Umstrittene These

Ist Ostdeutschland eine Erfindung des Westens?

Porträt des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann. Er trägt ein weißes Hemd und einen schwarzen Pullover. Oschmann lehnt an einer hölzernen Säule.
Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann hat mit seiner These, wonach der Osten eine Erfindung des Westens ist, einen Nerv getroffen. © imago / Emmanuele Contini
15.04.2023
Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann fordert mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" eine kritische Reflexion über den Westen ein. Er erklärt, warum der Osten auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht gehört wird.
Der Osten ist eine westdeutsche Erfindung, zumindest wenn es nach Dirk Oschmann geht. Der in Gotha geborene und in Leipzig lehrende Germanist erregte bereits im Februar vergangenen Jahres mit dieser These Aufsehen. Auf seinen damals in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichten Artikel folgt ein Jahr später ein ganzes Buch mit dem gleichnamigen Titel, das es bis auf Platz 1 der "Spiegel"-Bestsellerliste schafft.

Wie lautet Dirk Oschmanns These? 

Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland Thema. Die Lebensverhältnisse in beiden Teilen des Landes sind immer noch nicht angeglichen. Oschmann vertritt nun die These, dass der Westen den Osten als negative Projektionsfläche braucht, um sich selbst in einem besseren Licht darzustellen.
Er spricht in diesem Kontext von „Othering“. Das ist ein Konzept, das auf den Literaturwissenschaftler Edward Said zurückgeht, einen der wichtigsten Theoretiker des Postkolonialismus. Der Politikwissenschaftler Aram Ziai fasst „Othering“ so zusammen: „Othering ist abstrakt gesehen die Konstruktion eines Fremden, das als negative Projektionsfläche zur (Re-)Produktion einer positiven eigenen Identität dient.“
So wird der Westen zur Norm und der Osten zur Ausnahme. In Oschmanns Buch heißt es dazu:
„Die dominante, ausschließlich westdeutsch perspektivierte [Geschichte] lautet, dass Deutschland im Gefolge des Zweiten Weltkriegs in BRD und DDR geteilt wurde, wobei die BRD ‚Deutschland’ blieb, während die DDR als ‚Ostzone’ oder einfach nur als ‚Zone’ erschien. Nach dem Fall der Mauer 1989 ist die DDR dann der BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes ‚beigetreten’ und firmiert seitdem im öffentlichen Raum in erster Linie als ‚Osten’, der ‚aufholen und sich normalisieren muss’."

Wie wird der Osten im Westen gesehen?

Entlang dieses Narrativs finden sich nun zahlreiche Zuschreibungen. Oschmann fasst zusammen: „Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt ‚Osten’ vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie – um nur die wichtigsten der vom Westen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen zu nennen […]“
Personen mit Deutschlandflaggen und Pappschildern marschieren durch Koethen. Auf den Transparenten und Schildern steht "Merkel muss weg" oder "Unsere Heimat geben wir nicht auf".
Ostdeutsche mit Deutschlandflagge. So stellt man sich im Westen gemeinhin den typischen "Ossi" vor. Gegen diese Sicht wendet sich Oschmann in seinem Buch. Zu sehen ist eine Demonstration in Köthen im Jahr 2018.© Getty Images / Carsten Koall

Warum wird der Osten nicht gehört? 

Der Leipziger Literaturprofessor verfolgt noch einen zweiten Erklärungsansatz, der stark an die Ausführungen der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak erinnert, ebenfalls Mitbegründerin des Postkolonialismus.
In ihrem Aufsatz "Can the Subaltern speak?" zeigt Spivak, dass die Marginalisierten im Diskurs keine eigene Geschichte haben, und dass, wenn sie innerhalb eines Diskurses, der über sie geführt wird, ihre Stimme erheben, sie von verschiedenen Seiten vereinnahmt werden.
Wer nun den ostdeutschen Unmut verstehen will, muss sich nach Ansicht Oschmanns klarmachen, wie einseitig die Diskursmacht verteilt ist, und dass Spitzenpositionen immer noch größtenteils von Westdeutschen besetzt werden.

