Modern Monetary Theory

Schulden machen, bis es quietscht

27:55 Minuten
Grafik: Ein Paar segelt auf stürmischem Euro-Notenmeer.
Ein Staat kann in seiner eigenen Währung nicht pleitegehen, sagen die Anhänger und Anhängerinnen Modern Monetary Theory. Er muss einfach nur mehr Geld schaffen, wenn sein Konto leer ist. © imagoimages / Ikon Images / Mark Airs
Von Vivien Leue · 10.05.2022
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Die schwarze Null ist seit vielen Jahren das Mantra der Politik: Was der Staat nicht hat, kann er auch nicht unbegrenzt ausgeben. Immer mehr Ökonomen halten aber mit der Modern Monetary Theory dagegen. Demnach dürfe und müsse der Staat sogar Schulden machen.
"Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 c auf…" Der Deutsche Bundestag in Berlin, Plenarsitzung. "Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan."
Die Regierung braucht neues Geld. Viel Geld. Es gibt viel zu besprechen. Wo sollen die zusätzlichen Milliarden Euro herkommen?
Schon 2020 gab die Bundesregierung so viel Geld aus wie noch nie: gut 508 Milliarden Euro, davon knapp die Hälfte kreditfinanziert.

Muss uns das langsam Sorgen machen?

"Die Haushaltsdefizite müssen uns keine Sorgen machen. Wir haben nicht das Problem, dass wir knappes Geld haben und irgendwelche Sachen nicht bezahlen können", sagt Wirtschaftswissenschaftler Dirk Ehnts.
Ihm und den Vertretern der Modern Monetary Theory machen Schulden keine Angst. Denn Schulden spielen dieser neuen ökonomischen Denkschule zufolge kaum eine Rolle bei der Frage, was sich ein Land leisten kann. Ein Staat könne in seiner eigenen Währung gar nicht Pleite gehen, denn er schafft ja das Geld, über seine Zentralbank.
"Der EZB kann das Geld nicht ausgehen und sie kann auch nicht Pleite gehen. Die ökonomischen Lehrbücher sind weitgehend falsch!"
Dirk Ehnts sitzt in seinem Arbeitszimmer in Berlin. Er ist im Homeoffice. Auf der weißen Holztür im Hintergrund Kinderzeichnungen, an der Wand ein Plakat des weltberühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den nach ihm benannten Keynesianismus begründete.

Keynesianismus

Anders als die Neoklassiker / Wirtschaftstheoretiker der Neoklassik vor ihm zeigte Keynes, dass Angebot und Nachfrage auf den Märkten nicht automatisch zu einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht führen. Stattdessen gibt es immer wieder konjunkturelle Einbrüche, Arbeitslosigkeit, was zu einem Mangel an privaten und staatlichen Investitionen führt, was wiederum die Probleme verschärft.

Um dem entgegenzuwirken, muss der Staat eingreifen und selbst investieren, so Keynes. Das Geld hierfür nimmt er über Steuern ein oder indem er Staatsanleihen verkauft, also quasi bei Anlegern Kredit aufnimmt.

"Die Lehrbücher sind voll davon, dass gesagt wird, es gibt so etwas wie drei Möglichkeiten der Staatsfinanzierung: Entweder durch Steuern oder durch Staatsanleihen oder durch die Zentralbank, was dann meistens mit Gelddrucken verbunden ist."
Völliger Quatsch, sagt Ehnts.
"Die Lehrbücher, muss man schon konstatieren, sind weitestgehend falsch momentan."

