Eine andere Geschichte der Philosophie

Das gelehrte Frauenzimmer

29:54 Minuten
Simone de Beauvoir steht in ihrer Wohnung voller Bücher und schaut in die Kamera
Sie war eine Vordenkerin des Existenzialismus und prägte die feministische Bewegung mit ihrem Hauptwerk "Das andere Geschlecht". Doch als Philosophin wurde Simone de Beauvoir lange Zeit nicht anerkannt. © Getty Images / Sygma / Jacques Pavlovsky
Von Catherine Newmark |
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Die Philosophie ist eine männlich geprägte Welt. Dabei gab es seit ihren Anfängen bedeutende Frauen. Manche von ihnen waren in ihrer eigenen Zeit weltberühmt. Warum wurden sie vergessen? Und was können wir heute von ihnen lernen?
Philosophinnen – gab es die früher überhaupt? Fällt einem eine ein? Viele denken: Ja, heutzutage da lehren auch Frauen an den Universitäten. Da kennen wir Namen und Theorien, von Hannah Arendt bis Martha Nussbaum. Aber früher? 
Historiker berichten von Platon, von Aristoteles, von Descartes, von Hegel. Und auch heute sind die Philosophie-Lexika gefüllt mit männlichen Namen: der große Augustinus, der große Immanuel Kant, der große Wittgenstein. 
Wo sind die Frauen?
Denkerinnen gibt es seit den Anfängen der Philosophie. Sie schreiben einflussreiche Werke, sie sind geschätzte Gesprächs- und Briefpartnerinnen, sie beeinflussen die intellektuellen Debatten und sie bringen eigene Themen mit ein in die Philosophie. Manche von ihnen sind in ihrer eigenen Zeit weltberühmt. 
Und trotzdem: Ihre Namen, ihre Gedanken, ihre Werke sind nicht erinnert worden. Wer kennt noch Aspasia aus Milet? Christine de Pizan? Emilie duChâtelet? 
Kupferstich von Christine de Pizan. Eine junge Frau schreibt mit Tinte und Feder auf einer Papierrolle.
Die französische Schriftstellerin und Philosophin Christine de Pizan lebte von 1365 bis 1434. © imago images / Classic Vision / agefotostock
Warum sie vergessen wurden? Schwer zu sagen. Oder ganz leicht? Hier eine 400 Jahre alte Vermutung:
„Weil die Schriftsteller auf die schönen Werke der Frauen neidisch sind, haben sie ihre hervorragenden Taten nicht erzählt, sondern sind sie mit Schweigen übergangen.“
Das schreibt die italienische Frühfeministin Lucretia Marinella im Jahr 1601 in ihrer Schrift „Adel und Vorzüglichkeit der Frauen und Fehler und Mängel der Männer“. Das ist polemisch. 
Aber auch heutige Forscherinnen sehen keine guten Gründe dafür, dass die Philosophiegeschichte Frauen immer wieder vergessen und verdrängt hat. 
Ruth Hagengruber ist Professorin für Philosophie in Paderborn und hat dort das „Zentrum für die Geschichte von Philosophinnen und Wissenschaftlerinnen“ gegründet.
„Philosophinnen gab es in allen Epochen, zu allen Zeiten. Dass diese Philosophinnen nicht Teil des Kanons sind, nie integriert wurden, sind die Relikte von Gewaltgeschichten. Und: Gewalt ist natürlich eine unmittelbare Handlung, die funktioniert sofort. Aber langfristig ist es das Wissen, das uns weiterbringt.“