Welche Rolle spielen die westdeutschen Eliten?

Der Elitenforscher Michael Hartmann erklärt den einseitigen Elitentransfer, der von West nach Ost stattgefunden hat und bis heute andauert, damit, dass bei der Nachbesetzung von Spitzenposten Ähnlichkeit als Maßstab angesetzt wird: Spitzenkräfte würden stets diejenigen als ihre Nachfolger auswählen, die ihnen im Kern ähnelten.
Das Gebäude der Treunhandanstalt in Berlin von außen. Davor Autos und Lastwagen auf der Strasse.
Nur etwa sechs Prozent der rund 10.000 durch die Treuhand privatisierten Betriebe seien in ostdeutsche Hände übergegangen, sagt der Soziologe Steffen Mau.© Getty Images / ullstein bild / Henry Herrmann
An der Transformation der DDR waren laut dem Soziologen Steffen Mau rund 30.000 westdeutsche Männer beteiligt. So kann es sein, dass heute von 300 Spitzenpositionen in der Wissenschaft ganze zwei von Ostdeutschen besetzt sind. Und die Chefposten in den Privatmedien werden bundesweit betrachtet nahezu vollständig von Westdeutschen bekleidet, wie Hartmann erklärt.

Ist der Osten eine Kolonie?

Ebenfalls seit dem Beitritt der DDR zur BRD hält sich hartnäckig die These, dass es sich beim Osten um eine „Kolonie“ handelt. So gab es 2019 am Dresdner Institut für Kulturstudien eine mehrtägige Tagung, die sich mit „Aspekte[n] der ‚Kolonisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“ beschäftigt hat, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Land Sachsen. Dirk Oschmann folgt dieser umstrittenen These. 
Schwarzweißbild einer Montagsdemonstration in Schwerin im Oktober 1989, kurz vor dem Mauerfall. Die Demonstranten fordern auf den Transparenten u.a. die Anerkenneung des "Neuen Forum".
Als die damaligen DDR-Bürger montags auf die Straße gingen, taten sie das, um Frieden und Freiheit zu erlangen.© picture alliance / imageBROKER / Lothar Steiner
Gegen die These spricht, dass sich die Ostdeutschen nach der Wende auch für ein anderes Wiedervereinigungsmodell hätten entscheiden können, sie aber mehrheitlich den schnellen Beitritt gewählt haben. Der Journalist Matthias Bertsch erklärte dazu im Deutschlandfunk:
„Oschmann verschweigt zum Beispiel, dass die DDR-Bürger zu dieser Entmündigung zumindest indirekt beigetragen haben. Während sich der Kern der friedlichen Revolutionäre eine gesellschaftliche Debatte über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gewünscht hätte, wollte die Mehrheit möglichst schnell den Westen. Mit Freiheit und D-Mark kam allerdings auch westliches Führungspersonal, um dem Osten zu zeigen, wie Demokratie, Wirtschaft und Wissenschaft funktionieren. Dass dieser paternalistische Überlegenheitsgestus Bitterkeit hinterlässt, sollte niemand wundern.“

Muss sich der Westen hinterfragen?

Was Oschmann mit seinem Buch auf keinen Fall tut, wie er selbst im Deutschlandfunk Kultur sagt, ist, den Osten zu beschreiben. Ganz im Gegenteil. In seinem Buch geht es vor allem um den Westen und wie dieser sich den Osten vorstellt, wie er im selben Gespräch betont. 
Auch der Elitenforscher Hartmann plädiert für eine kritische Reflexion dessen, was es heißt, westdeutsch zu sein: „Westdeutsche müssten ihre Normalität hinterfragen. Das ist das Entscheidende.“
Quellen: Deutschlandradio, Matthias Bertsch, ckr

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