Neu im Kino: „Das Ereignis“

Chronologie einer Abtreibung

07:58 Minuten
Eine junge und eine ältere Frau umarmen sich. Die junge hält die Augen geschlossen, die ältere blickt ausdruckslos ins Leere.
Anamaria Vartolomei (links) und Sandrine Bonnaire in einer Szene aus "Das Ereignis" von Audrey Diwan. © picture alliance / AP / IFC Films
Von Anke Leweke · 30.03.2022
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Frankreich 1963: Die Studentin Anne wird ungewollt schwanger und entschließt sich zu einer Abtreibung – damals noch völlig illegal. Im fast quadratischen 4:3-Format macht der Film Annes begrenzten Spielraum fast spürbar.

Worum geht es? 

Frankreich 1963: Anne ist eine begabte, ehrgeizige, aus bescheidenen Verhältnissen kommende Studentin. Als die junge Frau entdeckt, dass sie schwanger ist, weiß sie, dass mit einem unehelichen Kind ihre Zukunftsträume in weite Ferne rücken.
Fest entschlossen sucht sie nach Möglichkeiten, abzutreiben. Dabei ist sie völlig auf sich allein gestellt, denn ein solcher Eingriff ist zu dieser Zeit in Frankreich illegal. 

Was ist das Besondere?

In ihrem direkten Umfeld findet Anne keinen Rückhalt, auch gibt es keine Anlaufstellen für ungewollt schwangere Frauen. Doch wenigstens ist die Kamera stets bei ihr, begleitet Anne, die ständig in Bewegung ist.
Dabei übernimmt der Film den Rhythmus, die skizzenhafte Form von Annie Ernauxs gleichnamigem autobiografischen Buch. Jede Szene könnte für sich stehen: Das herablassende Verhalten eines Arztes, die Begegnung mit einer Engelmacherin, die Besuche bei ihren Eltern, die kurzen Gespräche mit der Mutter, die sie mit kritischem Blick verfolgt.

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Doch das Leben geht auch weiter: Anne tanzt auf einer Party, flirtet. Immer stärker spürt sie jedoch, dass sie nicht dazu gehört und vielleicht auch nie dazu gehören wird.
Der Film ist im fast quadratischen 4:3 Format aufgenommen, so wird Annes begrenzter Spielraum im Bild spürbar. Auch übernimmt die Kamera den präzisen und schonungslosen Blick der Schriftstellerin Ernaux für Details, um uns immer tiefer in Annes Seelenzustand hineinzuziehen. Aus Verzweiflung wird zunehmende Entschlossenheit. 

Fazit

Auf den Filmfestspielen in Venedig im vergangenen Jahr wurde „Das Ereignis“ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Begeistert erklärte der südkoreanische Jury-Präsident Bong Jong-ho bei der Verleihung, dass alle Jurymitglieder diesen Film geliebt hätten.
Tatsächlich gibt es eine Verwandtschaft zwischen den Genrefilmen des Südkoreaners und Audrey Diwans Chronik einer Abtreibung. Beide sezieren Klassenverhältnisse, zeigen alltägliche Demütigungen, Stigmatisierungen und schlagen sich auf die Seite der Männer und Frauen, die für ihre Würde und für ihre Zukunft kämpfen.

„Das Ereignis“
Frankreich 2021
Regie: Audrey Diwan
Mit: Anamaria Vartolomei, Sandrine Bonnaire, Anna Mouglalis, Pio Marmaï u.a.
Länge: 100 Minuten

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