Das Geschäft mit dem Alter

Wenn Medikamente zur Gefahr werden

29:45 Minuten
Seniorin bekommt Medikamente in Pflegeheim.
Die Nierenfunktion lässt im Alter nach, deshalb wirken Medikamente anders. Wenn ein Arzt das nicht beachtet, komme es rasch zu Dosierungsfehlern, so Martin Wehling. © imago/MITO
Von Susanne Billig und Petra Geist · 28.02.2019
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Je älter Menschen werden, desto mehr Medikamente nehmen sie oft ein. Ein Risiko. Denn Medikamente werden vor allem an jungen und gesunden Personen getestet. Erkenntnisse darüber, wie sie auf ältere Menschen wirken, fehlen.
Novaminsulfon, Tilidin, Bisoprolol, Furosemid, Spironolacton, Eliquis, Allopurinol, mehrere Abführmittel.
"Die Medikamentengabe funktioniert manchmal so, dass sie auf einen Schwung acht Tabletten aus diesem Becher in den Mund eingeflößt bekommt. Alle auf einmal. Und über die Nebenwirkungen oder die Wechselwirkung – da macht sich keiner Gedanken darüber."
Anna Wildung ist Ende 60. Damit ihre 94-jährige Mutter im Pflegeheim keine Nachteile erleidet, hat sie für diese Sendung ihren Namen geändert. Jedes Wochenende fährt Anna Wildung quer durch Deutschland, um ihre Mutter im Heim zu besuchen.
Weltweit werden Menschen immer älter. Besonders drastisch fällt der Effekt in den Industrieländern aus. In Deutschland hat sich die Lebenserwartung in den letzten hundert Jahren von 43 auf 81 Jahre beinahe verdoppelt – dank Hygiene, gutem Essen, humaneren Arbeitsbedingungen und besserer medizinischer Versorgung.
Die Schattenseite sind zunehmende Krankheiten im höheren Alter. Typischerweise steigen Blutdruck und Blutzucker, das Herz wird schwach, die Gelenke schmerzen, Schlafmangel und nächtliche Unruhe stellen sich ein. Schon ab dem 65. Lebensjahr erhalten Patientinnen und Patienten im Schnitt fünf Medikamente gleichzeitig. Bei Hochbetagten kommen rasch zehn oder mehr Arzneien zusammen.

"Es gab auch noch ein Mittel gegen Blutfettwerte"

Aktuell nimmt Anna Wildungs Mutter morgens neun, mittags zwei und abends vier Tabletten ein.
"Meine Mutter bekommt etliche Blutdrucktabletten und Entwässerungsmittel, weil ihr Herz nicht mehr gut arbeitet. Es gab auch noch ein Mittel gegen Blutfettwerte, also um das Cholesterin zu senken, und ich hab dann nachgesehen im Blutbefund: Meine Mutter hatte einen ganz niedrigen Blutfettwert – also die Medikation, die wird einfach weiter fortgesetzt ohne aktuell zu schauen, ob das noch notwendig ist."
Menschen über 65 haben ein fast fünfmal so hohes Risiko sogenannte "unerwünschte Arzneimittelwirkungen" zu erleiden wie jüngere. Warum? Die Nierenfunktion lässt im Alter stark nach, deshalb wirken Medikamente länger und stärker. Wenn ein Arzt das nicht ausreichend beachtet, kommt es rasch zu Dosierungsfehlern, sagt Professor Martin Wehling. Er ist Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie der Universität Mannheim und Leiter der Arbeitsgruppe Arzneimitteltherapie der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie – und einer der führenden Experten in Deutschland für das Thema alte Menschen und Medikamente.
"Sie können in der Hauptwirkung nachlassen, aber in ihren Nebenwirkungen zunehmen. Und da will ich nur als Beispiel die üblichen Schmerzmittel anführen: Die Nebenwirkungen, die steigen rapide an, also Magenblutung, Bluthochdruck, Schlaganfall und so weiter. Das ist das größte Problem, dass die alten Leute, um die es hier geht, wirklich einiges wesentlich schlechter vertragen als junge."
Dazu kommt: Nicht alle Menschen altern gleich schnell. Allein deshalb müsste jeder Arzt, bevor er einem alten Menschen ein Medikament verschreibt, zuvor die Nierenfunktion genau testen und berücksichtigen, welche Medikamente sein Patient sonst noch nimmt. Müsste – doch das geschieht viel zu selten.
Experten wie Martin Wehling beklagen die hohe Zahl ärztlicher Fehlverordnungen bei älteren Menschen – aus Unkenntnis über die veränderten Abbauwege im alternden Körper, aus Unkenntnis über mögliche Wechselwirkungen zwischen den vielen Medikamenten, aus Zeitmangel und aus falsch verstandenem Entgegenkommen, wenn ein Patient beim Arzt nach reichlich Medikamenten verlangt, um sich gut versorgt und ernstgenommen zu fühlen.
"Wir haben in einer eigenen großen Studie an 80-Jährigen das genau gemessen und es waren in über der Hälfte der Fälle mindestens eine, in ungefähr 15 Prozent der Fälle sogar zwei, in sechs Prozent der Fälle drei Nebenwirkungen. Also man kann fast sagen: Die Mehrzahl der 80-Jährigen hat eine oder mehrere Arzneimittelnebenwirkung."

