Jüdische Hachschara-Bewegung

Fit für den Kibbuz

11:35 Minuten
Eine junge Frau füttert Hühner auf dem Feld.
Arbeit im Hühnerstall und auf den Feldern gehörte ebenso zur Hachschara-Ausbildung wie gemeinsames Hebräisch lernen. © akg images / Abraham Pisarek
Von Silke Nora Kehl · 14.02.2020
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Tausende jüdische Jugendliche wanderten in den 1920er und 1930er Jahren nach Palästina aus, um im Kibbuz zu arbeiten. Zuvor hatten sie sich gewissenhaft auf die neue Aufgabe vorbereitet – in Deutschland gab es mehr als 30 Ausbildungsstätten.
Tomaten ernten und Hühner füttern, Ställe ausmisten und Felder pflügen – mit einer landwirtschaftlichen Ausbildung bereiteten sich in den 1930er Jahren jüdische Jugendliche auf die Auswanderung nach Erez Israel vor: also in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina.
Auf Hebräisch wurde dieses vorbereitende Training "Hachschara" genannt, und es gab in ganz Deutschland mehr als 30 Ausbildungsstätten. Eine davon war das Landwerk Ahrensdorf in Brandenburg. Von 1936 bis 1938 machte Norbert Mizna hier seine Ausbildung:
"Ich kam als 15-Jähriger aus Leipzig zur Hachschara. Wir waren ja alle fast noch Kinder. In Ahrensdorf war alles gut organisiert durch Hans Winter, unseren Leiter. Es ging auch recht militärisch zu, mit regelmäßigen Appellen. Im Kuhstall musste ich arbeiten und dabei habe ich auch das Melken gelernt. Das war aufregend. Auch mit den Pferden habe ich gern zu tun gehabt. Ich bin mit ihnen auf die Felder von Ahrensdorfer Bauern zum Schneiden von Grünfutter gefahren. Auch Heu habe ich gemacht. Bei den Bauern mussten wir mit der Sense mähen können, das war recht schwer."

Hühnerstall und Ziehharmonika

Um 5 Uhr 30 wurden die Jugendlichen im Sommer geweckt, im Winter um 6 Uhr 30. Sie begannen ihren Tag mit Turnübungen auf dem Hof oder einem Dauerlauf durch Wiesen und Felder. Nach dem Frühstück mussten alle zum Appell, dann begann ihr Arbeitstag.
Abends lernten sie gemeinsam Hebräisch. Auf Disziplin wurde in den Hachschara-Stätten viel Wert gelegt – für die Auswanderung nach Palästina konnten nur die Besten ausgewählt werden. Norbert Mizna schaffte es: Er verließ Ahrensdorf im August 1938. Kurze Zeit später traf die 14-jährige Eva Mittler aus Wien dort ein:
"Ich war eingeteilt zur Arbeit im Hühnerstall und liebte die Selbständigkeit und Verantwortung, die man mir zutraute. Auch sonst machte ich viele Arbeiten, lernte Kochen und ein wenig Nähen, arbeitete am Tomatenberg mit der Lore. Wir zogen uns mehrere Schichten von Kleidern und Pullovern an, um richtig zu schwitzen, wie es eben in Palästina sein wird. Das war die Vorbereitung für das zukünftige, heiße Land. Speziell liebten wir die gut organisierten Abende. Wir sangen mit Klaus Glücksmann, der später ein guter Musiker in Israel wurde. In Ahrensdorf spielte er auf der Ziehharmonika und lehrte uns hebräische Lieder."
Jugendliche arbeiten auf einem Feld.
In den Hachschara-Stätten wurde viel Wert auf Disziplin gelegt. Nur die Besten schafften es nach Palästina.© akg images / Abraham Pisarek
Eva Mittler gehörte – wie auch Norbert Mizna – dem jüdischen Jugendbund Makkabi Hazair an, der die Ausbildung im Landwerk Ahrensdorf organisierte. Denn die Ursprünge der Hachschara lagen in der jüdischen Jugendbewegung der 1910er und 20er Jahre. Geprägt von Werten der Pfadfinder und Bewegungen wie dem Wandervogel wandten sich viele Jugendliche dem einfachen Leben in der Natur, der Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, dem Zelten und der Lagerfeuerromantik zu.
Professorin Ulrike Pilarczyk von der Technischen Universität Braunschweig leitet ein DFG-Projekt zum Thema "nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung".

