Annie Ernaux: "Das andere Mädchen"

"Du bist gestorben, damit ich schreibe"

05:32 Minuten
Das Buchcover zu "Das andere Mädchen" von Annie Ernaux
© Suhrkamp Verlag

Annie Ernaux

Aus dem Französischen von Sonja Finck

Das andere MädchenSuhrkamp Verlag, Berlin 2022

80 Seiten

18,00 Euro

Von Hans von Trotha |
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2011 verfasste Annie Ernaux einen Brief an ihre verstorbene Schwester. Ohne deren frühen Tod wäre die heutige Nobelpreisträgerin wohl nicht geboren worden. Ein anrührender Text, der ins Innere der Ernaux'schen Poetik der Selbsterkenntnis führt.
„Kinder sind dazu verdammt, alles zu glauben“: Dieses Zitat der Schriftstellerin Flannery O´Connor hat Annie Ernaux 2011 ihrem kaum 70 Seiten langen Text vorangestellt, der unter dem Titel "Das andere Mädchen" nun auch auf Deutsch vorliegt. Er drängte sich der Autorin offenbar nach "Der Platz" (im Original 1985) auf, einer ihrer frühen autofiktionalen Erkundungen.
Die Weitung der Selbstbeobachtung auf die Familie hatte eine dramatisch abgründige Leerstelle sichtbar werden lassen, um die Schreiben und Existenz von Annie Ernaux kreisten: eine verheimlichte, im Kindesalter verstorbene Schwester. Einmal markiert, bleibt der manischen Selbsterkunderin gar nichts anderes übrig, als die Leerstelle zu vermessen.
Sie wählt dafür die Form eines Briefs an die Verstorbene, wohl auch in der Ahnung, dass diese literarische Arbeit gewohnte Dimensionen sprengen würde: „Du stehst außerhalb der Sprache von Empfindungen und Gefühlen. Du bist die Antisprache.“

Spurensuche

Der Gegenstand des Briefs erreicht das Bewusstsein seiner Autorin als Schock:

„Erst nachdem ich 'Der Platz' geschrieben hatte, brachte ich diese beiden Tatsachen, die bis dahin in meinem Kopf immer getrennt voneinander existiert hatten, zusammen – deinen Tod und die ökonomische Notwendigkeit, nur ein einziges Kind zu haben - , erst da schlug die Wirklichkeit ein. Ich wurde geboren, weil Du gestorben warst.“

Annie Ernaux: "Das andere Mädchen"

Der Text beginnt mit der Beschreibung einer Fotografie, die wir allerdings nicht zu sehen bekommen: „Als Kind glaubte ich, ich wäre das Kind auf dem Foto. Ich bin es aber nicht, du bist es.“ Immer wieder werden Fotografien herangezogen, Dokumente einer Beglaubigung, die mehr Evidenz zu haben scheint als das Erzählen, das der Schreibenden bald selbst vorkommt, als würde sie „einen Film entwickeln, der sechzig Jahre im Schrank gelegen hatte.“

Annäherung an eine Leerstelle

Zum zentralen Moment der Geschichte hält sie fest: „Die Szene der Erzählung ist so unveränderlich wie ein Foto.“
Gemeint ist eine Szene im August 1950. Die Mutter erwähnt in einem Gespräch die tote Schwester. Das Kind hört mit, fühlt sich zum Schweigen verdammt. Zuzugeben, dass es weiß, was es nun weiß, hätte „eine außergewöhnliche Strafe nach sich gezogen“, die sie mit einem Zitat aus Kafkas "Brief an den Vater" illustriert.
Den zitiert sie auf diese Weise als Modell für eine literarische Form in den Text, die es der geübten Selbstinspekteurin erlaubt, ihrem Sujet besonders nah zu kommen und dabei ihr erzählerisches Verfahren in einer Art Essenz offenzulegen, das um das Erkenntnis- und Stilmittel der Identifikation kreist. „ICH SEHE DICH AN MEINER STELLE IM BETT LIEGEN, UND ICH BIN DIEJENIGE, DIE STIRBT.“
In Großbuchstaben steht dieser Satz in einem literarischen Raum, der sich ständig zu verflüchtigen droht: „Du bist eine leere Form, die nicht durch Schreiben zu füllen ist.“
Indem ihr genau das doch gelingt, stilisiert Annie Ernaux den Brief einer Lebenden an eine Tote, der sie ihr Leben verdankt, zur Keimzelle, zu einer Art Ur-Szene ihres inzwischen nobelpreisgekrönten Werks: „Ich schreibe nicht, weil Du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe.“ Dem beizuwohnen, ist berührend und intensiv.
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