Denn eigentlich gebe es von den drei beschriebenen Möglichkeiten faktisch nur eine: das Gelddrucken. Denn der Staat ist der Schöpfer des Geldes. Nur, wenn er Geld überhaupt erst in Umlauf gebracht hat, können die Bürger damit auch Steuern bezahlen oder Staatsanleihen kaufen. Der Staat muss sein Geld also erst einmal ausgeben, unter die Leute bringen, bevor er es wieder zurückholen kann.
Undatiertes Schwarzweißfoto von John Maynard Keynes. Ein älterer Herr in Anzug und mit Schnurrbart.
Die Lehrbücher seien voll mit den Theorien von Keynes, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Dirk Ehnts. Aber wie zeitgemäß sind diese noch?© imago/Leemage
"Das heißt, die deutsche Bundesregierung, wenn die Ausgaben durchführt, weist das Bundesministerium der Finanzen die Bundesbank an, in deren Auftrag das Konto von einer Bank zu erhöhen, die wiederum dann den Kontostand des Empfängers erhöht."
Der Empfänger wäre eine Baufirma oder ein Handwerksbetrieb, die für den Staat zum Beispiel eine Brücke bauen.
"Es gibt gar keine Möglichkeiten der Defizitfinanzierung oder Steuerfinanzierung. Es ist nicht so, dass da irgendjemand in der Bundesbank dann den Hebel umlegt und halt sagt, okay, jetzt lasse ich die Steuern fließen oder sagt, okay, jetzt drücke ich auf den Knopf und lasse das durch Staatsanleihen finanzieren. Das funktioniert so alles gar nicht."
Wie das Geldsystem also wirklich funktioniert, das habe er erst während seiner Promotion verstanden, sagt Ehnts.
"Da habe ich mich damit wochenlang, monatelang beschäftigt und habe immer versucht, auch empirisch zu überprüfen, ob die Aussagen richtig sind oder nicht und bin am Ende dann zu dem Schluss gekommen, dass Modern Monetary Theory eine korrekte Beschreibung ist der Realität."

Modern Monetary Theory

Die Modern Monetary Theory ist eine relativ junge Strömung des Post-Keynesianismus, sie entstand um die Jahrtausendwende. Seitdem stellt sie althergebrachte Weisheiten auf den Kopf. Denn die MMT sagt:

Ein Staat kann in seiner eigenen Währung nicht pleitegehen. Er muss einfach nur mehr Geld schaffen, wenn sein Konto leer ist. Auch brauche er keine Steuern zur Finanzierung seiner Ausgaben. Stattdessen müsse der Staat einfach nur die Zentralbank anweisen, seinen Kontostand zu erhöhen.

Deshalb sollten sich Investitionen nicht nach der Frage richten, wie viel Geld zur Verfügung steht, sondern danach, ob diese Investitionen nötig sind. Ist die Antwort: Ja, dann gibt es kaum ein Limit – so die Vertreter der Modern Monetary Theory.

Dirk Ehnts ist in Deutschland einer der Anführer von ihnen.
"Deswegen ist es so wichtig, dass man das versteht, dass der Staat keine schwäbische Hausfrau ist."

"Wir werden in der Euro-Zone abgehängt"

