Daniel Mendelsohn: "Eine Odyssee"

Erwarte das Unerwartete!

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Das Cover von Mendelsohns Buch mit dem Schiff von Odysseus. Im Hintergrund befindet sich ein Bild mit einem Schiff mit Odysseus.
Die Beschäftigung mit den Irrfahrten des Odysseus führt Vater und Sohn wieder zueinander. © imago/UIG/ Philippe Lissac Godong
Von Eva Hepper · 02.04.2019
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Der 81-jährige Jay Mendelsohn besucht überraschend das Uni-Seminar seines Sohnes zu Homers "Odyssee". Das führt zu einer unerwarteten Annäherung und einer Reise auf den Spuren des Odysseus. Eine anrührende Vater-Sohn-Geschichte, frei von Kitsch.
Eigentlich hätte Daniel Mendelsohn vorbereitet sein müssen. Schließlich hatte der Altphilologe viele Male in seinem Leben, als Student und später auch als Dozent, die "Odyssee" gelesen. Er war also bestens vertraut mit dieser neben der Ilias größten Geschichte der abendländischen Literatur und ihren überraschenden Wendungen und den plötzlichen Kalamitäten, in die ihre Helden geraten. "Erwarte das Unerwartete!" schien ihm daher stets geboten.
Als ihn aber sein 81-jähriger Vater Jay unvermittelt fragte, ob er an seinem College-Seminar über das Homer-Epos teilnehmen könnte, war Mendelsohn völlig verblüfft. Er konnte nicht nein sagen. Zum Glück! Denn was folgte, war eine besonders intensive Zeit, eine gemeinsame Reise von Vater und Sohn, eine unerwartete Annäherung und nicht zuletzt eines der schönsten und anrührenden Bücher dieses Frühjahrs.

Auffächern der eigenen Familiengeschichte

"Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich" beginnt mit der klassischen Sage und dem Seminar, das Daniel Mendelsohn am renommierten Bard College im Bundesstaat New York hält. Von der ersten Stunde an platzt sein Vater, der versprochen hatte, sich zurückzuhalten, mit starken Kommentaren heraus.
Dass Odysseus weint, Schwächen zeigt, lügt und täuscht, wird ihn während der kommenden Wochen immer wieder empören. Daniel Mendelsohn weiß hinreißend zu beschreiben, wie sich sein mürrischer Vater, als ehemaliger Mathematiker ein Mann, der es exakt, knapp und klar liebt, mit dem Epos, den über 60 Jahre jüngeren (Mit-)Studierenden und nicht zuletzt mit ihm, dem Sohn und Schöngeist, auseinandersetzt.
Tatsächlich wird das Seminar zum Wendepunkt in einer Vater-Sohn-Beziehung, um die es nicht immer gut bestellt war. Davon erzählt Mendelsohn in einem parallel zum Seminar laufenden Handlungsstrang, der im Spiegel der "Odyssee" die eigene Familiengeschichte auffächert. Und so geht es nicht nur im Epos, sondern auch im ganz Persönlichen um Fragen der Identität, der Emanzipation und der Heimatsuche beziehungsweise des Zueinanderfindens.

Erwarte das Unerwartete!

Im vielleicht schönsten Teil des Buches unternehmen Jay und Daniel Mendelsohn schließlich eine Mittelmeer-Kreuzfahrt, die dem Irrweg des mythischen Helden folgt. Anders als Odysseus erreichen sie ihr Ziel Ithaka zwar nicht. Doch wenn sie enttäuscht durch das staubige Troja wandeln und der vermeintlich nüchtern-sachlich denkende Vater anmerkt, das Gedicht sei "realer", oder wenn sie sich Hand in Hand in die Höhle der Kalypso wagen, wird klar, dass die beiden in viel umfassenderem Sinne unterwegs waren und statt des griechischen Hafens ihren eigenen, gemeinsamen Ankerplatz gefunden haben.
Was für ein hinreißendes Buch! Daniel Mendelsohn führt ein in die "Odyssee" und macht große Lust, das Epos zu lesen. Er erzählt frei von Kitsch eine anrührende Vater-Sohn-Geschichte und setzt dem mittlerweile verstorbenen Jay Mendelsohn ein beeindruckendes Denkmal.
Und Mendelsohn zeigt auch, dass große Literatur vom Leben handelt, und "realer" werden kann als jede mathematische Gleichung. Erwarte das Unerwartete!

Daniel Mendelsohn: "Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich"
Siedler Verlag, München 2019
352 Seiten, 26 Euro

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