Gespräch mit Reiner Kunze zu dessen 80. Geburtstag

"Damals war es für mich todernst"

Moderation: Joachim Scholl · 16.08.2013
Reiner Kunzes Lyrikband "Die wunderbaren Jahre" war 1976 ein Bestseller. Daraufhin konnte er, der sein Leben in der DDR bedroht sah, nach Westdeutschland übersiedeln. Doch dort habe er sich mit seiner Kritik am DDR-System viele Kollegen zu Feinden gemacht, sagt Kunze.
Joachim Scholl: Dass ihn möglichst niemand bemerkt! – So lautete der Wunsch des Dichters Reiner Kunze für seinen 60. Geburtstag. Und dieser Wunsch wurde ihm damals schon nicht erfüllt und heute gilt das noch weniger. Das gesamte bundesdeutsche Feuilleton gratuliert, Reiner Kunze wird heute 80 Jahre alt! Wir wollen da nicht hintan stehen, haben aber höflicherweise gestern bei ihm angerufen. Und ich habe den Jubilar eingangs gefragt, ob ihm das immer noch peinlich ist, wenn man ihn auf die große Bühne stellt und feiert!

Reiner Kunze: Man muss mit allem leben, auch damit, dass man einmal gefeiert wird. Aber wir haben unsere Kinder, Enkel, den Urenkel können wir noch nicht bitten, aber jedenfalls haben wir die anderen gebeten, uns etwas zu schenken, was wir ganz, ganz dringend brauchen.

Scholl: Oh, was ist das?

Kunze: Und das ist ein Tag Ruhe! Und sie haben es akzeptiert und so werden wir meinen Geburtstag, aber auch den Geburtstag meiner Frau, die ja nur drei Monate älter ist als ich, werden wir als ruhigen Tag verbringen.

Scholl: Wie geht es Ihnen denn momentan? Sind Sie gesund, fühlen Sie sich wohl, geht es Ihnen gut?

Kunze: Vor wenigen Tagen habe ich Günter Kunert ein gnädiges Alter gewünscht. Er schrieb zurück, das Alter sei leider nie gnädig. Wenn man das mit bedenkt, kann ich sagen, dass wir dankbar sein müssen, dass es uns geht, wie es uns geht.

Scholl: Lassen Sie uns ein wenig zurückschauen, Reiner Kunze! Wenn Ihr Name fällt, dann sagen immer noch die meisten prompt, ach ja, "Die wunderbaren Jahre"! Mit diesem Buch erstmals, 1976, haben Sie ein Publikum erreicht, von dem jeder Lyriker wohl träumt - zu Hunderttausenden hat sich dieses Buch verkauft. Und dabei ist es ja ein Werk, das so viel persönliche Verzweiflung, so viel Schmerz enthält über die Zeit damals, die politische Lage und was sie mit Ihnen als Mensch gemacht hat, und plötzlich waren Sie damals in aller Munde. Wie war das eigentlich für Sie, wenn Sie heute daran zurückdenken? Ich stelle mir das als einen ziemlichen Ausnahmezustand vor für Sie!

Kunze: Na ja, der Ausnahmezustand, so wie Sie ihn jetzt schildern, ist gar nicht an mich herangekommen. Weil die Umstände, die Lebensumstände so waren, dass wir ganz anderes zu denken hatten und zu entscheiden hatten. Was ich nicht gewusst habe und was ich jetzt erst, also in den letzten Jahren erfahre, wenn ich zum Beispiel in den neuen Ländern oder jedenfalls in den ehemaligen Ländern der DDR lese und mit meinen Freunden spreche, dass an den Türen Gedichte gehangen haben, und jeder hat gewusst, wenn er das Gedicht "Einladung zu einer Tasse Jasmintee" an der Tür sieht, dann weiß er, wer hinter der Tür wohnt. Das alles habe ich nicht gewusst.