Oft unnötige Medikamentenvergabe in den Pflegeheimen

Im Pflegeheim rennen Angehörige oft gegen eine Wand, wenn sie Änderungen der Medikation wünschen – und nicht selten gehen Informationen zwischen Arztpraxis und Heimpersonal auch verloren. Das musste Anna Wildung feststellen, als sie bezweifelte, dass ihre Mutter tatsächlich so viel blutverdünnendes Marcumar nehmen musste, wie die Pflegerinnen ihr täglich gaben – weil die Frau Doktor es angeblich so aufgeschrieben hatte.
"Der Quickwert lag ungefähr bei sieben oder acht und das ist gefährlich, weil sie innerlich verbluten kann. Und ich hab das daran gemerkt: Meine Mutter hatte ganz viele blaue Flecken am Körper. Und das ist ein Hinweis darauf, dass es schon innere Blutungen gibt. Und ich habe mich dann am nächsten Arbeitstag an die Praxis gewandt und die haben gesagt, das Pflegeheim hätte schon gewusst, dass sie überhaupt kein Marcumar mehr bekommen darf."
Mehr als fünf Prozent der 20 Millionen Krankenhauseinweisungen pro Jahr gehen aufs Konto von Medikamenten. Wie viele Menschen jährlich aus diesem Grund sterben, lässt sich bislang nur schätzen.
"Ich hab seit ungefähr zehn Jahren als Schätzung – und da steckt schon drin, dass wir das gar nicht richtig messen in Deutschland – die Zahl von 20.000 Arzneimitteltoten pro Jahr propagiert. Die einzigen, die mal wirklich was gemessen haben, sind die Amerikaner. Die hatten in einem Jahr hunderttausend Arznei-Tote. Und wenn man das ein bisschen intra- und extrapoliert, kommt man auf die 20.000 als Schätzung für Deutschland."


Darunter viele alte Menschen. Eine ganze Reihe von Medikamenten beeinträchtigt Alte stärker als Junge – zum Beispiel weil sie die Sturzgefahr erhöhen.

Wildung: "Meine Mutter hat oft einen sehr niedrigen Blutdruck. Meine Mutter bekommt einige Blutdrucksenker und eben auch noch Wassertabletten – und die Wassertabletten senken auch den Blutdruck. Und meine Mutter hat manchmal einen Blutdruck von 90 zu 70 oder sogar noch niedriger, 90 zu 60, und sie kommt dann manchmal gar nicht so zu sich."
Wehling: "Die Blutdruckdenker sind segensreich, aber man darf auch da nicht übertreiben und den Blutdruck zu stark senken, dann tritt Verwirrtheit und eventuell Delir auf. Gleiches gilt für Blutzuckersenker. Und etwas, was mich sehr belastet, ist die Anwendung von Wassertabletten im hohen Alter. Also ich sag‘s einfach: die Vergiftung mit Wassertabletten, die völlige Austrocknung, Verlust von wichtigen Elektrolytensalzen – und da muss ich immer noch staunen, wie oft das passiert."
Die Wochenration an Medikamenten für eine Bewohnerin eines Seniorenwohnheims.
Die Wochenration an Medikamenten für eine Bewohnerin eines Seniorenwohnheims.© picture alliance/dpa/Foto: Christian Charisius