Die schwäbische Hausfrau muss ihr Geld nämlich erst einmal verdienen oder sparen, bevor sie sich etwas kaufen kann. Sie kann – so heißt es – nur das ausgeben, was sie hat. Anders als der Staat. Er schöpft das Geld und kann es ausgeben, ohne vorher zu sparen oder Geld zum Beispiel von Steuerzahlern einzunehmen. Das müsse Deutschland, das müsse die Euro-Zone schnellstens verstehen, warnt Ehnts.
"Wir werden abgehängt. Wenn wir mit der Euro-Zone so weitermachen und die alten Regeln wieder einsetzen, das wird so nicht funktionieren."
Arbeitslosigkeit, marode Infrastruktur, schleppende Digitalisierung, kaputte Schulen und natürlich die unmittelbaren Folgen der aktuellen Corona-Pandemie – um all diese Probleme zu lösen, braucht es Hunderte Milliarden Euro. Ganz zu schweigen von den wirklich teuren Themen: der Bekämpfung des Klimawandels, der Verkehrs- und Energiewende.
"Da müssen wir jetzt umdenken, dass in dem Wirtschaftskreislauf der Staat sich entsprechend verschuldet – in Anführungszeichen – und einfach mehr ausgibt, als er einnimmt. Es ist gar nicht so schlimm."
Kann es wirklich so einfach sein? Was ist mit Inflation, steigenden Zinsen, Preisblasen? Ein solches Ausmaß an Investitionen – und vor allem: An Schulden – schafft doch wiederum ganz andere Probleme. Auch dafür hat die MMT Antworten.
"Klar, wenn ich als Staat irgendwann merke: Das, was ich kaufen möchte, kriege ich nicht zu den Preisen, die ich aufrufe. Ja klar, in dem Moment muss ich mich natürlich entscheiden: Möchte ich als Staat diese Güter und Dienstleistungen oder Arbeitsleistungen doch haben, auf jeden Fall, und höhere Löhne bieten, höhere Preise. Dann nehme ich in Kauf, dass die Preise natürlich steigen und dass ich dadurch die Inflation auslöse", sagt Dirk Ehnts.
Wenn der Staat in dem Moment aber die Ausgaben zurückfährt, zum Beispiel bei Vollbeschäftigung, "…dann wird wahrscheinlich die Inflationsrate nicht hochgehen".

Inflation

Inflation bezeichnet kurz gesagt die Preissteigerung von Waren und Dienstleistungen. In der Euro-Zone arbeitet die Europäische Zentralbank daran, die Inflation bei knapp unter zwei Prozent zu halten. In den vergangenen Jahren lag sie allerdings häufig stark unter dieser Zielmarke, erst zuletzt stieg sie wieder an, auf aktuell 1,6 Prozent.

Zu einem Problem wird Inflation erst, wenn die Preise zu schnell und zu stark steigen. Davon kann in der Eurozone aber keine Rede sein.

Die Sorge, dass schuldenfinanzierte Investitionen des Staates die Inflation nach oben treiben könnten, sei unbegründet, sagt Dirk Ehnts. Allein ein Blick auf die Zeit nach der Finanzkrise, auf die 2010er-Jahre, zeige das:
"Da hat quasi die Bundesregierung vier Prozent Steigerung der Ausgaben jedes Jahr fast durchgezogen. Und hatten wir hohe Inflationsraten oder steigende Inflationsraten? Nein. Die waren relativ konstant und irgendwo zwischen eins und zwei Prozent die meiste Zeit."
Auch die Zinsen sind seit Jahren im Keller. Und trotz enormer Ausgaben zur Rettung der Finanzwirtschaft, erreichten Deutschlands Finanzpolitiker sogar ein paar Jahre lang die schwarze Null.

Taugen die USA als Vorbild?

Ehnts plädiert deshalb dafür, gerade jetzt, in der Corona-Krise, noch mehr Geld auszugeben, und zwar ohne schlechtes Gewissen.
"Das ist das, was in Amerika eigentlich schon durchgeführt wird. Das heißt also, die Regierung Biden hat ja schon angekündigt, 1,9 Billionen Dollar auszugeben. Und die Zentralbank hat auch gesagt, wir ziehen die Zinsen auch nicht hoch: Macht mal."
Ist die MMT schon im Weißen Haus? Mitte März, Oval Office im Weißen Haus in Washington. US-Präsident Joe Biden unterzeichnet das größte Konjunkturprogramm aller Zeiten: Es umfasst 1,9 Billionen Dollar.
"I think, this is – and most people I think do as well – is historic legislation."
Viele Amerikaner erhalten Einmalzahlungen in Höhe von bis zu 1400 Dollar. Geplant sind außerdem Finanzhilfen für die Bundesstaaten und Kommunen, Schulen und Kindergärten. Insgesamt haben die USA bereits mehr als fünf Billionen Dollar im Kampf gegen die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen ausgegeben – mehr wohl als jedes andere Land der Welt.