Die Ignoranz männlicher Historiker

Ruth Hagengruber ist nicht die Einzige, die versucht, vergessene Denkerinnen in den Kanon zu bringen. Seit den 1980er-Jahren gibt es so etliche Bücher und Projekte, die an historische Philosophinnen erinnern. Aber das Wissen um den halbierten Kanon der Philosophie ist eigentlich noch viel älter. 
„So groß ist die Zahl der Frauen, die Schriftstellerinnen waren, dass allein mit deren Namen bereits ein umfangreiches Buch gefüllt werden könnte. Doch haben sich die meisten von ihnen auf die schönen Künste verlegt, nämlich Rhetorik, Poesie, Geschichte, Mythologie und die Regeln der stilvollen Briefe. Es hat aber auch recht viele gegeben, die sich der ernsthafteren Disziplin der Philosophie zugewandt haben.“
Das schreibt der französische Gelehrte Gilles Ménage im späten 17. Jahrhundert. Er fand die klassischen Philosophie-Geschichten unbefriedigend. Denn obwohl in den antiken Quellen viele Frauennamen auftauchen, ließen die frühen Historiker diese links liegen. Ménage durchforstet gezielt mehr als 100 klassische Werke der Philosophie. Und siehe da: 
„Ich selbst habe in den Büchern der Alten 65 Philosophinnen ausfindig gemacht“, schreibt er in seiner „Geschichte der Philosophinnen“, die er 1690 veröffentlicht. 
Wer waren diese Frauen? Klassischerweise gilt das antike Griechenland als männerdominierte Gesellschaft. Frauen waren entweder als züchtige Ehefrauen zu Hause eingeschlossen oder unterwegs als sogenannte „Hetären“, also Prostituierte – so das überlieferte Klischee.

Denkerinnen bei den Griechen

Doch wer die Schriften jener Zeit aufmerksam liest, sieht, dass das nicht stimmen kann. Schon Platon, der Urgroßvater der europäischen Philosophie, zitiert in seinem berühmten „Gastmahl“ ausgiebig eine Denkerin namens Diotima. Im Text zitiert Platon, wie sie eine Theorie des „Eros“ entwickelt – die sprichwörtliche „platonische Liebe“. 
Es ist durchaus möglich, dass Diotima nur eine literarische Figur ist. Aber keineswegs zwingend. Denn: Platon und sein Lehrer Sokrates, die Hauptfigur in fast all seinen Werken, kannten durchaus philosophierende Frauen. Zum Beispiel Aspasia aus Milet, die Lebensgefährtin des großen Staatsmannes Perikles. Sie unterrichtete sowohl Sokrates als auch ihren eigenen Mann in Rhetorik und Philosophie. Und hat damit vermutlich die Gesprächskunst des Sokrates mitgeprägt, die noch immer als Vorbild allen Philosophierens gilt. 
Und doch taucht Aspasia in fast keiner der klassischen Philosophiegeschichten auf. Zumindest nicht als Denkerin. Geführt wird sie, wenn überhaupt, als Geliebte von Perikles – oder gleich als „Hetäre“. 
Ein Kupferstich nach der Büste Aspasia. Eine junge Frau trägt ein Tuch über dem Kopf.
Die Griechin Aspasia wurde wegen ihrer Bildung im Sokrates-Kreis verehrt aber auch herabgewürdigt.© picture-alliance / akg-images
Das ist ein Muster, das sich bis weit in die Neuzeit finden wird: Weibliche Intellektuelle werden oft nur als Geliebte oder Kurtisanen erinnert. Gut möglich, dass einige von ihnen mit dem Selberdenken auch eine selbstbestimmte Sexualität verbanden und damit nicht in das Raster der „züchtigen Hausfrau“ passten. 
Hipparchia die Kynikerin etwa schlief im Freien – allein, aber auch mit ihrem Ehemann. Und setzte sich gegen Kritik selbstbewusst zur Wehr:
„Du glaubst doch nicht etwa, daß ich mir selbst übel damit gedient habe, wenn ich die Zeit, die ich auf dem Webstuhl hätte verwenden sollen, einer tüchtigen Geistesbildung zugute kommen ließ?“

Diffamierung und Unsichtbarmachung von Frauen

Doch die meisten der vielen polemischen Beschreibungen von intellektuellen Frauen als Prostituierte, die man in der Geschichte findet, dürften bloße Diffamierungen sein.
Eindeutig scheint das bei Leontion, dem „Löwchen“, einer epikureischen Philosophin im späten 4. Jahrhundert vor Christus. Sie kritisierte in einer Schrift den Aristoteles-Schüler Theophrast, ganz wie es unter Gelehrten üblich ist. Doch noch Jahrhunderte später entrüstete sich darüber der römische Philosoph Cicero:

Hat nicht … auch diese kleine Dirne, die Leontion, es gewagt, gegen Theophrast zu schreiben – gewiß, sie tat es geistreich und in gutem attischen Stil; aber trotz allem: soviel Dreistigkeit gab es im Garten Epikurs.

