Zeitalter der Empathie?

Fühlen, was andere fühlen

Zug der Liebe - Rave für mehr Mitgefühl und Nächstenliebe unter dem Motto: Presse- und Meinungsfreiheit am 01.07.2017 in Berlin.
Mehr Empathie! Menschen demonstrieren für mehr Mitgefühl und Nächstenliebe. © imago/Müller-Stauffenberg
Von Regina Voss · 29.11.2017
Kinder sollen mit ihren Mitschülern mitfühlen, Politiker mit dem ganzen Volk und selbst Geräte kommen im empathischen Design daher: Empathie ist in aller Munde und wird zum gesellschaftlichen Heilsversprechen. Doch warum setzt eine stark individualisierte Gesellschaft auf das menschliche Mitgefühl?
"Ich finde, bei den Kindern fängt das ja an, dass man denen so beibringt, dass sie lernen, sich in andere Kinder hineinzuversetzen, andere Sichtweisen einzunehmen.
"Also, wenn mir jemand etwas berichtet, dann versuche ich schon irgendwie zu gucken: Kann ich da mitgehen oder kann ich versuchen, mitzufühlen?"
"Ich finde, wenn du empathisch sein kannst, und wenn du dich reinversetzen kannst in ein Denken und Handeln von einem anderen, gerade dann, wenn er dir nicht so sympathisch ist, dann ist das ein unglaublicher Wert, das sollte man schätzen und pflegen und sich da selber auch prüfen."
Barack Obama: "Betrachte die Welt durch die Augen eines anderen! Ja, Empathie ist eine Tugend, die die Welt verändern kann!"
Claus Lamm: "Die öffentliche Wahrnehmung ist eben oft so: Empathie ist gut, Empathie ermöglicht uns Vieles und wir brauchen mehr Empathie."
Ute Frevert: "Es geht schon um eine Konjunktur, aber diese Konjunktur wird natürlich immer interessengeleitet betrieben. Wer über Empathie redet, verfolgt natürlich auch bestimmte Interessen."
Barack Obama: "Jede Frau, die die Ungerechtigkeit kennt, weniger Lohn für die gleiche Arbeit zu bekommen, weiß, was es heißt, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Doch solche Erfahrungen befähigen Sie zu dem, was Führungskräfte heute brauchen: Solche Erfahrungen sollte Sie mit Empathie erfüllen, mit der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, in den Schuhen eines anderen unterwegs zu sein! Diese Erfahrungen sollte es Ihnen ermöglichen, die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen."
Jan Slaby: "Barack Obama, der sich als ein Politiker eines neuen Typs präsentieren wollte. Eben ein Politiker zum Anfassen. Da gab es plötzlich social media, da war er natürlich der nahbare, sympathische, empathische Geist, der sich den Menschen zuwendet."
Jan Slaby, Philosoph.
Jan Slaby: "Das war Teil der Marke Obama. Dann haben einige Kommentatoren nach der ersten Wahl Obamas zum Präsidenten das Zeitalter der Empathie ausgerufen."