Ende März legte Biden noch eins drauf: einen Plan zur Modernisierung des Landes – rund zwei Billionen Dollar schwer.
Ein älterer Mann im Anzug steht an einem Rednerpult.
Mit einem massiven staatlichen Investitionsprogramm will US-Präsident Joe Biden die Wirtschaft ankurbeln.© picture alliance / dpa / AP / Andrew Harnik
"Es ist ein einzigartiges Generationen-Projekt: das größte Arbeitsmarktpaket seit dem Zweiten Weltkrieg. Millionen gut bezahlter Jobs werden entstehen, unsere Wirtschaft wird wachsen und weltweit konkurrenzfähig bleiben. Ja, es ist groß. Und wir schaffen das."
32.000 Kilometer Straßen und Autobahnen sollen in den kommenden acht Jahren modernisiert werden, dazu 10.000 Brücken und mehrere Flughäfen. Der Breitbandausbau, Ladesäulen für Elektro-Autos, die Sanierung des Wasserversorgungssystems – all diese Investitionen sollen vorangetrieben werden.
"We can afford to make them – or, put another way, we can’t afford not to."
Ökonomen und Politiker beobachten die Geschehnisse in den USA gespannt: Wie wird die größte Volkswirtschaft der Welt auf die Rekordinvestitionen und Rekordschulden reagieren?

"Die Frage muss sein: Was können wir uns leisten?"

Ist das schon die Anwendung der MMT, der Modern Monetary Theory? Immerhin kommt ihre wohl bekannteste Verfechterin aus den USA: Stephanie Kelton, Ökonomie-Professorin und Autorin des US-Bestsellers "The Deficit Myth." Kelton predigt seit Jahren, dass Staaten, die über eigene, starke Währungen verfügen, nicht auf ihren Schuldenstand, sondern lediglich auf ihr Investitionsniveau blicken sollten. Welche Investitionen braucht es, um zukunftsfähig zu bleiben – das sei die wichtige Frage.
Natürlich könne ein Staat nicht grenzenlos Geld ausgeben. Nur liegen die Investitionslimits laut Stephanie Kelton eben nicht in den Finanzen begründet. Bei einer Vorlesung an der Stony Brooks Universität im US-Bundesstaat New York erklärt sie:
"Die Frage muss sein: Was können wir uns leisten? Die Antwort liegt nicht in den Finanzen begründet, sondern in der Realwirtschaft. Wenn Dich jemand fragt: Wie willst Du für das Infrastrukturprojekt bezahlen? Dann antwortest Du: Indem ich hunderttausend Bauarbeiter einstelle, Tonnen an Stahl einkaufe, die freien Kapazitäten in den Betrieben nutze – so bezahle ich das: Mit realen Ressourcen."
Das Limit liege in der Wirtschaft selbst. Erst, wenn sie ausgelastet ist, sollten Investitionen zurückgefahren werden, weil sonst zum Beispiel Inflation drohe.
"Wenn alle Arbeiter einen Job haben, alle Betriebe ausgelastet sind, kann man nicht weiter investieren. Aber wenn es freie Kapazitäten auf dem Markt gibt, dann kann die Regierung die freien Kapazitäten nutzen, und zwar ohne mit Privatinvestoren um die letzten Ressourcen zu konkurrieren."