Cicero

Ob wirklich Dreistigkeit das Problem war? Oder nicht doch eher, dass es im Garten, in dem sich Epikur und seine Schüler trafen, deutlich mehr Frauen gab, als in anderen Philosophieschulen des antiken Athens? Schon die antiken Gegner des Epikureismus nahmen das gerne als Beleg: Diese philosophische Richtung stehe in Wahrheit für nichts als dekadente Völlerei und sexuelle Zügellosigkeit. Lauter Lüstlinge und Prostituierte!
Es ist bedauerlich, dass Leontions Kritik an Theophrast nicht erhalten ist. Überhaupt sind von den antiken Philosophinnen fast keine Schriften überliefert, man findet nur Zitate und Fragmente. Das heißt aber nicht, dass sie nichts geschrieben haben – ein sehr großer Teil der antiken griechischen Philosophie ist nur durch Erwähnungen und Zitierungen zu uns gelangt. Davon gibt es über die Jahrhunderte immer wieder sorgfältig editierte Sammlungen. In die allerdings bis heute die Frauen meist nicht mit aufgenommen werden.
Für Ruth Hagengruber ein kardinaler Fehler, der die gesamte Philosophie beschädigt – und in voraufklärerische Zeiten zurückwirft.
"Dass wir die Geschichte und die Ideen der Philosophinnen aufnehmen, würde ich vergleichen wirklich mit der Abschaffung des Donnergottes."
Mordes der Philosophin Hypatiam. Im Beisein von Männern wird eine Frau von einem Mann über eine Straße gezogen.
Die zeitgenössische Darstellung aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Mord an der Philosophin Hypatia in Alexandria.© imago images / KHARBINE-TAPABOR
Eine besondere Stellung in der Erinnerung an die antiken Philosophinnen hat Hypatia: Ende des 4. Jahrhunderts nach Christus scharte sie in Alexandrien einen großen Schülerkreis um sich. Ihre Schriften über Mathematik und Astronomie sind nicht erhalten, aber ganz vergessen wurde sie nie. Dazu war ihr Ruhm zu Lebzeiten zu groß – und ihr Tod zu schaurig: Ein christlicher Mob riss die heidnische Denkerin in Stücke.
Hypatia wurde also zum Opfer von religiösem, philosophiefeindlichem Fanatismus. Und zum Inbegriff der weiblichen Gelehrten der Geschichte, die gewaltsam zum Schweigen gebracht wurden.
„Jedes Zeitalter, das sich um Wissen bemüht, schließt Frauen ein; jedes Zeitalter, das Gewalt zu seinem Ideal erklärt, verdrängt die Frauen“, sagt Ruth Hagengruber.
Das stark religiös dominierte Mittelalter war bestimmt keine Hochzeit für Philosophinnen, aber wer genauer hinschaut, findet interessante Figuren. Da gibt es die „Schule von Helfta“, ein Zisterzienserinnen-Kloster, das einflussreiche Mystikerinnen hervorbrachte. Oder die hoch gebildete Heloise, die im 12. Jahrhundert eine Philosophie der freien Liebe entwirft! 
Holzschnitt von Hildegard von Bingen. Eine Nonne sitzt an einem Tisch und schreibt und wird dabei von anderen Nonnen beobachtet.
Hildegard von Bingen kennen viele als Natur- und Heilkundlerin, aber weniger als Philosophin. Hier ein Holzschnitt von 1524 aus "Die Legend von der seligen Jungfrawen sant Hildegard (...), Oppenheim (J.Koebel).© picture-alliance / akg-images
Vor allem aber gibt es Hildegard von Bingen, die völlig zu Unrecht vor allem mit Vollwertkost und Alternativmedizin in Verbindung gebracht wird
„Hildegard von Bingen ist bis heute nicht so richtig als Philosophin angekommen, weil man sie viel zu stark auf diese heilpflanzenkundige, mit medizinischer Sensibilität ausgestattete Person reduziert hat“, sagt die Philosophin und Schriftstellerin Ingeborg Gleichauf, die selbst eine „Geschichte der Philosophinnen“ geschrieben hat. 
In der Tat ist die Benediktiner-Äbtissin weit mehr als nur eine Empfängerin mystischer Visionen: die Universalgelehrte verfasste ein riesiges Werk, das von Kosmologie über Ethik bis hin zur Naturphilosophie reicht. Hildegard von Bingen ist damit im 12. Jahrhundert die erste deutschsprachige Philosophin überhaupt – egal welchen Geschlechts. 
Und ihr Denken, sagt Ruth Hagengruber, ist weitaus aktueller als das von männlichen Zeitgenossen wie dem Scholastiker Thomas von Aquin: 
„Ersetzt Thomas von Aquin mit Hildegard von Bingen! Sie wird unserem gegenwärtigen Verständnis von Philosophie, also einer wissenschaftlichen Auffassung von Philosophie, viel gerechter. Und sie hat ein Naturbewusstsein, das heute wirklich zeigt, wie lesenswert das ist.“