"Die Einsicht, dass man belogen worden war"
Scholl: Wie geht es Ihnen heute, wenn Sie in diesem Buch, "Die wunderbaren Jahre", blättern? Also, mir ist es so gegangen, das ist ja ein Band mit Prosa und Dokumenten und natürlich ganz viel Lyrik. Und die Prosa und die Dokumente, die wirken heute wie historische Zeugnisse. Die Gedichte aber nicht, das ist mir jetzt beim Wiederlesen aufgefallen. Sie sind so zeitlos in ihrer existenziellen Kraft und das müsste Sie eigentlich auch freuen, weil sie auch immer darauf gepocht haben, dass die Literatur Ihnen am wichtigsten ist!

Kunze: Und das freut mich auch. Und was mich dabei auch freut, ist, dass es eben nicht nur Leser meiner Generation sind, die mir heute schreiben, sondern es sind auch jüngere Leute, und zwar ein, zwei Generationen jünger.

Scholl: Sie haben einmal gesagt, ich stelle mich dem Politischen dort, wo es mich als Autor stellt.

Kunze: Ja.

Scholl: Wo es ins Existenzielle hineinreicht. Und bei Ihnen, Reiner Kunze, muss man sagen, hat das Politische ins Existenzielle tief hineingereicht. Als Arbeiterkind hätten Sie in der DDR alle Chancen gehabt, Sie hätten studieren können, hätten bestimmt Karriere gemacht. Aber mit 26 Jahren warfen Sie der Partei, wenn ich so sagen darf, ihre Ideologie vor die Füße, gingen lieber als Hilfsschlosser in die Fabrik. Was hat Sie damals zu diesem radikalen Schnitt bewegt?

Kunze: Die Einsicht, dass man belogen worden war. Dass dieses System unmenschlich ist. Das habe ich durch viele, viele Erlebnisse begreifen müssen. Und ich habe mir selbst dann immer wieder gut zugeredet und gesagt, das ist nicht das System, das ist nicht das, was beabsichtigt ist, das sind Fehler, das sind einzelne Menschen, die das also missbrauchen - bis ich nicht mehr konnte und sagte, nein, das ist systemimmanent. Und dann muss man doch den Schritt tun und sagen, dann mache ich nicht mehr mit!

Scholl: Deckname Lyrik, unter diesem Kürzel wurden Sie von der Staatssicherheit geführt. Ihre Akte umfasste schließlich viele Tausend Seiten, aber noch bevor Sie berühmt wurden, hat man Sie schon behandelt eigentlich wie einen Staatsfeind. 1974 etwa sollten Sie in die Bayerische Akademie der Künste gewählt werden. Daraufhin lud Sie der damalige Kulturminister der DDR zum vertraulichen Gespräch, Herr Hoffmann hieß der, versprach Ihnen Geld und Privilegien noch und nöcher, wenn Sie diese Wahl da in Bayern nur ablehnen würden.

Und als Sie zu allem Nein sagten, sagte der Minister – und man kann es eigentlich heute gar nicht glauben, dass so ein Satz wirklich fällt –, Herr Kunze, dann kann Sie auch der Minister für Kultur nicht mehr vor einem Unfall auf der Autobahn bewahren. Das heißt, man hat Sie wirklich mit dem Tode bedroht, Sie mussten um Ihr Leben fürchten!

Kunze: Ich weiß nicht, ob ich mich tatsächlich habe fürchten müssen, aber damals war es für mich todernst. Und ich habe danach auch vor jedem Fahrtantritt die Kühlerhaube aufgemacht, nachgeschaut, ob der Splint in der Lenkung steckt, und habe die Radkappen mit Vaseline eingerieben, um zu sehen, ob sie abgenommen worden sind …

Scholl: Ob eventuell die Muttern gelöst wurden …

Kunze: … die Muttern gelöst wurden. Daran sehen Sie, dass ich das sehr wohl ernst genommen habe. Und es war Grund, es ernst zu nehmen. Bei Jürgen Fuchs ist ja ein Unfall initiiert worden.

Scholl: Der Schriftsteller Jürgen Fuchs.

Kunze: Ja.