Für den Ökonomen Paul Krugman ist MMT ein alter Hut

Paradigmenwechsel oder alter Hut? Ökonomen streiten über MMT. Was sagen führende Ökonomen zu diesen Thesen und Erklärungen, zu den Verheißungen der Modern Monetary Theory und der Idee, dass Schulden keine Rolle spielen?
In den USA ist der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman einer von ihnen. In einer Talkshow des US-Senders PBS wurde er gefragt, was er von der MMT hält.
Es stimmt, dass die Regierung nicht Bankrott gehen kann, weil sie Herrin ihrer eigenen Währung ist, antwortet Paul Krugman auf die Frage der Moderatorin. Aber – fügt er hinzu – das wüssten er und seine Kollegen schon längst. Die MMT bringe der Wirtschaftswissenschaft nichts wirklich Neues.
Auch in Deutschland hat es die Modern Monetary Theory mit ihrer Anerkennung als ernst zu nehmende Theorie noch schwer.
"Mein Name ist Jens Südekum. Ich bin Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Düsseldorf und auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium."
Jens Südekum hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit der MMT auseinandergesetzt. Auch er meint, dass sie eigentlich gar nicht so modern, so neu ist. Anders als Paul Krugman, der sich beim Thema MMT wie viele Wirtschaftswissenschaftler des sogenannten Mainstreams eher kurz angebunden gibt, nimmt sich Jens Südekum Zeit für ein Interview.
Autorin: "Wenn ich das richtig verstehe, sagen ja die MMT-Anhänger, dass die Theorie zur Staatsfinanzierung – wie sich ein Staat finanziert – komplett anders ist. Vielleicht sagen Sie mal, wie erklären Sie es ihren Studierenden?"
Südukum: "Das ist tatsächlich der größte Verdienst der MMT, dass sie erst mal deskriptiv ziemlich klargestellt haben, wie bestimmte Abläufe tatsächlich sind. Das ist eine wichtige Erkenntnis, dass man sozusagen nicht erst Geld einsammeln muss von den Steuerzahlern, damit man es dann ausgeben kann, sondern, dass es gerade andersherum läuft."

Die Maastricht-Schuldenregel und ihre Folgen

Was ist mit den Staatsschulden? Sie gelten hierzulande immer noch als eher gefährlich, als etwas, das fiskalpolitisch besser vermieden werden sollte. Hier holt der Wirtschaftsprofessor tief Luft. In den 90er-Jahren, erzählt er dann, hätten Studien durchaus gezeigt, dass eine zu hohe Schuldenquote für ein Land riskant sein könnte. Deshalb entstand unter anderem die Maastricht-Schuldenregel, die besagt, dass der Schuldenstand eines Mitgliedsstaats 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten dürfe.
"Das hat sich aber als völlig falsch herausgestellt", sagt Südekum. Stattdessen zeige mittlerweile nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Praxis, dass es eine solch starre Obergrenze an Schulden gar nicht gebe.
"Viele Staaten haben deutlich mehr Schulden als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, zum Beispiel Italien, aber auch die USA, auch Großbritannien, allen voran Japan. Und das sind funktionierende Volkswirtschaften, die überhaupt keine Schwierigkeiten gesehen haben, was die Schuldentragfähigkeit angeht."
Hinzu kommen historisch niedrige Zinsen, und das seit mehr als zehn Jahren. Sie erleichtern es einem Staat, quasi aus seinen Schulden herauszuwachsen: Steigt die Wachstumsrate der Wirtschaft schneller als der Zinssatz, sinkt die relative Belastung durch Schulden. Wie entstehen in einer Volkswirtschaft Zinsen?

Zinsen

Zinsen sind kurz gefasst der Preis für Geld. Insofern entstehen sie ähnlich wie andere Preise durch Angebot und Nachfrage. Allerdings hat die Geldpolitik der jeweiligen Notenbank erheblichen Einfluss auf diesen Prozess.

Als Reaktion auf die Finanzkrise 2008 erhöhten die großen Zentralbanken weltweit ihre Geldmenge. Sie machten es für Banken und Anleger also einfacher, an frisches Geld zu kommen. Die Zinsen sind dadurch gesunken, auf ein historisches Tief. Weil dieses Mehr an Geld aber nicht ausreichend investiert wurde, folgten immer neue Anreize, um Investitionen anzukurbeln.

Mittlerweile sind deshalb auch Negativzinsen keine Ausnahme mehr. Sie kehren den Preis für Geld um: Kreditgeber zahlen bei Negativzinsen Geld an den Schuldner, also an denjenigen, der sich Geld leiht. Experten rechnen vorerst nicht mit einem starken Zinsanstieg in den kommenden Jahren. Sind Schulden also ein Problem von gestern, aus Zeiten hoher Zinsen?