Abwertung von Frauen in der Renaissance

Dass die Frauen immer weiterdenken, und spätestens ab der Renaissance auch in immer größerer Zahl, passt vielen Männern offenkundig nicht. Fast die gesamte frühe Neuzeit über brodelt ein Streit unter Gelehrten, ob Frauen überhaupt denken sollten. Oder nur schon könnten. 
Man hat diese jahrhundertelange Debatte über Fähigkeiten und Intelligenz von Frauen später als „Querelle des femmes“, als „Streit über die Frauen“ bezeichnet. Ein Streit, der mit äußerst harten Bandagen ausgefochten wird. Manche Gelehrte begnügen sich nicht mehr damit, gelehrte Frauen als sexuell schamlos zu beschimpfen. Sondern behaupten schlicht und einfach, dass Frauen eine mindere Form von Menschen sind, die nicht intelligent genug ist zum Denken. Ein Motiv, das sich schon bei Aristoteles findet. Das aber nochmals tüchtig ausgebaut wird.
„Ob die Weiber Menschen seien“, fragt etwa ernsthaft eine besonders frauenfeindliche Schrift im Jahr 1595. Dagegen setzen sich wiederum intelligente Frauen zur Wehr:
„Wäre es üblich, die kleinen Mädchen an die Schule zu schicken, und ließe man sie die Wissenschaften erlernen, wie man es bei den Söhnen zu tun pflegt, dann würden sie genauso gut lernen und die Feinheiten aller Künste und Wissenschaften verstehen wie jene“, schreibt Christine de Pizan 1405 in ihrem „Buch von der Stadt der Frauen“ – einer der frühsten feministischen Schriften überhaupt. 
Entschieden wehren sich weltliche Denkerinnen auch gegen die traditionelle theologische Frauenfeindlichkeit. Und stellen dabei Weichen für die Neuzeit.
„Wenn wir die europäische Tradition angucken, gibt es bestimmte intellektuelle Errungenschaften, auf denen die europäischen Ideen basieren, die im Grunde von Frauen entwickelt wurden. Ganz vordringlich möchte ich hier die Bibelkritik der Frauen nennen, die ab 1400 beginnt, vor allem in Italien, aus bestimmten historischen Gründen, und die den männlichen Gott kritisiert“, sagt die Philosophin Ruth Hagengruber.