Wassertabletten und die Folgen

Wassertabletten lassen den Blutdruck in den Keller sacken und schwächen die Muskeln durch den Entzug von zu viel Kalium – beides erhöht die Sturzgefahr. Die Patienten müssten viel trinken, um den Wasserverlust auszugleichen, doch weil sich die vielen Toilettengänge beschwerlich und gefährlich anfühlen, vermeiden sie das – und manch ein Pflegeheim achtet nur ungenügend auf die Flüssigkeitsversorgung.
Wildung: "Was mir auffällt ist, dass die Getränke oft nicht bereitgestellt sind, wenn ich komme. Da merke ich manchmal, dass meine Mutter verwirrt ist, dass sie Traum und Wirklichkeit durcheinanderbringt. Sie hat manchmal Ängste, weil sie schlimme Sachen während des Krieges erlebt hat und das scheint in solchen Momenten dann hochzukommen."
800.000 Menschen in Deutschland leben wie die Mutter von Anna Wildung in einem Pflegeheim. Sie sind im Durchschnitt über 80 Jahre alt und fast 70 Prozent der stationär Pflegebedürftigen sind Frauen, bei denen die Nierenfunktion im Alter besonders stark nachlässt. Mehr als die Hälfte der Heimbewohner leidet unter Demenz oder vermindertem Denkvermögen.
"Diese Patienten bekommen für ihre Demenz und damit verbundene Probleme relativ viele Psychopharmaka."
Professorin Petra Thürmann ist Leiterin des Philipp-Klee-Instituts für Klinische Pharmakologie am Helios-Klinikum in Wuppertal und Mitglied der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, auch sie eine deutschlandweit bekannte Expertin.
"Und hier liegt wahrscheinlich auch das größte Problem. Wir haben in Deutschland eine relativ hohe Anwendungsrate von sogenannten Neuroleptika und auch Benzodiazepinen. Das eine sind Medikamente gegen die Aggressionen und die Wahnvorstellungen bei Demenz, und die Benzodiazepine, das sind die Medikamente, mit denen man besser schläft."
Und mit denen man leichter stürzt, weil Schlafmittel die Muskeln stark entspannen.
"Dann stolpert der alte Mensch leicht über die Teppichkante, stürzt und bricht sich dann leider den Oberschenkelhals. Was das Denken anbetrifft, glaubt man's kaum, welche unterschiedlichen Medikamente – zum Beispiel bestimmte Antidepressiva, aber auch Medikamente gegen Blasenfunktionsstörung – tatsächlich einen negativen Einfluss auf das Denkvermögen haben."

Medikamente können das Denkvermögen verschlechtern

Etwa 400 so genannte "Dementiva" sind in Deutschland auf dem Markt: Medikamente, die etwas anderes bewirken sollen, aber nebenbei auch das Denkvermögen verschlechtern – eine Arzneimittel-Nebenwirkung, die oft nicht erkannt wird. Statt dessen gehen Angehörige und Ärzte von einem altersbedingten Abbau des Gehirns aus.
Wehling: "In den ´Leidlinien` – ich schreib die gern mit d – zur Demenz kommt diese Arzneimitteldemenz gar nicht vor. Aber sie ist im Rest der Welt absolut bekannt, anerkannt, wird seit 25 Jahren mindestens beschrieben. Und ja – da gibt es ein ziemlich einfaches Oberprinzip: Das sind Arzneimittel, die ins Gehirn können und dort wirken. Das sind die klassischen Psychopharmaka, die Opiate, also die starken Schmerzmittel, auch Parkinsonmittel, Epilepsiemittel – das ist eine Riesenliste."