"Die MMT sagt, die Grenze der Verschuldung ist nicht irgendein Schuldenstand, ja nicht irgendein Maastricht-Kriterium, sondern letztendlich die Vollauslastung der Volkswirtschaft. Erst wenn die erreicht ist, dann wird expansive Politik und Verschuldungspolitik problematisch, weil es dann die Inflation anheizt. Aber das ist eigentlich eine Erkenntnis, die Studierende der Volkswirtschaftslehre, die aufmerksam beim Grundstudium zugehört haben, beim Keynesianismus, eigentlich schon kennen", sagt Jens Südekum.

Nur niedrige Zinsen bedeuten auch niedrige Inflation

Bleibt die Frage, was passiert, wenn die Zinsen doch wieder steigen. Wenn ein Staat nicht mehr aus seinen Schulden herauswachsen kann, sondern geliehenes Geld teurer und teurer wird. Auch diese Sorge sieht Südekum, ähnlich wie MMT-Verfechter Dirk Ehnts, zumindest aktuell als unbegründet an.
"Wir sind nun mal in einem deflationären Umfeld, gerade in der Euro-Zone. Die Zinsen sind niedrig. Es gibt gute Gründe, warum die Zinsen über sehr, sehr lange Zeit sehr, sehr niedrig bleiben werden. Sodass man die Potenziale, die sich daraus ergeben, dass man die nutzen sollte und geradezu nutzen muss."
Es ist dem Wirtschaftsprofessor allerdings wichtig, klarzumachen, dass das eben für die aktuellen Rahmenbedingungen – niedrige Zinsen, niedrige Inflation – gilt. Sollten Zinsen wieder konstant steigen, oder gar die Inflation anziehen, müsse darauf entsprechend reagiert werden.
Denn anders als die MMT-Anhänger sieht Südekum durchaus Risiken hoher Staatsschulden, auch in einer noch nicht voll ausgelasteten Wirtschaft.
Um diese Risiken zu verstehen, hilft ein genauerer Blick auf unser Geld.

Geld

Ob ein Geldschein oder die Zahlen auf unserem Konto einen Wert für uns haben, hängt allein von unserem Vertrauen ab. Wir vertrauen darauf, dass wir für das Geld einer bestimmten Währung etwas kaufen können, das in etwa dem geglaubten Wert entspricht. Können wir für unser Geld nach und nach immer weniger kaufen – weil zum Beispiel der Staat falsch investiert hat, Preisblasen entstanden sind und die Inflation stark steigt – verlieren wir das Vertrauen in das Geld. Es hat keinen stabilen Wert mehr.

Wer kann, flüchtet in andere Währungen, deren Wert noch stabil ist. Ist das Vertrauen in eine Währung verloren gegangen, können sich die dazugehörigen Staaten nicht mehr gut mit frischem Geld versorgen – kaum jemand möchte noch ihre Staatsanleihen kaufen.

Jens Südekum rät deshalb zu Feingefühl, wenn es um Fragen staatlicher Investitionsgrenzen oder Staatsverschuldung geht. Während die MMT propagiert: Man müsse keine Angst vor hoher Staatsverschuldung haben, sagt Südekum:
"Man darf es nicht bis zum Äußersten austesten und dann, wenn sozusagen der Geist aus der Flasche ist, oder der Ketchup aus der Tube, kann man versuchen, den Ketchup da wieder reinzukriegen, sprich das Vertrauen wieder herzustellen. Das ist enorm schwierig."
Es scheint eine wirtschafts- und fiskalpolitische Gratwanderung: Einerseits mahnt Jens Südekum, die möglichen Risiken hoher Staatsverschuldung im Blick zu behalten, andererseits rät auch er aktuell dazu, dass der Staat mehr Geld ausgibt.
"Wir dürfen auf gar keinen Fall den Fehler machen, jetzt nach der Corona-Krise wieder zu versuchen, dahin zurückzukommen, wo wir mal Anfang der 2000er waren oder den 90ern. Dieses Denken der Maastricht-Kriterien, das ist gescheitert. Wir müssen expansiv bleiben, aber wir müssen auch gleichzeitig uns gut überlegen, wofür genau wir dieses Geld ausgeben."
Das ist allerdings nicht nur eine ökonomische Frage, es ist vor allem eine politische.

