DDR

Der organisierten Lüge die Stirn geboten

Von Hans-Joachim Föller  · 09.03.2014
Reiner Kunze hat einen schwierigen Prozess durchgemacht, bis er zu jenem Dichter wurde, der in Deutschland heute große Säle füllt. Denn der SED gefielen seine Gedichte gar nicht. Etwas, mit dem der sozialismusgläubige Kunze haderte.
Leipzig 1959, DDR: Wer solche Gedichte schreibt, kann keine sozialistischen Studenten erziehen, lautete das drohende Credo der versammelten SED-Genossen der Karl-Marx-Universität. Doch dass auch Liebesgedichte der Partei zu dienen hatten, konnte der damalige Nachwuchswissenschaftler Reiner Kunze Ende der 1950er-Jahre nicht einsehen. Er wollte vielmehr "aus sich selbst heraus schreiben". Diese und ähnliche Erfahrungen führten bei dem damals noch sozialismusgläubigen Idealisten Kunze zu einem Bildungsprozess wider Willen und auf den Weg zu jenem Dichter der Wahrheit und Klarheit, der heute in Deutschland große Säle füllt. Sein erster Biograph Udo Scheer beschreibt die geistige Grundhaltung Kunzes so:
"Sinn macht der Einzelne, Sinn macht das selbstbestimmte Sein."
Die literatur- und zeitgeschichtlich bemerkenswerte Lebensreise des heute Achtzigjährigen hat der Thüringer Autor nun in einem 270-Seiten-Werk geschildert. Dabei schreibt er nicht nur wie ein Reporter aus eigener Anschauung, sondern verarbeitet in enger Zusammenarbeit mit Kunze selbst Interviews, Briefwechsel, Zeitungsartikel und Stasi-Akten.
Erhellender Beitrag zur demokratischen Erinnerungskultur
Durch Einblicke in die ideologischen Kämpfe der Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts und die heute noch nachwirkenden Verblendungszusammenhänge unter Intellektuellen leistet Scheer dabei - wie nebenbei - einen erhellenden Beitrag zur demokratischen Erinnerungskultur der Bundesrepublik.
Der Weg zum weltberühmten Autor und Georg-Büchner-Preisträger begann im Erzgebirge, wo Kunze als Sprössling eines bildungsfernen Elternhauses in einer bitterarmen Bergarbeiterfamilie aufwuchs. Bücher gab es im Hause Kunze nicht. Aber die Mutter schöpfte aus deutschem Volksliedgut, sang dem Knaben Reiner alte Weisen vor und mag hierdurch bereits dessen Interesse an der Magie poetischer Worte geweckt haben.
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Cover: "Reiner Kunze. Dichter sein. Eine deutsch-deutsche Freiheit" von Udo Scheer© Mitteldeutscher Verlag Halle
Politische Maßstäbe können ihm die Eltern nicht vermitteln. So ist der fleißige Schüler und Student in der DDR der Indoktrination gleichsam wehrlos ausgesetzt, bis zu der erwähnten inneren Umkehr um das Jahr 1960. Von da an entwickelt er nach und nach jenen unverwechselbaren Tonfall, mit dem er der organisierten Lüge als Weltordnung die Stirn bietet. Nach der Heirat mit seiner tschechischen Frau, Elisabeth Littnerova, zieht er nach Greiz, wo er als freier Schriftsteller lebt.
In der DDR erscheinen Nachdichtungen von tschechischen Autoren wie Jan Skacel und Milan Kundera. Doch seine eigenen Gedichtbände "Sensible Wege" und "Zimmerlautstärke" dürfen - mit Ausnahme eines kleinen Poesieheftes - nicht gedruckt werden. Mit ihnen wird er in der Bundesrepublik einer größeren Leserschaft bekannt.
Immer offen für Konflikte
Das Jahr 1976 bringt den Wendepunkt. Beim westdeutschen Klassenfeind liefert Kunze mit den Prosaminiaturen "Die wunderbaren Jahre" Innenansichten aus der DDR-Zwangssozialisation und ihren feinmaschigen Unterdrückungsmethoden. Das spricht sich auch unter der systemkritischen Jugend herum:
"Er war immer offen auch für Konflikte, für die Konflikte, die junge Leute in diesem vormundschaftlichen Staat DDR hatten, in die sie gerieten. Und so entstanden dann eben "Die wunderbaren Jahre", die ihn mit einem Schlag zum Weltautor machten, für die übrigens auch dann Menschen in der DDR ins Gefängnis kamen."
In diese Zeit fallen Kunzes Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband, das Veröffentlichungsverbot die Einkreisung durch Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi, Briefkontrolle, Telefonüberwachung, Einbau einer Wanze im Arbeitszimmer. Am Ende wird der operative Vorgang "Lyrik" zwölf Bände mit insgesamt 3.491 Blatt umfassen. Nach der indirekten Androhung eines Unfalls auf der Autobahn ersucht Kunze für sich und seine Familie um die Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Die Ausreise erfolgt Ostern 1977.
Heute lebt Kunze mit seiner Frau in einem Dorf bei Passau. Im vergangenen Jahr erhielt er mit dem "America Award of Literature" eine Auszeichnung, die sich als Alternative zum Literaturnobelpreis versteht.

Udo Scheer: Reiner Kunze. Dichter sein. Eine deutsch-deutsche Freiheit
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2013
272 Seiten, 19,95 Euro

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