Zu jeder großen Volkskrankheit – ob Demenz, hoher Blutdruck oder Diabetes – gibt es Leitlinien, Festlegungen der Fachgesellschaften, wie diese Krankheiten medikamentös zu behandeln sind. Doch jede Leitlinie hat nur eine Krankheit im Blick. Wenn Ärzte alte Menschen mit so genannter "Multimorbidität", also mit mehreren Krankheiten, nach mehreren Leitlinien behandeln, wird daraus ein Medikamenten-Cocktail, der in der Summe meist viel zu hoch dosiert ist. Krankenhäuser behandeln die akute Not ihrer Patienten meist strikt nach Leitlinien. Nach dem stationären Aufenthalt übernimmt der Hausarzt oft die hohe Dosierung, ohne sie erneut zu überprüfen.
Seniorin mit Arzneimitteln.
Nach einem stationären Aufenthalt übernimmt der Hausarzt oft die hohe Medikamentendosierung, ohne sie erneut zu überprüfen.© imago/Westend61/Christian Charisius
"Das ist manchmal schon überraschend, wenn man Patientinnen und Patienten aus dem Krankenhaus bekommt, oder neu bekommt in einem Pflegeheim, welche Mengen an Medikamenten sich da aufsummiert haben."
Michael Janssen ist Arzt für Allgemeinmedizin in Berlin-Neukölln mit den Schwerpunkten Suchtmedizin und Geriatrie. In der Lehrpraxis des Universitätsklinikums Charité bildet er angehende Ärztinnen und Ärzte aus – und er gehört zum Vorstand des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte.
"Das ist dann ein langer Weg, hier das ein oder andere mal wegzulassen, zu reduzieren, gerade zu rücken, um hier das richtige Maß langsam, aber sicher zu finden."

Jüngere Menschen für Medikamentenstudien

Die Leitlinien stützen ihre Empfehlungen auf die wissenschaftliche Datenlage. Doch die meisten großen Medikamentenstudien mit mehreren tausend Probanden arbeiten nur mit jüngeren Menschen und lassen ältere erst gar nicht teilnehmen. Professorin Petra Thürmann spricht deshalb von einem "Studienparadox" bei vielen Arzneistoffen:
"Wo also gerade der typische Anwender in den Studien kaum vertreten ist. Selbst bei, sagen wir, ganz häufigen Erkrankungen wie Herzschwäche sieht man: Der Routinepatient, die ganz normalen Patienten aus dem wahren Leben – von denen hätten nur 20 bis 30 Prozent in die Studien hineingepasst, auf denen unsere Leitlinien beruhen. Und dann muss man sich natürlich wirklich fragen: Hm, der Patient oder die Patientin, die vor mir sitzt – ist das Ergebnis dieser Studie für diese Person auch noch zutreffend?"
Wissenschaftlich hieb- und stichfeste Medikamentenstudien mit älteren Menschen durchzuführen, ist in der Tat überaus schwierig – das weiß Petra Thürmann aus eigener Erfahrung.
"Für eine solche Studie müssen sie sorgfältig aufgeklärt werden, sie müssen mehrfach noch ins Krankenhaus oder in die Arztpraxis für studienbedingte Untersuchungen kommen. Das ist gerade für ältere Menschen, die nicht sehr mobil sind, häufig schwierig. Wir haben in solchen Fällen zum Beispiel selber dann Taxis organisiert, um solche ganz banalen Hindernisse im täglichen Leben auf uns zu nehmen."
Ein weiteres wissenschaftlich extrem schwer fassbares Problem sind die Wechselwirkungen all der Medikamente, die alte Menschen gleichzeitig einnehmen.
Lindner: "Es gibt Studien mit Interaktion, die in der Regel mit zwei Medikamenten gemacht werden, manchmal in seltenen Fällen auch mit dreien – und dann hört‘s auf."