Feministinnen wehren sich gegen Frauenfeindlichkeit

Die Kritik an der Frauenfeindlichkeit der christlichen Theologie ist im frühneuzeitlichen Streit über die Frauen allgegenwärtig. Feministinnen und Feministen wehren sich gegen die Idee, dass Frauen von Natur aus sündhaft und unmoralisch seien. 
Besonders originell tut das der Gelehrte Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim. Er stellt 1529 in seiner Schrift „Adel und Vorrang des weiblichen Geschlechts“ die frauenfeindlichen Argumente einfach auf den Kopf:
„Daher nahm Christus, für unsere Welt als der niedrigste geboren, das tieferstehende männliche Geschlecht an, um durch seine Demut den sündigen Hochmut des Urvaters zu sühnen. Nicht jedoch wählte er das weibliche Geschlecht, weil es höher steht und edler ist.“  
Jenseits von solch gelehrten Polemiken: In gewisser Weise beginnen hier die Versuche, die Philosophinnen vor dem Vergessen zu retten. Spätestens ab dem 15. Jahrhundert findet man nämlich die ersten Bücher über gelehrte Frauen der Vergangenheit. Sie wollen beweisen, dass Frauen eben keineswegs unfähig sind zum Denken. Und sie belegen das historisch. 
Nur: Hören wollen viele Männer das nicht. Die Moralphilosophin Marie de Gournay verfasst um 1600 mehrere Texte, in der sie die Gleichheit von Männern und Frauen feststellt. Über ihre Erfahrung mit der männlichen Gelehrtenwelt kann sie wenig Gutes berichten:
„Selbst, wenn ich die Argumente eines Karneades hätte, es gibt keinen, der zu kümmerlich wäre, als dass er mich nicht – unter Beifall der gesamten anwesenden Gesellschaft – abweisen könnte, mit einem Lächeln, einem Kopfschütteln oder irgendeinem Scherz, sobald er gesagt hat: das ist eine Frau, die da spricht.“

Frauen nehmen sich ihren Platz

Je weiter allerdings das 17. Jahrhundert fortschreitet, desto selbstverständlicher nehmen Philosophinnen, Schriftstellerinnen und weibliche Gelehrte am Geistesleben teil. Und haben dabei aktiven Anteil an wichtigen philosophischen Entwicklungen, die wir heute meist nur mit den „großen“ männlichen Namen wie Descartes, Leibniz, Voltaire verbinden.
Elisabeth von Böhmen etwa, Prinzessin von der Pfalz im holländischen Exil, ist die intellektuelle Sparringpartnerin von René Descartes. In ihrem philosophischen Briefwechsel mit ihm kritisiert sie den Dualismus von Körper und Geist, für den Descartes berühmt ist. Sie bringt ihn schließlich dazu, seine Position zu relativieren:

Ich bitte Sie, mir mitzuteilen, wie die Seele des Menschen die Geister des Körpers veranlassen kann, willentliche Handlungen auszuführen, wenn sie nichts als eine denkende Substanz ist.

Elisabeth von Böhmen

Oder Anne Conway: die Engländerin entwickelt in ihrem 1690 veröffentlichten naturphilosophischen Hauptwerk „Lebendige Materie“ die Idee der Monade – eine einfache, unteilbare, unzerstörbare und undurchdringliche Substanz. Berühmt dafür ist allerdings ein großer männlicher Denker: der Philosoph und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz. Leibniz selbst wusste freilich noch sehr wohl, was er Conway zu verdanken hatte. 1697 schreibt er an einen Freund: 
„Meine philosophischen Ansichten nähern sich recht eng denen der verstorbenen Gräfin von Conway.“ 

Zu Lebzeiten berühmt, später missachtet

Das Vergessen von Figuren wie Anne Conway, es beginnt erst später, in der historischen Rückschau. Erst recht gilt das für Emilie du Châtelet, eine der bedeutendsten Philosophinnen und Physikerinnen des 18. Jahrhunderts.
Zu Lebzeiten ist sie berühmt: Ihre Abhandlung über die Natur des Feuers wird von der Pariser Akademie der Wissenschaften veröffentlicht; ihr Buch über Grundlagen der Physik sorgt europaweit für Aufsehen. Außerdem schreibt sie über Moralphilosophie und unterrichtet ihren Lebensgefährten, den Aufklärer Voltaire, in Physik. An Selbstbewusstsein mangelt es ihr nicht. In einem Brief an Friedrich den Großen schreibt sie: 

Ich bin ein eigener Mensch und mir allein verantwortlich für alles, was ich bin, was ich sage und was ich tue. Es mag Metaphysiker und Philosophen geben, deren Wissen größer ist als das meine; ich habe sie noch nicht kennengelernt. Doch auch sie sind nur schwache mit Fehlern behaftete Menschen, und wenn ich meine Gaben zusammenzähle, so darf ich wohl sagen, daß ich niemanden unterlegen bin.