Die Landwirtschaft im Mittelpunkt

"Diese Jugendbewegung, zu der auch die erste Jugendbewegung Blau-Weiß gehört, kurz vorm Ersten Weltkrieg, die sehen 1917 mit der Balfour-Erklärung, wo in Aussicht gestellt wird, dass es in dem Erez Israel, dem damaligen Palästina, eine nationale Heimstätte für Juden geben könnte, als ihr Ziel, dorthin zu gehen und die jüdische Gemeinschaft in Palästina wiederherzustellen, das Land zu besiedeln, urbar zu machen – das ist ein ganz wichtiger Begriff in dieser Zeit, und deshalb ist der Hauptkern der Hachschara, sich darauf vorzubereiten, die landwirtschaftliche Arbeit."
Der erwähnte erste jüdische Wanderbund in Deutschland, Blau-Weiß, gründete sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Danach entstanden viele weitere jüdische Jugendbünde, zionistisch geprägt waren anfangs nur wenige: Und dies auch nach der Erklärung des britischen Außenministers James Balfour, der im Jahr 1917 der zionistischen Bewegung seine Unterstützung zusagte.
Jugendliche lesen an einem Tisch im Gemeinschaftsraum.
Der Tag begann für die Jugendlichen mit Frühsport, abends wurde gemeinsam gelesen oder Hebräisch gelernt.© akg images / Abraham Pisarek
In den 20er Jahren sahen die meisten Jugendlichen ihre Zukunft noch in Deutschland. Zur großen Bewegung wurde die Hachschara erst ab 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten.
Doch wie sicher waren die jüdischen Jugendlichen auf den Bauernhöfen und Landgütern da überhaupt noch?
"Auf jeden Fall waren sie geschützt, denn die Hachschara-Stätten sind ja außerhalb der Städte gewesen, also die sind dort behütet gewesen, man hat auf sie aufgepasst, aber 1938 wurden eben zum Beispiel Urfeld in Bonn gestürmt, Fenster eingeschlagen, die wurden verprügelt, und es gibt da einige Vorfälle, zum Beispiel Groß-Breesen, da wurden die Praktikanten, die dort waren, nach Buchenwald gebracht", berichtet Ulrike Pilarczyk.
Das war in der Pogromnacht am 9. November. Grundsätzlich wurde die Hachschara jedoch von der Gestapo toleriert, und die Auswanderung nach Palästina von den nationalsozialistischen Behörden zunächst noch gefördert. Während jüdische Kinder und Heranwachsende an öffentlichen Schulen erst diskriminiert und schließlich komplett von staatlichen Bildungseinrichtungen ausgeschlossen wurden, bot die Hachschara-Bewegung ihnen Halt und eine Zukunftsperspektive. Ihr Ziel war das Leben im Kibbuz. Ulrike Pilarczyk analysiert Fotos, die 1935 in der "Jüdischen Rundschau" gezeigt wurden:

"Kräftige, fröhliche Menschen"

"Das sind zionistische Fotografien aus Palästina von einem deutsch-ungarischen Fotografen, der heißt Zoltan Kluger. Das sind natürlich die Modelle und das sind die Helden: Kräftige, fröhliche Menschen, die unter der Sonne zusammenlaufen und singen und auf dem Rücken diese landwirtschaftlichen Geräte haben, den Rechen und die Forke. Das wollen sie sein. Sie wollen nicht die Kinder sein, die in der Schule gehänselt werden und verhöhnt werden, mit diesem Ziel, mit dieser Vorstellung: Da will ich hin, das werde ich sein, haben sie Einiges erdulden können."
Eine junge Frau füllt Becher mit Hühnerfutter auf.
Die Vision vom Kibbuz konnte sich nicht für alle Jugendlichen erfüllen.© akg images / Abraham Pisarek
Die Vision vom Leben im Kibbuz konnte sich aber nicht für alle Jugendlichen erfüllen. Denn die Zahl der Einwanderungs-Zertifikate für Palästina war begrenzt. Vergeben wurden diese von der britischen Mandatsmacht. Und die jüdischen Organisationen in Deutschland standen immer wieder vor der schweren Entscheidung: Wer bekommt ein Zertifikat – und wer muss in Deutschland bleiben?
"Diese Auswahl ging danach: Wer hat am besten gearbeitet, wer passt am besten in die Gemeinschaft? Mir hat ein alter Herr in Israel in einem Altersheim, der an diesen Auswahlgesprächen beteiligt war, unter Tränen gesagt: 'Wir hatten da ein Mädchen und die hatte eine verkrüppelte rechte Hand und ich wusste erst später, was das bedeutet, dass wir ihr nun kein Zertifikat geben konnten.'"
1941 wurde die Hachschara-Bewegung von den Nazis gewaltsam beendet. Die Jugendlichen, die bis dahin weder nach Palästina noch in ein anderes Land hatten auswandern können, mussten erst Zwangsarbeit leisten und wurden später in Konzentrationslager deportiert. Von ihnen haben nur wenige überlebt. Ganz genau weiß man nicht, wie viele junge Menschen durch die Hachschara und die 1932 von Recha Freier gegründete Organisation Jugend-Alija gerettet werden konnten. Ulrike Pilarczyk und ihr Forschungs-Team gehen von weit über 10.000 aus.