Wenig Forschung zu Wechselwirkungen

Der Arzt Thomas Lindner unterhält eine selbständige Praxis für Nierenheilkunde auf dem Gelände der Oberhavelklinik in Berlin-Hennigsdorf und ist Mitglied von "MEZIS – Mein Essen zahl ich selbst". Diese Initiative von Ärztinnen und Ärzten legt Wert darauf, unabhängig von der pharmazeutischen Industrie zu arbeiten.
"Realität ist es, dass Patienten fünf, sechs, sieben, acht, vielleicht sogar zwölf Medikamente bekommen – und was da wirklich passiert, das sind Dinge, da haben wir keine Erfahrung."
Außerdem werden Studien über Arzneimittel-Wechselwirkungen nur mit Modellsubstanzen gemacht – ausgeblendet bleiben aberhunderte von Medikamenten, die real auf dem Markt sind. Mit hohem Aufwand versucht Petra Thürmann an ihrer Klinik bewusst ältere Menschen in Studien über Wirkstoffe einzubinden, die später meist auch bei alten Menschen angewendet werden – wie Blutverdünner nach einem Schlaganfall.
"Die dann häufig auch noch Lähmungserscheinungen haben, Mobilitätsprobleme hatten, sodass wir erstens Verwandte, Kinder beispielsweise oder Nachbarn, mit in die Studie quasi eingeschlossen haben, die dann geholfen haben, dass das alles funktioniert hat, von der Medikamenteneinnahme bis hin zum Besuch bei uns in der Klinik, und eben halt auch wirklich den Fahrdienst bestellt haben."
Pharmaproduzenten, so betont die Wissenschaftlerin, sollten deutlich mehr zu dieser Art der Forschung angehalten werden. Patentfreie Arzneimittel, um deren Erforschung sich niemand mehr kümmert, müssten mit Mitteln der öffentlichen Hand auf ihre Sicherheit gerade für alte Menschen hin überprüft werden. Kritisch sehen Experten den Umstand, dass Pharma-Fortbildungen für Ärztinnen und Ärzte oft von der Branche selbst angeboten werden, in angenehmen Hotels bei guten Speisen und Getränken.
"Da wird nicht gelogen, aber da werden Risiken minimiert und Vorteile überbewertet. So ist Werbung und das muss man wissen und deswegen muss man als Arzt, als Ärztin besonders kritisch sein mit diesen Zahlen, die veröffentlicht werden."

"Ich versuche eine sinnvolle Therapie zu machen"

Um die Pharmakotherapie älterer Menschen auf wissenschaftlicher Basis zu optimieren, leitet Martin Wehling an der Universität Mannheim das Zentrum für Gerontopharmakologie mit einer angeschlossenen Ambulanz. Hierhin können Ärztinnen und Ärzte ältere Patienten überweisen, die mehr als fünf Arzneimittel einnehmen. Die meisten Patienten kommen allerdings auf eigene Initiative und müssen nicht selten sogar mit ihrem Hausarzt um eine Überweisung kämpfen, wenn der sich querstellt und keine Fremdbegutachtung seiner Arbeit wünscht.

Wehling: "Es kommt ein Patient mit zehn Arzneimitteln und das dauert ein bis zwei Stunden, dass ich das analysiere, was für Krankheiten hat der, was belastet den alten Menschen am meisten, und aus diesen zehn Arzneien versuche ich eine sinnvolle Therapie zu machen, indem ich das Giftige rausnehme und möglicherweise auch etwas Fehlendes hinzufüge, wo wir wissen, dass es ihm hilft."
Diese Empfehlungen geschehen evidenzbasiert, soweit es verlässliche Daten über die Wechselwirkungen der Medikamente beim älteren Menschen gibt. Professor Wehling betreibt die Beratungseinrichtung ehrenamtlich – Einnahmen erzeugt sie für ihn nicht.
"Die Klinik bekommt für eine solche ein- bis zweistündige Konsultation mit Arztbriefen und allem zusammen 18 Euro. Ich kriege nichts. Und das ist natürlich nicht finanzierbar: Wenn das ein anderer Arzt, der davon leben muss, macht, dann ist er nach einer Woche oder zwei Wochen pleite. Das heißt, diese Tätigkeit wird absolut nicht abgebildet in den Vergütungssystemen – und das ist der Hauptgrund, warum das so selten oder fast gar nicht gemacht wird."