Alle setzen auf Empathie

Die Forderung nach Empathie hat sich in allen unseren Lebensbereichen breit gemacht. Buch- und Zeitschriftentitel beschwören die Kraft der mitfühlenden Fähigkeit. Eltern wollen, dass ihre Kinder mitfühlend reagieren, wenn sie im Kinder- oder Klassenzimmer streiten. Auch die Arbeitswelt setzt auf Empathie. Sie sucht nicht mehr nach den knallharten Chefs, sondern hofft auf Führungskräfte, die ihren Angestellten auf Augenhöhe begegnen. Und auch die Welt der Politik hat das Thema erreicht: Politikern wird wahlweise ein Mangel an Empathie vorgeworfen oder sie selbst appellieren, wie auch Obama, an die Öffentlichkeit, doch mehr Empathie zu entwickeln. Empathie für diejenigen, die es nicht auf die Sonnenseite des Lebens geschafft haben.
Doch warum ist Empathie aktuell in aller Munde? Und was meint das Wort überhaupt?
Empathie wurde in der deutschen Sprache erst im späteren 20. Jahrhundert geläufig. "Mitleid", "Mitgefühl" und "Sympathie" beschreiben das Gefühl, sich spontan in andere einzufühlen. Auch im Wort Empathie stecken diese Bedeutungen: Der altgriechischen Wortstamm "-path" bedeutet "leiden" und "fühlen". 1902 entwickelte der Psychologe und Philosoph Theodor Lipps das Wort "Einfühlung". Es bezog sich zunächst auf den Zwang zur motorischen Nachahmung des Gegenübers. Aus dem Wort "Einfühlung" wurde in der englischen Übersetzung "empathy", das ab 1960 mit "Empathie" zurück ins Deutsche übersetzt wurde. Viele Jahre war "Empathie" nur in der Wissenschaft geläufig, um dann gegen Ende des 20. Jahrhundert zu einem allgegenwärtigen, alltäglichen Begriff zu werden.
Empathie – das Wort klingt gut und verspricht: Unser gesellschaftliches Zusammenleben kann gelingen! Wir müssen die mitfühlende Fähigkeit nur ausreichend aktivieren, denn sie steckt in uns! Doch warum sollte Empathie überhaupt dazu beitragen, eine bessere Gesellschaft zu ermöglichen?
Claus Lamm: "Das würde ich auf jeden Fall unterschreiben, dass Empathie so was ist wie – auf Englisch sagt man ‚the social glue‘ – der soziale Klebstoff, der uns ermöglicht zusammenzuleben. Die Fähigkeit zu fühlen, was andere fühlen, und dadurch auch besser zu verstehen, wo die sich gerade befinden in ihrer Gefühls- und Gedankenwelt, ist natürlich ganz zentral für die soziale Interaktion – aber es ist kein Automatismus."
Claus Lamm arbeitet als Neurowissenschaftler und Psychologe an der Universität in Wien.
Eine Blumeninstallation zum Gedenken der Anschlagsopfer von Manchester und London in Liverpool
Eine Blumeninstallation zum Gedenken der Anschlagsopfer von Manchester und London in Liverpool© Imago
Lamm: "Und wir beschäftigen uns in meiner Arbeitsgruppe mit den neuronalen Grundlagen von Empathie und pro-sozialem Verhalten."
Die Hoffnung, die auf Empathie setzt, speist sich zunächst aus einer Entdeckung im Labor. Anfang der 1990er werden die Spiegelneuronen entdeckt. Sie sind es, denen man die Fähigkeit zuschreibt, mitzufühlen, was andere fühlen. Euphorisch werden die neuronalen Netzwerke begrüßt: als evolutionäre Grundausstattung, die ermöglicht, dass wir uns mit anderen verstehen.
Lamm: "Ja, also aus meiner Sicht eine ziemlich drastische Überinterpretation dieser Ergebnisse zu den Spiegelneuronen."
Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können.
Lamm: "Und wenn man sagen kann, schaut her, hier sind ein paar Neuronen, die sorgen dafür, dass wir uns besser verstehen, dann ist das ein Ergebnis, das man gerne hört, weil, das simplifiziert die Dinge natürlich."
Doch wie wurden die Spiegelneuronen überhaupt entdeckt?
Lamm: "… dass bei Affen festgestellt wurde, wenn ein Affe zu einer Nuss greift oder beobachtet wie der Experimentator zu dieser Nuss greift, dann sind ähnliche Neuronen im Gehirn aktiv."
Spiegelneuronen sind also kein Indikator dafür, dass wir von Anfang an, von Geburt an, darauf getrimmt sind, andere zu verstehen.
Lamm: "Spiegelneuronen sind, so wie ich es eben beschrieben habe, eigentlich beschränkt auf den Bereich von motorischen Handlungen. Ich beobachte eine Handlung einer anderen Person und das wird in ähnlichen Bereichen im Gehirn repräsentiert, wie wenn ich diese Handlungen selbst ausführe."