Emilie du Châtelet

Doch so unstrittig die Verdienste Emilie du Châtelets in Physik, Mathematik und Philosophie sind – noch immer erwähnen Historiker sie oft nur beiläufig. Und gerne nicht als Denkerin, sondern als Geliebte Voltaires.
Zeitgenössische Darstellung der Philiosophin Emilie du Châtelets. Eine junge Frau mit langen Haaren und Kleid.
„Ich bin ein eigener Mensch." Zeitgenössische Darstellung der Philiosophin Emilie du Châtelets.© picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Ab dem 18. Jahrhundert wird das Denken der Philosophinnen dann zunehmend politisch. Sie fordern nicht mehr nur den Zugang zu Bildung für Frauen, sondern auch bürgerliche und politische Rechte. Denn: Das Zeitalter der Aufklärung hat sich die Freiheit auf die Fahnen geschrieben. Und doch interessieren sich die männlichen Philosophen kaum für die Freiheit von Frauen. Oder versuchen sogar aktiv, Frauen auszuschließen aus dem großen Befreiungsprojekt. Weil sie eben eine „andere Natur“ hätten.
Daran stört sich schon im Jahr 1700 die Britin Mary Astell. Scharf greift sie John Locke an, den Vordenker der modernen politischen Philosophie. Der hatte die absolute Monarchie kritisiert und die Idee eines Gesellschaftsvertrages vertreten. Allerdings mit gewaltigen blinden Flecken bei den Rechten von männlichen und weiblichen Bürgern. Mary Astell fragt süffisant:
„Wenn absolute Hoheitsgewalt im Staat nicht nötig ist, wie kommt es dann, dass sie es in der Familie sein sollte?“
Und weiter:
„Wenn alle Männer frei geboren sind, wie kommt es dann, dass alle Frauen als Sklaven geboren sind?“

Emanzipation mit der Französischen Revolution

Es ist eine Frage, die nicht mehr weggeht. Ganz besonders scharf stellt sie sich nach der Französischen Revolution. Die wälzt das gesamte alte Herrschaftssystem um – aber nicht die Herrschaft von Männern über Frauen. Olympe de Gouges reagiert darauf 1791 mit einer „Erklärung der Rechte der Frau“. Artikel um Artikel wendet sie die zwei Jahre zuvor veröffentlichte „Erklärung der Menschenrechte“ auf Frauen an – mit allen Konsequenzen:
„Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen.“
Die Revolutionäre stimmten nur dem ersten Teil des Satzes zu. Und ließen sie 1793 hinrichten. 
Undatierte Gravur: Die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges überreicht auf einem Platz, der voll mit Menschen ist, Marie-Antoinette ihre „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“.
Undatierte Gravur: Die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges (l.) überreicht Marie-Antoinette ihre „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. © imago images / KHARBINE-TAPABOR
Politisch ähnlich radikal ist zeitgleich die Engländerin MaryWollstonecraft: „Das Gottesgnadentum der Ehemänner kann hoffentlich, wie das Gottesgnadentum der Könige, in diesem aufgeklärten Zeitalter ohne Gefahr infrage gestellt werden“, schreibt sie 1792.
Und noch weiter geht ein paar Jahrzehnte später Harriet Taylor Mill 1851 in ihrer Schrift „Über Frauenemanzipation“: die Unterdrückung von Frauen gehe fast unverändert durch alle Zeiten. Was sich ändere, seien nur die Argumente, das zu rechtfertigen.