Wirkstoffe, die ältere Menschen nicht einnehmen sollten

Die allermeisten Ärztinnen und Ärzte haben keine gerontopharmakologische Ambulanz in ihrer Nähe. Doch auch für sie gibt es Unterstützung: In den letzten Jahren entstanden mehrere wichtige Listen, die sie zu Rate ziehen können. Dazu zählt seit 2010 die Priscus-Liste, federführend von Professorin Petra b entwickelt. Sie verzeichnet 83 Wirkstoffe aus 18 Stoffklassen, die ältere Menschen besser nicht einnehmen sollten, informiert über mögliche Komplikationen und über Alternativen.
Thürmann. ""Diese Liste wird zum Beispiel verwendet in Verordnungssoftware für Ärzte, die, wenn sie ein Medikament von dieser Liste verordnen, darauf hingewiesen werden: ´Achtung, mal bedenken, ob das Medikament wirklich geeignet ist!` Und relativ viele Ärzte oder Apotheker haben diese Liste eben da liegen und nehmen die auch, um die Medikation zu betrachten."
Seit Einführung der Priscus-Liste sind Verschreibung und Verkauf hochgefährlicher Medikamente für alte Menschen um fünf bis zehn Prozent zurückgegangen, zeigen erste Analysedaten. Einen etwas anderen Ansatz verfolgt die Forta-Liste, entwickelt von Professor Martin Wehling. Diese Liste berücksichtigt, dass der Hausarzt vor Ort eher mit der Frage konfrontiert ist, welche Arznei er denn verschreiben kann – guten Gewissens.
Darum sind Medikamente auf der Forta-Liste in vier Kategorien eingeteilt. In die A-Kategorien fallen rundum nützliche Medikamente, in die B-Kategorie solche, die auch mit Unsicherheiten behaftet sind. Medikamente in der C-Kategorie sind schon sehr bedenklich für alte Menschen und solche aus der D-Kategorie sollten prinzipiell vermieden werden. Mit diesem Wissen gerüstet kann die Hausärztin, der Hausarzt als Lotse im Dschungel der vielen Verschreibungen den Überblick bewahren.

"Forta-Liste" führt zu klinischen Verbesserungen

Wehling: "Es gibt ganz schnelle Orientierung in einer Bewertungspriorisierung. Und die geht über die verschiedenen Diagnosen hinaus. Wenn Sie konsequent diese Liste anwenden, dann kriegen sie quasi von allem das Beste raus und es kommt zu einer echten Bevorzugung von Arzneimitteln, die altersverträglich sind – und zwar über alle Therapiebereiche hinweg."
Dank einer App für‘s ärztliche Smartphone lässt sich die Forta-Liste leicht benutzen und international übernehmen mehr und mehr Länder das Prinzip. In einer Studie an mehreren hundert Patientinnen und Patienten hat Martin Wehling nachweisen können, dass der Einsatz der Forta-Liste tatsächlich zu klinischen Verbesserungen führt – und zwar erheblich.
"Da konnten wir nachweisen, dass sich klinische Endpunkt- Parameter, so wie wir das nennen, verbessern, nämlich die Häufigkeit von Arzneimittelnebenwirkungen. Wir mussten nur fünf Patienten nach Forta einstellen, damit eine Nebenwirkung weg war. Das ist also aus dieser Sicht ein ziemlich starkes Instrument."
Auch die Pflegebedürftigkeit der Patienten nahm deutlich ab. Interessanterweise nehmen nach der Forta-Liste eingestellte Patienten noch immer viele Medikamente gleichzeitig, aber die Zusammensetzung des Medikamenten-Cocktails ändert sich zum Verträglichen.
"Wir haben etwa so viele schlechte Arzneimittel weggenommen wie wir gute hinzugefügt haben. Das heißt wir haben gute Arzneimittel für alte Patienten – und eben das, was nicht so gut ist oder ganz schlecht, das muss weg."

