"Modern Monetary"-Theorie

Warum Ökonomen zu Staatsschulden raten

04:35 Minuten
Eine Geldrolle aus Dollars, die von einem grünen Gummiband zusammengehalten wird.
Unter Joe Biden dürfte der Schulden-Dollar lockerer sitzen. © imago/ZUMA Wire/Igor Golovniov
Ein Kommentar von Ulrike Herrmann · 16.12.2020
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Die Verschuldung der USA dürfte mit Joe Biden als Präsident deutlich steigen. Kein Grund zur Panik, sagen immer mehr Ökonomen. Sie berufen sich auf die "Modern Monetary"-Theorie, erklärt die Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann.
Die Macht in Washington wird weiblicher. Mit Kamala Harris gibt es erstmals eine US-Vizepräsidentin, und auch die beiden wichtigsten Wirtschaftsposten werden künftig von Frauen besetzt. Die Ex-Chefin der US-Notenbank Fed, Janet Yellen, wird neue Finanzministerin, und die Princeton-Professorin Cecilia Rouse steigt zur obersten Wirtschaftsberaterin auf.
Die kommende Regierung unterscheidet sich also deutlich von Noch-Präsident Trump, der vor allem weiße Männer um sich scharte. Allerdings reicht die Kehrtwende tiefer. Mit dem neuen Personal kommen auch neue ökonomische Vorstellungen ins Weiße Haus.

Staatsschulden sind nicht schlimm

Der neue Trend heißt "Modern Monetary Theory", kurz MMT. Die Kernidee ist: Staatsschulden sind nicht nur nicht schlimm – sondern geradezu notwendig, um die Wirtschaft stabil zu halten. Der Staat ist also nicht darauf angewiesen, dass er Steuern kassiert. Stattdessen kann die Regierung Kredite aufnehmen und autonom agieren. Es gibt nur eine einzige Grenze, die zu beachten ist: Der Staat darf keine Inflation erzeugen.
Die MMT wird von verschiedenen Volkswirten vertreten, aber der Star ist Stephanie Kelton. Die 51-jährige Ökonomin berät prominente linke US-Demokraten. Sie hat mit Bernie Sanders, Elizabeth Warren und Alexandria Ocasio-Cortez zusammengearbeitet.
MMT hat auch Schwächen. Zum Beispiel ist nirgends geklärt, wie der Staat und private Banken zusammenwirken. Aber das sind Fragen für Feinschmecker. MMT hat einen ungeheuren Sog entwickelt, weil die Theorie überzeugend erklärt, dass Staatsschulden unproblematisch sind. Das ist eine wichtige Wende und könnte verhindern, dass der künftige US-Präsident Biden alte Fehler wiederholt.

Aus Fehlern gelernt

2008 sahen sich Obama und sein Vize Biden ebenfalls mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert. Viele Banken waren zusammengebrochen, weil sie mit Ramsch-Hypotheken gehandelt hatten. Auch damals war also ein Konjunkturpaket nötig, um die Wirtschaft in Gang zu bringen.
Doch damals glaubte man noch, dass Staatsschulden gefährlich und geradezu "böse" seien. Und obwohl Obama sogar allmächtig war, weil er in den ersten zwei Jahren über eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses verfügte, rang er sich nicht dazu durch, ein Konjunkturpaket aufzulegen, das groß genug gewesen wäre. Mindestens 1,3 Billionen Dollar seien nötig, rechneten Obamas Berater vor. Noch besser wären 1,8 Billionen Dollar. Doch Obama segnete nur magere 787 Milliarden Dollar ab, weil er die Schuldenphobie vieler Wähler fürchtete.
Die Folge: Es dauerte mehr als sechs Jahre, um die Jobs wieder neu zu schaffen, die in der Finanzkrise verloren gegangen waren. Trump hat die Wahlen 2016 auch gewonnen, weil viele Nicht-Akademiker das Gefühl hatten, dass sie von den Demokraten verraten worden waren.
Die Demokraten haben aus ihren Fehlern und von MMT gelernt. Diesmal wollen sie ein ganz großes Konjunkturpaket auflegen, um die Coronakrise zu überwinden.

Auch Ökonomen für schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm

Jedoch stellt sich jetzt ein neues Problem: Es ist keineswegs ausgemacht, dass die Demokraten allein regieren. Sie haben zwar die Mehrheit im Repräsentantenhaus, aber am 5. Januar werden die beiden Senatssitze im US-Staat Georgia neu gewählt. Gewinnen die Republikaner auch nur einen dieser beiden Sitze, stellen sie die Mehrheit im Senat - und können dort den US-Haushalt blockieren.
Allerdings agieren auch die Republikaner nicht im luftleeren Raum. Viele ihrer Wähler besitzen Aktien, und die Börsenkurse bleiben nur stabil, wenn sich die Coronakrise nicht verschärft, wenn also der Staat eingreift und Konjunkturpakete auflegt.
Obama hatte Angst, dass er die Propagandaschlacht verlieren würde, die die Republikaner gegen ein schuldenfinanziertes Investitionsprogramm starten würden. Biden muss diese Sorge nicht haben – weil fast alle Ökonomen auf seiner Seite stehen.

Ulrike Herrmann arbeitet als Redakteurin bei der "tageszeitung" (taz) und ist seit 2006 deren Wirtschaftskorrespondentin. Die ausgebildete Bankkauffrau absolvierte die Henri-Nannen-Schule und studierte Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Sie ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen und hat zahlreiche Bücher zu Wirtschaftsthemen geschrieben. Ende 2019 erschien "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind".

Porträt von Ulrike HERRMANN (Journalistin) bei einer Aufzeichnung er TV-Sendung Maischberger.
© imago images / Sven Simon
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