Es ist uns nicht bekannt, daß jemals eine andere dienstbar gemachte Klasse unterwiesen wurde, ihre Erniedrigung als eine Ehre anzusehen. Doch ist in diesem Argument das stille Eingeständnis enthalten, daß die angebliche Vorliebe der Frauen für ihre abhängige Stellung nur eine scheinbare ist und aus dem Mangel jeder freien Wahl hervorgeht. Denn: Wäre die Vorliebe eine natürliche, so könnte keine Notwendigkeit vorhanden sein, sie durch Gesetze zu erzwingen.

Harriet Taylor Mill

und:
„In welchem vernünftigen Sinn kann man ein Stimmrecht allgemein nennen, von dem die Hälfte der menschlichen Gattung ausgeschlossen bleibt?“
Taylor Mills radikale feministische Schrift erschien 1851 anonym. Lange Zeit wurde sie ganz selbstverständlich ihrem Mann zugeschrieben, dem liberalen Denker John Stuart Mill. Wie auch sonst alles, was in der langjährigen gemeinsamen Denkarbeit entstand. Dabei schreibt John Mill selbst im Vorwort zu seinem Klassiker „Über die Freiheit“:
„Gleich allem, was ich seit vielen Jahren geschrieben habe, ist diese Schrift eben so sehr ihr Werk als das meinige.“

Beginn der modernen Frauenbewegung

An solche Vordenkerinnen schließt die moderne Frauenbewegung an. Ab Ende des 19. Jahrhunderts kämpft sie politisch für Bildungschancen, Rechtsgleichheit und politische Teilhabe. Und ab Mitte des 20. Jahrhunderts entsteht eine eigenständige feministische Philosophie, die bis in die Gegenwart reicht.
Sie macht das zum Thema, was man bei Denkerinnen früherer Zeiten oft nur zwischen den Zeilen liest: nämlich den Ärger über die ungerechte Ordnung einer Welt, die Frauen ausschließt. Sie versucht, zu verstehen – aber auch zu verändern.
Aber auch wenn die Frauenbewegung viel bewirkt: Das Abdrängen von Frauen an den Rand oder in die Fußnoten der Philosophiegeschichte hält bis weit ins 20. Jahrhundert an. Und vielleicht bis heute?
Nehmen wir Simone de Beauvoir. Sie entwickelt zusammen mit ihrem Lebenspartner Jean-Paul Sartre eine eigene Denkrichtung, den französischen Existenzialismus. Sie veröffentlicht mit „Das andere Geschlecht“ ein epochales kulturanalytisches Werk. Sie schreibt philosophische Romane und ethische Aufsätze.