Jeder Patient hat das Recht auf einen Medikationsplan

Strengere Zulassungskriterien für Medikamente, bessere Studien, die auch alte Menschen einbeziehen, neutrale ärztliche Fortbildungen zum Thema Medikamente, eine optimierte Digitalisierung, die für einen sicheren Informationsaustausch sorgt zwischen den behandelnden Ärzten – das steht auf dem Forderungskatalog von Geriatrie-Experten. Seit 2016 hat jeder Patient das Recht auf einen Medikationsplan, der alle Medikamente und ihre Dosierungen präzise dokumentiert.
Leider hat sich sein Gebrauch noch nicht flächendeckend durchgesetzt. Dass alte Menschen mit weniger und anderen Medikamenten oft besser bedient sind – dieses Erkenntnis setzt sich allmählich durch. Sogar einen englischen Fachbegriff gibt es dafür: "deprescribing"
gemeint ist damit, Arzneimittel abzusetzen oder zu reduzieren und sich stärker am Wohlbefinden der Patienten zu orientieren. Gerade bei alten Menschen macht das oft Sinn.
Thürmann: "Es gibt eine ganze Reihe von Situationen, wo wir mittlerweile relativ gut sagen können: Der Patient mit dieser Erkrankung und einem bestimmten Krankheitsprofil wird den Nutzen einer vorbeugenden einer präventiven Therapie gar nicht mehr erleben können, also er wird nie den Nutzen davon haben und soll sich jetzt aber mit Tabletten quälen."


Ein Beispiel sind Cholersterinsenker, deren Nutzen sich für jüngere Menschen in ferner Zukunft entfaltet. Doch was sollen gebrechliche Hochbetagte davon haben? Petra Thürmann befasst sich in mehreren Studien mit der Frage, welche Wirkungen es hat, wenn Ärzte kontrolliert versuchen, solche für alte Menschen sinnlosen Medikamente langsam abzusetzen. Ihre Daten zeigen beispielsweise, dass insbesondere in Altenheimen zwei und mehr Blutdrucksenker sogar schädlich sind – die idealen Blutdruckziele der Leitlinien verkehren sich hier in ihr Gegenteil für die Patienten. Ähnliches gilt für entwässernde Medikamente bei Bluthochdruck.
"Man kann sie häufig in ihrer Dosis erheblich reduzieren. Man muss allerdings dabei achten, dass nicht gleichzeitig eine deutliche Herzschwäche vorhanden ist. Bei Herzschwäche brauchen wir leider tatsächlich die Diuretika, um das einlagernde Wasser auch immer wieder jeden Tag auszutreiben. Aber beim reinen hohen Blutdruck kann man tatsächlich auf Diuretika im Alter oftmals verzichten."
Ähnlich zwiespältig sind Psychopharmaka bei alten Menschen mit Demenz. Wenn die Patientin oder der Patient unter Gefühlsschüben oder Wahnvorstellungen leidet, können diese Medikamente, trotz all ihrer Risiken, überaus hilfreich sein. Der Allgemeinmediziner und Ausbilder angehender Ärztinnen und Ärzte, Michael Janssen.
"Wenn nur das Pflegepersonal darunter leidet, gibt es keine Notwendigkeit, die Patienten zu behandeln. Und auch hier gilt es: Immer wieder überprüfen – kann ich weglassen?"
Damit weder Patienten noch Angehörige dies so deuten, als wollte die Medizin am alten Menschen sparen, sollten sie in das "deprescribing" gut eingebunden werden. Es gibt aber auch Patienten, die ihre Medikamente im Alleingang absetzen. Manchmal geht es ihnen dann spontan sehr viel besser, dann spricht die Forschung vom "Lazarus-Effekt".
Medikamentenvergabe in einem Altenheim.
Medikamentenvergabe in einem Altenheim.© imago/epd/Werner Krueper

