Das Leben als Akt der Verzweiflung

Von Alexander Schuller · 04.09.2011
Ein epochales Buch, im doppelten Sinn des Wortes: sowohl großartig geschrieben als auch ein Dokument, mehr noch eine Diagnose des Zeitgeistes, die Biografie von David Bellos über einen ungewöhnlichen Europäer, einen der erfolgreichsten europäischen Autoren, der sich auf der Höhe seines Ruhmes tötet: Roman Gary.
Jede Epoche erzeugt Ereignisse oder Produkte oder Personen, die als Verkörperung ihrer Zeit gelten können, als eine zentrale, wenn auch nicht unbedingt positive Wahrheit des 20. Jahrhunderts. Warum gerade Romain Gary? Weil er – so muss man es wohl sagen – gewissermaßen der letzte und der erste Europäer war, beides zugleich und weil diese Dissonanz ihn markiert und zugleich zerrissen hat.

Am 8. Mai 1914, im letzten Sommer des noch präsenten, aber verebbenden 19. Jahrhunderts, wurde Gary geboren. Danach kamen die Schlachten der beiden Weltkriege, kam Hiroshima, kamen Lenin und Stalin und Hitler und Mao, es war das wohl brutalste und blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit. Schon nach dem Ersten Weltkrieg wurden alle bis dahin geltenden sprachlichen, politischen und kulturellen Grenzen, alle Maßstäbe verschoben, und der Zweite Weltkrieg zerstörte endgültig eine Welt, wie sie tausend Jahre gehalten hatte.

David Bellos: Roman Gary Auf die Welt kam Gary als russischer Staatsbürger in Wilna, der jetzigen Hauptstadt Litauens, damals eine russische Provinzstadt, als Pole wuchs er auf.

Als "Jerusalem des Nordens” galt Wilna, zudem als das europäische Zentrum jüdischer Kultur. Mit Jiddisch und Polnisch und Russisch als "Muttersprachen", mit Französisch und Englisch und Deutsch wurde der kleine Kacew groß, als vergötterter Sohn einer liebenden Mutter und eines ungesicherten Vaters. Mit 14 wurde er – kulturell gesprochen – Franzose. Seine Romane schrieb er auf Englisch oder Französisch, nach Belieben, Deutsch sprach er flüssig und Bulgarisch auch ein wenig.

Er bekleidete sich mit einer verwirrenden Zahl von Pseudonyma: Neben seinem am meisten benutzten Roman Gary auch Emile Ajar, mit dem er seinen zweiten Prix Goncourt erkämpfte, dazu Fosco Sinibaldi, René Deville, Shatan Bogat und schließlich Lucien Brulard. Eigentlich schufen nur der leidenschaftliche Ehrgeiz und die bedingungslose Liebe seiner Mutter jenen Gary, wie wir ihn kennen - eine Liebe, die man ruhig als kontrafaktisch bezeichnen darf, eine Liebe, die als Surrogat von Identität fast ein Leben lang hielt, bis zum Selbstmord des Autors am 2. Dezember 1980. David Bellos:

"Jener (…) Roman Kacev, den man später als Romain Gary kannte, lebte ungewöhnlich vielfältige, unterschiedliche Leben. Mit 14 emigrierte er nach Frankreich, wo er in Nizza auf das Lycée ging und in Aix en Provence Jura studierte. Er leistete seinen Militärdienst in der französischen Luftwaffe, floh aber nach Großbritannien, als Frankreich im Jahre 1940 den Waffenstillstand unterschrieb. Während des Krieges diente er in der französischen Flugstaffel der Royal Air Force. Für Tapferkeit vor dem Feind wurde er mit hohen militärischen Orden ausgezeichnet. 1945 trat er in den diplomatischen Dienst ein und wurde französischer Generalkonsul in Los Angeles. Dieses Amt gab er 1960 auf, um Jean Seberg, den Star von Godards ‚Außer Atem’, zu heiraten. Mit Mitte 50 besaß er eine elegante Wohnung im besten Teil des Quartier Latin in Paris, einen großen Landsitz bei Genf und eine luxuriöse Villa auf den Balearen. Gary schien ein in Glück gebettetes Leben zu führen."

Gary, nennen wir ihn ruhig weiterhin so, war ein Spieler, mehr noch ein Schauspieler, der wie jene Griechen viele und wechselnde Masken trug und der glaubte, mit diesen Masken und deren Mythos reale Identität erschaffen zu können. Das erklärt auch seine eigenartige Faszination durch den Mythos des Charles de Gaulle - und sein Missverständnis. Gary sah in de Gaulle den genialen Schauspieler, den Mann, der aus eigener Kraft hinter und mithilfe der Maske ein real unbesiegbares Frankreich zu erfinden und damit zu realisieren in der Lage sei.

"Mir war klar, dass ich seit Jahren schon die Selbstdarstellung eines großen Künstlers beobachtete. In diesem Sinne ist die Leistung de Gaulle ohne Vorbild. Ich glaube, dass in dieser Leistung sein Geheimnis liegt. Er war sowohl unglaublich weitsichtig als auch medial geschickt in der Darstellung unserer tausendjährigen französischen Geschichte. Mit jenem historischen und dramaturgischen Material, das jeder Franzose seit der Schulzeit auswendig kennt, mit den Episoden aus der Vergangenheit, aus dem Leben der französischen Könige, mit dem Licht, das uns noch immer aus unserer glorreichen Vergangenheit erreicht, mit den Fundstücken aus unseren Kathedralen und Statuen, aus unseren Museen und Legenden, hat er gedanklich und handwerklich brillant ein mythologisches Wesen erschaffen, das man als de Gaulle kennt."

Romain Gary hat Charles de Gaulle sehr gut, aber nur halb verstanden. Es geht ihm, wie auch De Gaulle, um Identität. Gary selbst nennt die ideologischen Zutaten: Geschichte und den aus Geschichte zu generierenden Mythos. Ohne Mythos keine Identität. Ohne Identität keine Chance auf geschichtliche Realität. Man darf das Leben des Romain Gary als einen immerwährenden Akt der Verzweiflung verstehen, als den Versuch, Identität und Authentizität dort zu gewinnen, wo sie entstehen: im historischen Bewusstsein. Seinen Tod, seinen Selbstmord könnte man als einen Akt der Einsicht interpretieren: Der Einsicht, dass Europa keine Chance mehr auf Rettung hat, seit es auf seine Geschichte, täglich mehr, zu verzichten bereit ist. A la recherche de l’identitée perdue …

David Bellos: "Romain Gary. A tall story"
Verlag Harvill Secker, London 2010
Cover: "Romain Gary. A tall story"
Cover: "Romain Gary. A tall story"© Verlag Harvill Secker
Mehr zum Thema