Nur die Frau an Jean-Paul Sartres Seite

Doch die Denkgeschichte führt sie lange überhaupt nicht als Philosophin, sondern nur als Schriftstellerin. Allenfalls hätte sie den großen Sartre popularisiert. Zweifel wurden gestreut, ob sie ihre Werke überhaupt selbst verfasst hätte. Und die intellektuellen Kollegen überzogen sie mit sexistischen Schmähungen:
"Man hat mir vorgeworfen, ich sei anstößig, man nannte mich unbefriedigt, eiskalt, ständig erregt, nymphomanisch und lesbisch; man sagte, ich hätte hundertmal abgetrieben und sei sogar heimlich Mutter“, schreibt sie 1963 in ihren Memoiren. Der deutsche Verlag beschreibt das Buch auf seiner Webseite noch immer so:
„Die Lebensgefährtin Jean-Paul Sartres schildert in diesen Aufzeichnungen ihre Beziehungen und ihre zahlreichen Reisen mit Sartre.“
Ein Schelm, wer jetzt zurückdenkt an die sexuellen Schmähungen von Denkerinnen in der Antike? An den frauenfeindlichen Zweifel an den intellektuellen Fähigkeiten von Philosophinnen in der Renaissance? An das Erinnern von Frauen nur als Geliebte? An die stillschweigende Übernahme ihrer Ideen von Männern?
Schwarzweißfoto der Philosophin Simone Weil. Eine junge Frau mit halblangen dunklen Haaren und einer runden Brille.
Wie bei vielen anderen Frauen stehen auch bei Simone Weil nicht ihre akademisch Qualitäten im Vordergrund, so Ingeborg Gleichauf.© imago images / Everett Collection
Beauvoir selbst wurde nie ganz vergessen, vor allem, weil ab den 1970ern die zweite Frauenbewegung ihr Werk aufgriff und weiterdachte. Andere Denkerinnen dieser nahen Vergangenheit müssen dagegen wie eh und je „wieder“ entdeckt werden. Zum Beispiel die radikale Sozialphilosophin und Metaphysikerin der 1930er-Jahre Simone Weil. Bis heute wird sie gern als hübsche Person mit einem seltsamen Drang zum Hungern vorgestellt.
„Simone Weil, ist bis heute so, wenn man den Namen fallen lässt, dann kommt spätestens im dritten, vierten Satz das Wort Magersucht“, sagt Ingeborg Gleichauf. Sie stellt in der Geschichte der Philosophinnen ganz allgemein fest, dass der Fokus oft auf den nicht-denkerischen Qualitäten der Frauen liegt.
„Diese Betrachtung des Äußeren immer noch! Es ist immer noch von Bedeutung, ob eine Denkerin diszipliniert gelebt hat, eine andere hat eine kaputte Leber, weil sie zu viel getrunken hat – und die dritte, von der würde man am liebsten immer nur die Jugendbilder zeigen, weil sie so unendlich hübsch war.“

Muss jede Generation die gleiche Erfahrung machen?

Die Frage bleibt: Dind wir heute wirklich weitergekommen? Es sind aktuell zahllose Frauen in der Philosophie tätig. Können sie nun endlich umstandslos Teil des philosophischen Kanons werden? Oder neigen wir noch immer dazu, sie nicht ganz so ernst zu nehmen und möglichst schnell wieder zu vergessen? Um sie dann erst später wieder schuldbewusst aus der Versenkung zu heben?
Oder anders gefragt: Muss jede Generation die gleiche Erfahrung machen, die Ingeborg Gleichauf für ihr Studium beschreibt?

Warum habe ich jahrelang mich mit Heidegger beschäftigt, und hab von Hannah Arendt nie was gehört? Die ganzen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. – Beauvoir, Simone Weil – warum kamen sie nicht vor?

Ingeborg Gleichauf

Es wäre schön, wenn sich das änderte. Dann bräuchte es auch keine Bücher mehr – oder Radiosendungen – über vergessene Philosophinnen. Und wir hätten ein besseres, ein realistischeres Bild der Geschichte. Noch einmal die Philosophie-Professorin Ruth Hagengruber:
„Die Philosophinnen, und das Wissen der Frauen, nicht einzugliedern, das ist, wie ich zu sagen pflege, als hätte Newton nur jeden zweiten Planeten vermessen und dann versucht, die richtige Dynamik zu berechnen. Es ist einfach falsch! Es geht nicht. Die Frauen denken, die Frauen haben Ideen, und deshalb sind diese Frauen ein Teil des Kanons.“

Autorin: Catherine Newmark
Sprecherinnen und Sprecher: Cornelia Schönwald, Julia Brabandt und Michael Mellinger
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Technik: Hermann Leppich
Redaktion: Martin Mair

Zum Weiterlesen:

- Ingeborg Gleichauf: „Wir wollen verstehen. Geschichte der Philosophinnen“ dtv, 2021

- Ruth Hagengruber (Hg.): „Klassische philosophische Texte von Frauen“, dtv, 1998

- Ursula I. Meyer, Heidemarie Bennet-Vahle (Hrsg.): „Philosophinnen Lexikon“. Aachen: ein-FACH-verlag, 1994

- Marit Rullmann: „Philosophinnen“. 2 Bände, Suhrkamp, 1998

- Mary Ellen Waithe (Hg.): „A History of Women Philosophers“. 4 Bände, Kluwer Academic Publishers, 1987-1995

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