Neue "Odyssee" bei den Ruhrfestspielen

Odysseus als Politiker, der Grenzen sichert

Das Schild "Passkontrolle" am Flughafen
Odysseus als Reisender der Gegenwart: In "Die europäische Wildnis, eine Odyssee" ist Odysseus ein Reisender, der sich hauptberuflich nicht an Orten, sondern an Zwischenorten aufhält. © imago / Jochen Tack
Von Christiane Enkeler · 11.05.2016
Flughafen, Krankenhaus, Zugabteil oder Büro: Die Helden von "Die europäische Wildnis, eine Odyssee" sind an Zwischenorten auf der Suche nach einem besseren Leben. Sascha Hargesheimers moderne Version des antiken Epos wurde bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführt.
Viel von den Odysseus-Abenteuern steckt nicht mehr in der "Odyssee", die Autor Sascha Hargesheimer frisch geschrieben hat und die jetzt bei den Ruhrfestspielen zur Uraufführung kam: ein paar Sirenen, die die Zukunft aus der Vergangenheit heraus prophezeien. Ein Kyklop, der in der Ferne auf Ölfässern sitzt. Odysseus ist hier ein schlauer Fuchs, ein Politiker, der seine Grenzen sichert und sich gegen Eindringlinge wehrt – aber vor allem ein Reisender, der sich hauptberuflich nicht an Orten, sondern an Zwischenorten aufhält – ein sehr heutiger Zustand.

Die Realität hat Risse

"Die europäische Wildnis, eine Odyssee" spielt am Flughafen und im Krankenhaus, im Zug und im Büro als dem Wartesaal zum großen Durchbruch, der nicht mehr kommen wird. Regisseurin Katrin Plötner verteilt die flottierenden Textabschnitte mit ihrem Team auf fünf Figuren, darunter eine Journalistin, die im fensterlosen Raum fürs Ressort "Reise und Panorama" knackige Vierzeiler verfasst. Oder eine Touristin, die es auf der Suche nach Liebe in die Fremde verschlägt und die dort sehr enttäuscht wird. Ein Politiker, der wie Odysseus von einem Ort zum anderen fliegt, während seine Frau zu Hause... nein, eigentlich schon nicht mehr wartet.
"Heimat", das ist bei Sascha Hargesheimer schließlich der andere Mensch, bei dem man in irgendeinem Sinne "ankommen" möchte und dann bleiben. Oder wenigstens bei sich selbst bleiben und die Risse zwischen verschiedenen Realitäten aushalten.
Der Politiker reist an einen Strand voller Toter in Leichensäcken. Er ist aber nur für das Bedauern dreier Landsleute zuständig. Die knirschende Grenzziehung dieser Zuständigkeit zwischen den Menschen, die auf der Flucht umkommen, und denen, die trotz Unwetterwarnung offenbar im Urlaub auf See stechen, lässt ihn vor laufender Kamera in Tränen ausbrechen.

Wenn Überforderung und Erschöpfung in Hass umkippen

Das Fremde, mit dem die Bewohner der "europäische Wildnis" konfrontiert werden, findet sich in vielen kleinen Spiegelungen: wenn die Touristin unterwegs dem Charme und ihrer eigenen Idealisierung eines Einheimischen unterliegt. Wenn Überforderung und Erschöpfung in Hass gegen deren fremde Mitpatientin umkippen, weil der am Krankenbett seiner Mutter sitzende Sohn nicht mehr für sie tun kann. Wie Hysterie ansteckt, weil ein junger Mann mit Sporttasche in einer Bahn sitzt, das sehen wir, ebenso wie die Angst als etwas, wofür man nichts kann, wie ein Widerhall des "besorgten Bürgers" klingt, der ja nichts Böses will.
Ein ständiges, untergründiges Misstrauen, Unterstellen, Pauschalisieren kennzeichnet diese Europäer auf der Suche nach einem besseren Leben.

Episoden mit melancholischer Leichtigkeit

Hier schrammt der Text mehr am Klischee entlang als die Inszenierung. Regisseurin Katrin Plötner setzt sorgfältig ein Prinzip um, das Autor Sascha Hargesheimer schon in seinem Text angelegt hat, der keinen einzigen Absatz einer festen Figur vorschreibt. Damit steht formal zur Disposition, worum es hier thematisch geht: Identitäten. Grenz-Ziehungen. Die Regie hat klare Entscheidungen getroffen, welche Figur welche Geschichte erlebt, wie sich Episoden entwickeln und wie sie zu roten Fäden für kleine Biografie-Miniaturen führen.
Aber gleichzeitig überspringt das Spiel dieses Prinzip auch: Von einer Figur wird erzählt, eine andere übernimmt die wörtliche Rede, wieder eine andere das Spiel. Manchmal macht die erzählte Figur auch einfach nicht, was von ihr erzählt wird. Und manchmal begreift sie erst langsam die Zuschreibung, findet sich hinein und "improvisiert" (sichtlich sorgfältig geprobt). Dabei entsteht die melancholische Leichtigkeit eines Episodenhaften, das der Text bereits angelegt hat.
Ein netter, leichter Abend ist entstanden. Mit einem untergründigen, alptraumhaften Grollen.

Die europäische Wildnis, eine Odyssee
Von Sascha Hargesheimer
Regie: Katrin Plötner
Ruhrfestspiele Recklinghausen, Kleines Theater

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