Dana Spiotta: "Unberechenbar"
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Dana Spiotta
Aus dem Amerikanischen von Andrea O’Brien
UnberechenbarKjona, München 2023352 Seiten
25,00 Euro
Frauen in den Wechseljahren kommen in der Literatur selten vor: Dana Spiotta erzählt von einer unberechenbaren, auch verletzenden und anstrengenden Heldin, die aus ihrem Leben ausbricht. Wer von ihr liest, muss Widersprüche aushalten.
Die 53-jährige Sam Raymond kann nicht schlafen. Jede Nacht liegt sie wach, heimgesucht von Hitzewallungen und endlosen Gedankenströmen. Typische Symptome der Perimenopause, der sogenannten Wechseljahre – das weiß sie.
Allerdings hat sie auch ausreichend Anlass für Sorgen: Es ist das Jahr 2017, Trump ist Präsident, schwarze Teenager werden von der Polizei erschossen. Sam weiß, es muss sich etwas ändern – und erkennt, dass sie als weiße obere Mittelklassefrau in Syracuse, New York eine Verantwortung für den Zustand der Gesellschaft trägt. Sie ist privilegiert und wird zugleich benachteiligt, weil sie eine mittelalte Frau ist.
Das ist nur einer der Widersprüche, mit denen Sam in Dana Spiottas „Unberechenbar“ zurechtkommen muss.
Ausbruch aus dem alten Leben
Ihr Ausweg: Sie kauft ein baufälliges Haus in einem heruntergekommenen Viertel von Syracuse. Erst danach wird ihr klar, dass sie dort alleine einziehen wird. Ohne ihren Ehemann und ihre 16-jährige Tochter Ally.
Ein Mensch, der sein altes Leben verlässt, ist ein universelles literarisches Motiv, das Spiotta mit ihrer eigenwilligen und bemerkenswerten Protagonistin eng an die Realität des Jahres 2017 bindet, ohne dass die Themen – Rassismus, Sexismus, Trump – diesen Roman übernehmen.
Sams Überlegungen zur Gegenwart verbinden sich mit bisweilen zu ausführlichen Passagen zur Geschichte von Syracuse, aber insbesondere die Architektur erweist sich als gelungene Reflexionsfläche: Es geht um das Überdauern, um den Verfall von Gebäuden und von (weiblichen) Körpern, um die Struktur von Häusern, Leben und Gesellschaften, um die Frage, was ein Haus und eine Gemeinde, einen Körper und eine Identität zusammenhält.
Der Blick auf Gesellschaft und Familie
Dazu greift Spiotta viele gegenwärtige Diskurse auf: über Selbstoptimierung – die Sam „geradezu obszön“ findet, obwohl sie selbst über sich nachdenkt –, über Misogynie. Sam bewertet konstant andere Frauen – Frauen, die vor dem Alter kapitulieren und sich gehen lassen. Oder – noch schlimmer! – versuchen, das Alter auf Yogamatten und mit Balayage-Strähnen aufzuhalten. Sie weiß, dass das internalisierte Misogynie ist. Aber nur weil man sich etwas bewusst ist, hat man es noch nicht geändert.
Unterbrochen werden Sams Kapitel durch kurze Teile aus der Perspektive ihrer Tochter Ally. Sie korrigieren und ergänzen das Bild von Sam und ihrer fast erdrückenden Mutterliebe, lassen mühelos und mit wenigen Worten aber auch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen ihnen erkennen.
Eine unberechenbare Hauptfigur
Zudem gibt es Auszüge aus dem Tagebuch einer fiktiven Feministin aus dem 19. Jahrhundert, die ebenfalls über Körper, Sexualität und mögliche Freiheiten nachgedacht hat, die für das Frauenwahlrecht und Ende der Sklaverei gekämpft hat, zugleich aber eine Vorreiterin der Eugenik war. Widersprüche auch dort – wenngleich sie ein bisschen zu oberflächlich abgehandelt werden.
Protagonistinnen in den 50ern erobern langsam die Literatur. Trotz aller biografischen Nähe zwischen Dana Spiotta und Sam Raymond – auch die Autorin ist in ihren 50ern, lebt in Syracuse, ist verheiratet und hat eine Tochter – ist dies ein Roman und ist die Hauptfigur nicht auf Identifikation angelegt.
Die chaotische, verletzende, anstrengende, sehr eigene und „unberechenbare“ Sam Raymond ist es aber, die den Reiz dieses Romans ausmacht. Denn sie macht mutig weiter auf ihrem Weg, von dem sie nicht weiß, wohin er sie führen wird.