Die Politik ist sich bei der Schuldenfrage uneins

Die Politik in Deutschland ist in der Frage – wie viel Schulden verträgt das Land – gespalten. Zwar herrscht größtenteils Konsens, dass in der aktuellen Corona-Krise Restriktionen wie die Schuldenbremse ausgesetzt werden müssen. Aber zugleich mahnen Fiskalpolitiker vor allem von Union und FDP, das Land müsse bald wieder zurück zu einem ausgeglichenen Haushalt, der schwarzen Null – und widersprechen damit ausdrücklich den MMT-Positionen.
"Diese Politik, also des ungezwungenen Gelddruckens durch die Zentralbank, ob es die amerikanische ist oder auch selbst die europäische. Da kann ich nur davor warnen", sagt der CDU-Abgeordnete und haushaltspolitische Sprecher der Union, Eckhardt Rehberg.
"Um nur eine Zahl zu nennen: In den letzten zwei Jahren haben sich die Kosten bei Brückensanierungen um 25 bis 30 Prozent gesteigert. Auch da muss man schauen, wenn ich immer mehr Geld ins Schaufenster stelle, ob ich damit wirklich mehr Investitionen erreiche."
Der Koalitionspartner SPD ist bei dem Thema uneins, Die Linke klar auf Schuldenkurs.
"Ich halte die schwarze Null für schlechte Wirtschaftspolitik", sagt auch Fabio De Masi, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag und ihr finanzpolitischer Sprecher. Ähnlich wie die MMT-Verfechter meint auch er, dass sich Deutschland vor den großen, wichtigen Projekten nicht scheuen sollte – nur um Schulden zu vermeiden.
"Nehmen wir jetzt nur mal die ganze Impfkampagne. Ich war immer jemand, der gesagt hat, der Staat muss auch staatliche Anreize setzen, wenn mehr Impfstoff produziert wird."
De Masi ist sich sicher: Wenn wir hier mehr Geld ausgegeben hätten, wären wir in der Pandemiebekämpfung viel weiter, wären viel mehr Menschen schon geimpft.
"Und dann hätten wir auch viele der Restriktionen viel schneller zurücknehmen können. Und dann wären die ökonomischen Kosten sehr viel geringer. Und dann wären die Steuerausfälle sehr viel geringer und die Ausgaben von Arbeitslosigkeit geregelt. Das ist ein Beispiel, an dem man sehen kann, dass manchmal Geld ausgeben sogar weniger Schulden machen bedeutet."

Zahlen sich höhere Investitionen langfristig aus?

Dieses Argument findet sich auch häufig bei MMT-Anhängern: Demnach zahlen sich höhere Investitionen langfristig aus, indem sie die Wirtschaft so sehr voranbringen, dass sich die Staatsfinanzen durch höhere Steuereinnahmen und boomende Märkte quasi wie von selbst erholen.
Auch Lisa Paus, finanzpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, meint:
"Wenn wir jetzt nichts tun, dann haben wir noch vielleicht, wenn es gut geht, zehn Jahre lang Schwarze-Null-Haushalte, weil eine CDU das durchgesetzt hat. Aber dann, im elften Jahr, ist völlig klar, weil wir eben keine Klimaanpassung betrieben haben, weil wir den 1,5-Grad-Pfad nicht erreicht haben, dass dann die Klimarisiken so dermaßen groß sind, dass das voll durchschlägt und wir dann komplett "bust" gehen."
Paus beobachtet die MMT-Diskussion mit großem Interesse, sieht in der Praxis aber eine große Hürde:
"Dafür bräuchte es eine riesige Reform des Maastricht-Vertrags."