Großes Rettungsprojekt

Miriam Szamet von der Jerusalemer Hebrew University arbeitet im Team mit. Sie beleuchtet die Einwanderung der Jugendlichen aus israelischer Perspektive: "Die Einwanderung war natürlich in erster Linie und vor allem ein Rettungsprojekt, aber sie war auch ein großes Erziehungsprojekt."
Sehr viele der Jugendlichen, die es aus Deutschland nach Palästina geschafft hatten, begannen dort im Kibbuz zu arbeiten. Und diese neue, junge Generation sollte zu zionistischen Pionieren herangezogen werden. Das begann mit der Sprache: Zwar war in den Hachschara-Stätten Iwrit unterrichtet worden, aber wirklich flüssig beherrschte es kaum jemand.
Ein junger Mann schaut im Gemeinschaftsschlafraum aus dem Fenster.
1941 wurde die Hachschara-Bewegung von den Nazis gewaltsam beendet.© akg images / Abraham Pisarek
"Hebräisch war nicht einfach irgendeine Sprache, es war die Sprache der neuen Nation. Es war also auch ein ideologisches Gebot, Hebräisch zu beherrschen. So sehr, dass es im Kibbuz manchmal verboten war, Deutsch zu sprechen, oder Jiddisch oder Russisch."
Neben Briefen und Tagebüchern analysiert Miriam Szamet vor allem Journale, die die Jugendlichen im Kibbuz schrieben: erst auf Deutsch, später auf Hebräisch, manchmal auch in einem Mix aus beiden Sprachen. Viele junge Einwanderer stammten aus bürgerlichen Familien – und mussten sich an die sozialistischen Strukturen im Kibbuz erst gewöhnen. Einige klagten darüber, ihre aus der Heimat geretteten Bücher ans Kollektiv abgeben zu müssen – oder den von der Großmutter extra für sie gestrickten Pullover.
"Es gibt auch ein witziges Beispiel, in dem es um Manieren geht. Ein junger Mann schrieb, er sei dafür gerügt worden, dass er andauernd 'Entschuldigung', 'Danke' oder 'Dürfte ich?' sagte. Es galt als zu bourgeois und damit als unpassend für den Kibbuz. Und so schrieb er, dass er eines Tages seiner Kameradin Mina auf den Fuß trat und sich ausdrücklich nicht bei ihr entschuldigte, weil er eben nicht zu bourgeois sein wollte. Und dann habe er den ganzen Tag darüber nachgedacht: 'Oh, was wird sie jetzt von mir denken? Ich habe einen Fehler gemacht, was soll ich tun?'"

Schock in der Wüste

Eine große Umstellung bedeutete dieses neue Leben auch für Eva Mittler. Sie kam 1939 aus Ahrensdorf nach Palästina und nahm dort den Vornamen Chawa an. Chawa: die Lebendige.
Vor der Fährüberfahrt verlor sie in Triest den Koffer mit all ihren Kleidern und dem selbst geschnitzten Geschenk eines Ahrensdorfer Verehrers. In Palästina angekommen, machte ihr die Hitze zu schaffen. Ausgerechnet in der Wüste, am Toten Meer sollte sie leben.
"Der Schock meines Lebens war die Ankunft in Massada. Nach langer Fahrt von Haifa mit dem kleinen schwülen Autobus, in dem es immer heißer wurde, je mehr wir uns dem Jordantal näherten, gelangten wir an eine trockene Ortschaft, ohne Baum und ohne Gras. Als ich meine Beschwerde ausdrückte, warum wir gerade an einem so schattenlosen, öden Ort Pause machen müssten, kam die schockierende Antwort: "Das ist keineswegs Pause, wir sind angelangt in Massada. Da bleiben wir jetzt erstmal für die nächsten zwei Jahre." Ahrensdorf war Vergangenheit!
Chawa Liftschitz, wie sie nach ihrer Heirat hieß, fand in Israel dann doch noch ihr Glück: Sie bekam mehrere Kinder, Enkel und Urenkel. Als Dozentin unterrichtete sie Kunsthandwerk und Puppentheater, später studierte und lehrte sie Informatik.
Ihre Erinnerungen finden sich wie die Norbert Miznas in einem Buch aus dem Nachlass von Ruth und Herbert Fiedler. Das Ehepaar aus Brandenburg machte in den 90er Jahren zahlreiche ehemalige Ahrensdorfer in Israel ausfindig und interviewte sie. Ihr Nachlass befindet sich heute im Kreisarchiv Teltow-Fläming in Luckenwalde.
Was Chawa Lifschitz in Israel übrigens besonders gefiel, war ihr Umzug von Massada nach Haifa – ans Mittelmeer.
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