man eigentlich kaum miteinander vergleichen.
Also ich persönlich würde sagen, wenn man sich tatsächlich für die Tragik des Berliner Judentums in den 30er-Jahren, für Stella Goldschlag, für diese extrem ambivalente Figur, auch für die Frage, wie hätte man sich selbst verhalten, Peter Wyden stellt ja auch diese Frage – was hätte ich gemacht, wenn ich nicht emigriert wäre –, wenn man sich dafür interessiert, dann bitte Peter Wyden wieder lesen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Peter Wyden: Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte
Übersetzt von Ilse Strasmann
Steidl Verlag, Göttingen 2019 (Neuauflage)
384 Seiten, 20 Euro

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