"Dann werden wir wieder nur Gesamtdeutsche haben"
Scholl: Man ließ Sie 1977 dann sofort gehen, als "Die wunderbaren Jahre" im Westen erschienen. Man wollte nicht riskieren, Ihnen den Prozess zu machen und politisch noch schlechter dazustehen. Sie haben sich dann in der BRD aber auch nie mit sozusagen diesem linksintellektuellen Habitus abgefunden, der da heißt: Wiedervereinigung, das ist ein ferner Traum, den wollen wir aufgeben. Sie sind sogar Anfang der 80er-Jahre dann aus dem westdeutschen Schriftstellerverband ausgetreten, als dieser nämlich diesen Wiedervereinigungsanspruch aufgab. Sie machten da nicht mit!

Kunze: Wer kann da mitmachen, wenn man als Schriftsteller doch auch etwas für die Menschen, mit denen er zusammen gelebt hat und mit denen er damals noch zusammen lebte, wenn er für diese Menschen etwas tun wollte? Es ist ganz unmöglich, da aus einem solchen Verein nicht auszutreten! Wissen Sie, als wir die DDR verlassen hatten, habe ich hier – nebenbei, das sage ich immer noch dazwischen: als wir in die Bundesrepublik übergesiedelt waren, habe ich versucht, allen politischen Lärm zu vermeiden – , aber eines wollte ich, ich wollte in die DDR sagen, warum wir die DDR verlassen mussten, denn es ging ja fast über Nacht.

Und da habe ich den Satz gesagt: Von dort, woher wir kommen, kommt kein neuer Anfang für die Menschheit. Und dieser Satz hat dermaßen an ein Tabu gerührt, nämlich an die Meinung, die DDR und das sozialistische System sind das Bessere. Und von diesem Augenblick an haben sich viele meiner Kolleginnen und Kollegen distanziert, zurückgezogen, und es dauerte nicht lange, bis ich für sie eine Art Feind war.

Scholl: Vor 50 Jahren haben Sie auch ein Gedicht geschrieben, ich möchte es Ihnen gern vorlesen, das war Anfang der 60er-Jahre, da schrieben Sie: Nun bin ich 30 Jahre alt und kenne Deutschland nicht. Die Grenzaxt fällt in Deutschlandwald, oh Land, das auseinanderbricht, im Menschen. – Die Zeiten, die haben sich dramatisch verändert seit damals, wir sind wieder ein Land, 1989 haben Sie sich sehr darüber gefreut. Wie geht es Ihnen heute, Herr Kunze, wie blicken Sie denn heute, auch jetzt schon wieder fast 25 Jahre nach dem Mauerfall, auf dieses Deutschland?

Kunze: Meine Generation muss noch sterben, und dann vielleicht noch eine Generation, das weiß ich nicht, aber meine ganz bestimmt. Und dann werden wir wieder nur Gesamtdeutsche haben.

Scholl: Ich fand es fast unglaublich, als ich las, Herr Kunze, die Liste Ihrer Auszeichnungen über die letzten 50 Jahre, kann man sagen, das kulturelle Deutschland hat es jedenfalls gut mit Ihnen gemeint. Es klingt wirklich unglaublich, aber seit 1968 verging kaum ein Jahr, indem man Reiner Kunze nicht einen Preis, eine Auszeichnung verliehen hätte. Der Büchner-Preis zählt ebenso dazu wie das Große Bundesverdienstkreuz. Und als ich diese epochale Liste sah, musste ich daran denken, dass Sie einmal sagten, mein erster und mein kostbarster Literaturpreis war und ist meine Frau. Das stimmt nach wie vor, oder?

Kunze: Das stimmt nach wie vor.

Scholl: Und als ein Lebensmotto haben Sie einmal diesen Satz von Albert Camus genannt: Es herrscht das Absurde und die Liebe errettet davor. Das gilt auch weiterhin?

Kunze: Auch das gilt weiterhin!

Scholl: Was wünschen Sie sich für Ihr neues Lebensjahr, für die Zukunft?

Kunze: Vielleicht etwas mehr Ruhe und etwas mehr Gelegenheit, wieder zum Nachdenken zu kommen.

Scholl: Reiner Kunze, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Gespräch genommen haben! Wir vom Deutschlandradio Kultur wünschen Ihnen alles Gute, noch viele wunderbare Jahre und einen hoffentlich richtig schönen Geburtstag!

Kunze: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.