Corona-Maßnahmen

Jetzt sind die Parlamente dran

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Luftaufnahme der Sitze im Bundestag, während der 154. Sitzung.
Es ist höchste Zeit, dass die Parlamente darüber debattieren, ob die "öffentliche Gesundheit" im Augenblick vor dem Kollaps steht oder nicht, sagt Susanne Gaschke. © imago images/Jens Schicke
Ein Kommentar von Susanne Gaschke · 21.10.2020
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Seit Ende März sind die Parlamente nicht an den Maßnahmen gegen Covid-19 beteiligt. Die Regierung hat seitdem Sonderbefugnisse. Immer mehr kritisieren das. Und auch die Publizistin Susanne Gaschke meint, so geht es nicht weiter.
Jetzt geht es ans Eingemachte. Während die Kanzlerin mit Corona-Unheil droht und dem Souverän, das heißt: Den Bürgerinnen und Bürgern, rät, sicherheitshalber zu Hause zu bleiben, bereitet Gesundheitsminister Jens Spahn ein Gesetz vor, dass ihm seine gegenwärtigen Sonderbefugnisse dauerhaft sichern soll.
Es würde ihm laut Entwurf die Einschränkung von Grundrechten per Verordnung schon dann erlauben, wenn, Zitat, "dies zum Schutz der Bevölkerung vor einer Gefährdung durch schwerwiegende übertragbare Krankheiten erforderlich ist". Außerdem würden massive Eingriffe in die Reisefreiheit möglich. Weder ist erkennbar, wer die Erforderlichkeit solcher Verordnungen beschließen soll, noch, von welchen "schwerwiegenden Krankheiten" da überhaupt die Rede ist.

Gesundheitsminister will dauerhaft Sonderbefugnisse

Man muss befürchten, dass die Befugnisse des Parlaments mit diesem Gesetz weiter beschnitten werden. Bisher ist es nämlich der Bundestag selbst, der nach dem Infektionsschutzgesetz die sogenannte "epidemische Lage von nationaler Tragweite" feststellt, die gegenwärtig Grundlage des Regierungshandelns ist. Nur der Bundestag kann diese "Lage" wieder aufheben.


Es ist höchste Zeit, dass Landesparlamente und der Bundestag ausführlich darüber debattieren, ob die "öffentliche Gesundheit" im Augenblick vor dem Kollaps steht oder nicht, ob die Krankenhäuser zusammenzubrechen drohen oder ob die Kapazitäten doppelt und dreifach ausreichen. Die Abgeordneten müssten immer wieder erörtern, ob die "historischen" Maßnahmen der Kanzlerin und ihres Gesundheitsministers zum jeweiligen Zeitpunkt angemessen und verhältnismäßig sind. Und welche Maßnahmen überhaupt welche Wirkung zeigen.

Das Parlament ist keine lahme "Quasselbude"

Regelmäßig hört man an dieser Stelle den Einwand, das dauere alles viel zu lange; in einer Seuchensituation liege Gefahr im Verzuge, da müsse die Exekutive schnell handeln können. Dagegen lässt sich ins Feld führen, dass der Bundestag schon wegen der geringen Erhöhung von Personalzahlen bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zusammengetrommelt wurde – in der parlamentarischen Sommerpause, sodass man die Abgeordneten kurzfristig aus Urlaubsorten überall auf der Welt nach Berlin fliegen musste.
Ein Problem mag darin liegen, dass es der Parlamentarismus an sich in Deutschland nie zu besonders großer Beliebtheit gebracht hat: Das autoritär-verachtungsvolle Gerede von der "Quasselbude" wirkt nach, obrigkeitliches Durchregieren hat bis heute eine Menge Anhänger. Sogar manche Parlamentarier verkennen das Wesen des Parlamentarismus, wenn sie jetzt – endlich! – fordern, die Parlamente stärker am – Zitat – Corona-Management zu "beteiligen". Zu beteiligen braucht die Abgeordneten niemand, sie müssen nicht darauf warten, dass vom Regierungstisch Krümel für sie hinunterfallen: Sie können – und müssen – die Sache selbst in die Hand nehmen.

Bitte kein parteipolitisches Taktieren

Deshalb geht auch der Vorschlag der Grünen in die Irre, die sich eine Art Corona-Expertenrat wünschen: Die Parlamente haben jede Möglichkeit, Experten anzuhören. Entscheiden müssen sie aber selbst. Koalitionsausschüsse bestimmen die politischen Tagesordnungen der Landtage und des Bundestages. Auch die Mehrheitsfraktionen sollten sich darauf besinnen, dass Partei- und Koalitionskalkül nicht alles ist. Und dass ihre Aufgabe nicht allein darin besteht, Beschlüsse von Gremien durchzuwinken, die – so wie die Ministerpräsidentenkonferenz – nicht einmal in der Verfassung stehen.

Susanne Gaschke ist 1967 in Kiel geboren. Nach dem Studium war sie von 1997 bis 2012 Redakteurin der Wochenzeitung Die Zeit. Heute schreibt sie für Die Welt und die Welt am Sonntag. 2012 wurde sie als SPD-Kandidatin zur Oberbürgermeisterin von Kiel gewählt und trat Ende 2013 zurück. 2017 veröffentlichte sie "SPD. Eine Partei zwischen Burnout und Euphorie".

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