MMT stellt die EU vor Probleme

In seinem Arbeitszimmer in Berlin hält Dirk Ehnts dagegen. Ja, es sei kompliziert, die reine MMT auf die Euro-Zone anzuwenden. Die EZB könnte nicht einfach für Deutschland, Frankreich, Italien oder Griechenland die Kontostände erhöhen – um den Staaten neues Geld zu verschaffen. Aber die Staaten könnten jederzeit neue Staatsanleihen ausgeben.
"Und wenn die EZB sich dahinter stellt und sagt: Wir kaufen dem Markt alles ab, was da jetzt rausgekommen ist. Dann können auch die Euro-Zone-Regionen natürlich so viel Geld ausgeben, wie sie für nötig erachten."
Die EZB hat sich schon bereit erklärt, eine stärker expansive Fiskalpolitik der Euro-Staaten zu unterstützen.
"Wir sind mit der MMT auch eigentlich am Anfang erst. In Deutschland ist es so, dass die Aufmerksamkeit steigt."
Diese Aufmerksamkeit tue der Debatte auch durchaus gut, sagt Wirtschaftsprofessor und Regierungsberater Jens Südekum. Denn letztlich wollten beide – die MMT wie auch die klassischen Ökonomen des Keynesianismus – aktuell das gleiche: eine stärkere Rolle des Staates bei dringend notwendigen Investitionen.
"Wir haben ja riesigen Handlungsbedarf in vielen Bereichen aufgrund der Transformation der Wirtschaft im Bereich Digitalisierung, im Bereich Klimaschutz. Das sind ja riesige Baustellen, die auch der Privatsektor nicht so einfach füllen kann."

Vollbeschäftigung als Ziel

Mit einer Ausrichtung der Fiskalpolitik an Schuldenbremse und Maastricht-Kriterien könnte auf diesen Baustellen nicht gearbeitet werden, meint Südekum:
"Wir brauchen eine neue Makropolitik, und da ist Vollbeschäftigung eben auch ein wichtiges Ziel. Aber deswegen muss man sozusagen noch nicht zum Jünger der MMT werden."
Es gelte, auch bei offenen Geldhähnen einen kühlen Kopf zu bewahren.
"Man darf aus meiner Sicht jetzt sozusagen, die ganzen Theorien, Überlegungen, die vorher eine Rolle gespielt haben, mit den Kipppunkten, das Vertrauen von Finanzmärkten, Vertrauen in eine Währung, das darf man jetzt nicht alles so abtun, als sozusagen Quatsch, der sich erledigt hat. Der spielt momentan keine Rolle. Wir wissen nicht, ob er in zehn Jahren noch mal eine Rolle spielen könnte. Deswegen sollte man das im Hinterkopf bewahren."
Dirk Ehnts kennt die Kritik und nimmt sie gelassen.
"Man sieht das ja nicht alle Tage, dass so ein Paradigmenwechsel stattfindet. Das heißt, zum letzten Mal in der Wirtschaftstheorie gab es den Wechsel in den späten 70er-Jahren, als quasi die Monetaristen die Keynesianer verdrängt haben."
Wird die Modern Monetary Theory sich tatsächlich irgendwann einreihen in diese großen wirtschaftstheoretischen Ideen? Noch gelten ihre Vertreter als Außenseiter, als Enfant terrible der Wirtschaftspolitik.
"Momentan sind MMT und der Mainstream nah beieinander. Es wurde mal so gesagt: Eine Uhr, die stehen geblieben ist, ist ja auch… zufällig zweimal am Tag zeigt sie die richtige Uhrzeit."
Nur wer ist in dem Bild die stehen gebliebene Uhr?
Eine Wiederholung vom 18. Mai 2021.

Es sprachen: Julia Brabandt, Robert Frank, Ralf bei der Kellen und andere
Ton: Martin Eichberg
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Martin Hartwig

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