Sich von einem aufgeschlossenen Arzt begleiten lassen

Doch riskiert ein solcher Patient einen späteren Schlaganfall oder Herzinfarkt? Niemand weiß das. Deshalb ist es sicherer, sich von einem aufgeschlossenen Arzt bei der Medikamentenreduktion fachlich begleiten zu lassen. Noch etwas sollten ältere Patienten bedenken: Sie sind mit einem altbewährten Medikament wahrscheinlich besser versorgt, als wenn der Arzt ihnen den neuesten Pharma-Hit verschreibt.
"Das ist vielleicht ein Arzt, der das Risiko nicht so deutlich sieht und den Patienten möglicherweise einem Risiko aussetzt, das vielleicht gar nicht sein müsste. Da sind die Pharmakologen doch weitgehend einer Meinung: Wir haben mehr als 50 Prozent der neuen Medikamente, die keinen Fortschritt darstellen, aber was wir haben: Wir haben ein Risiko, stärkeres Risiko, und da würde ich nun denken, dass alte Menschen und Nierenkranke vielleicht nicht die ersten sein sollten, bei denen ich das großzügig einsetze. Jeder Patient, der ein neues Medikament nimmt, oder der Arzt, der es einsetzt, muss wissen, dass das Therapierisiko grundsätzlich höher ist als ein beim bekannten Medikament."
Acht Minuten Kontakt zum Patienten – die werden einem Hausarzt bezahlt. Wenn er sich mehr Zeit nimmt, geht er dafür leer aus. Multiprofessionelle Teamarbeit, damit Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Physio- und Ergotherapeutinnen und -therapeuten sich austauschen können, fördert das deutsche Gesundheitswesen gar nicht.
Andere Vergütungsmodelle müssten geschaffen werden, wenn grobe Fehlverordnungen und Überdosierungen bei alten Menschen der Vergangenheit angehören sollen. Die Pflegenden in stationären Einrichtungen müssten besser ausgebildet und vor allem besser bezahlt werden. So gut wie alle Altenpflegeheime werden privatwirtschaftlich betrieben. Sie möchten Profite erwirtschaften und wälzen Kostendruck auf das Personal ab.
Janssen: "Der größte Kostenpunkt in den Pflegeeinrichtungen, im übrigen auch in der ambulanten Pflege, ist der Personal-Posten. Und da versucht man einzusparen."

Überforderung der Pflegerinnen und Pfleger

Anna Wildung sieht, was der Personalmangel und die Überforderung der Pflegerinnen und Pfleger im Heim ihrer Mutter anrichten.
"Dieses Hineinwerfen der Tabletten in den Mund, zehn auf einmal, das finde ich menschenunwürdig eigentlich. Es gab eine Zeit, da hat sie sich ganz oft verschluckt. Weil's kitzelt! Und man kann nicht so viele Tabletten auf einmal – also mir gelingt es nicht! Ich hab schon bei zweien Schwierigkeiten. Einmal hat meine Mutter sogar die Tabletten alle auf einmal bekommen und es stand kein Wasser bereit im ganzen Zimmer. Kein Wasser!"
Als die alte Dame Blut erbrach, telefonierte Anna Wildung die Ärztin herbei. Die vermutete, dass das Blut aus einer verätzten Speiseröhre stammte: Weil ausreichend Pflegepersonal fehlt, wird Anna Wildungs Mutter für die Medikamentengabe nicht richtig aufgesetzt. Statt dessen hebt eine einzelne übermüdete und überforderte Pflegerin – die ihren Lebensunterhalt mit Hilfe einer zweiten Arbeitsstelle bestreiten muss – nur rasch den Kopf der alten Frau hoch.
"Also es ist nur der Kopf nach oben geknickt. Aber der Körper liegt flach. Und da kann es passieren, dass die Tabletten nicht den Weg in den Magen schaffen, sondern in der Speiseröhre liegen bleiben. Da kann es zu diesen Verätzungen kommen."
Wenn es mehr Zeit für die Bewohner gäbe, auch das zeigen die Forschungsergebnisse von Petra Thürmann, ließen sich Psychopharmaka und ihre Nebenwirkungen in Pflegeheimen oft vermeiden.
Thürmann: "Rückenmassagen, Klangschalen, verschiedenste Möglichkeiten, die man bei den Heimbewohnern anwenden kann, die tatsächlich genauso gut beruhigend wirken. Manchmal sind es Schmerzen, das heißt, man muss sich besser um die Schmerztherapie kümmern. Manchmal sind es aber auch ganz einfache Dinge wie irgendein komisches Nachtlämpchen, das bei einem Patienten einfach Angst auslöst, und wenn man dieses Nachtlämpchen ausmacht, schläft der Mensch dann plötzlich."
Janssen: "Die Aktivierung, die Mobilisierung von Patientinnen und Patienten in den stationären Pflegeeinrichtungen verhindert, dass Gelenkversteifungen eintreten, dass Thrombosen eintreten – und und und. Die Prophylaxe, die Vorsorge vor Komplikationen von Bettlägerigkeit – da brauchen wir Personal, da brauchen wir mehr Menschen und mehr Hände und mehr Ohren auch, die zuhören, sich die Nöte anhören und entsprechend darauf reagieren – das ist definitiv so."
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