Emotionen des Gegenübers

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts untersucht die Neurowissenschaft Menschen und deren mitfühlenden Fähigkeiten.
Lamm: "Wir haben in den letzten Jahren in den sozialen Neurowissenschaften ein Modell entwickelt, das nennt sich das Modell der geteilten Repräsentationen. Grob gesprochen bedeutet das, dass wenn ich die Emotion bei einer anderen Person bemerke, beobachte, wahrnehme, dann werden in meinem Gehirn ähnliche Bereiche aktiv, wie wenn ich selbst diese Emotionen empfinde."
Und das bezieht sich auf alle Emotionen des Gegenübers: Trauer, Freude, auch Scham oder Ekel. Besonders häufig wird jedoch die Resonanz auf Schmerz untersucht: Wie reagiert jemand, wenn er zuschaut, wie einem anderen körperlicher Schmerz zugefügt wird?
Lamm: "Es sind die Bereiche im Gehirn aktiv, die auch dann aktiv sind, wenn ich selbst Schmerzen empfinde. Also, die Wahrnehmung des Schmerzes einer anderen Person, die Empathie für diesen Schmerz, ist im gewissen Sinne so etwas wie mein eigener Schmerz: in meinem eigenen Schmerzsystem nehme ich das wahr."
Und das heißt ...
Lamm: "Wir verstehen unter Empathie die Fähigkeit, das zu fühlen, was andere fühlen. Damit ist jetzt noch keine sogenannte pro-soziale Motivation verbunden, muss noch kein Mitgefühl damit verbunden sein. Das ist ganz wichtig, dass wir Empathie von Mitgefühl trennen."
Empathie heißt zunächst nur: Ich fühle, was du fühlst. Mitgefühl ist weitaus komplexer.
Lamm: "Ich fühle etwas für dich. Ich empfinde etwas für dich. Ich möchte dich unterstützen. Ich versuche zum Beispiel, wenn es dir schlecht geht, dich dabei zu unterstützen, dass es dir besser geht."
Wir empfinden körperlich mit, was ein anderer fühlt. Das ist etwas anderes, als es kognitiv nachzuvollziehen.
Jan Slaby: "Jetzt gibt es viele Definitionen …"
Jan Slaby - Professor der Philosophie des Geistes und der Emotionen, Freie Universität Berlin.
Slaby: "… aber eine zentrale Empathie-Definition besagt ja, dass es um so eine Art Perspektivwechsel geht, man kann sich in den anderen einfühlen, d.h. nicht nur dass es eine gefühlsmäßige Resonanz gibt, sondern eben auch einen kognitiven Perspektivwechsel. Man kann sich auch vorstellen, der andere zu sein in einer Situation, die von der eigenen unterschieden ist."
Für Jan Slaby gehört das gedankliche Einfühlen zum Empathiebegriff dazu. Und trotzdem: Nur weil sich jemand gedanklich einfühlt, muss sich das nicht unbedingt in seinem Handeln widerspiegeln. Empathie ist zunächst nur der – wenn auch erstaunliche – Mechanismus, die Gefühlslage eines anderen genau nachzuempfinden. Neurowissenschaftler Claus Lamm:
"Man spricht halt von Empathie als soziale Emotion. … Ich habe ja die Emotion eigentlich nicht selber, sondern ich spüre das, was eine andere Person spürt und vor dem Hintergrund ist Empathie auf jeden Fall eine Emotion. Sie ist allen Mechanismen und Prozessen unterworfen, die Emotionen, die man selbst empfindet, auch aufweisen."
Eine Frau hält sich die Hände vor das Gesicht.
Wie weit kann Empathie gehen?© imago
Um besser zu verstehen, wie Empathie beschaffen ist, hilft es, sie genauer als Emotion zu beschreiben. Dabei wird auch verständlich, dass Empathie keine konstante Größe ist: Sie ist nicht unendlich und auch nicht uneingeschränkt abrufbar.
Lamm: "D.h. ich kann es regulieren, ich kann es entweder verstärken, runter regulieren, reduzieren, es ist eine beschränkte Ressource in dem Sinne, dass ich nicht unendlich viel dieser Emotion der anderen Person in mir empfinden kann – all diese Kriterien treffen auch auf andere Emotionen auch zu. Es gibt automatische und kontrollierte Komponenten."
Empathie ist Schwankungen unterworfen – wie andere Gefühle auch. Immer nur fröhlich? Pathologisch! Wut steigt auf, explodiert und ebbt wieder ab. Nur mitfühlend? Kaum möglich! Doch das Auf- und Ab existiert nicht nur im Gefühlshaushalt einzelner Personen. Philosoph Alexander Grau:
"Wenn jetzt so eine Eigenschaft moralisch oder normativ aufgewertet wird, dann ist das ja eine Reaktion auf gesellschaftliche Verhältnisse."

Empathie hat Hochkonjunktur

Gefühle verändern sich auch im Laufe der Zeit, schreibt die Historikern Ute Frevert in ihrem Essay "Vergängliche Gefühle". Manche Gefühle, die unseren Groß- oder Urgroßeltern noch vertraut waren, haben an Macht verloren: Wer appelliert noch an die Ehre? Und "Schäm dich!" klingt nach einem längst überholten Erziehungsstil. Scham und Ehre sind für Ute Frevert Gefühle, die in der modernen westlichen Welt an Bedeutung verloren haben. Hochkonjunktur dagegen hat die Empathie: Immer wieder wird das Gefühl benannt und besprochen – oftmals mit der Botschaft, doch mehr Mitgefühl zu entwickeln.
Ute Frevert: "Man hat seine Tentakel aufgestellt, dafür dass es so etwas gibt wie Empathie, dass Empathie auch für mich als handelnde Person, als fühlende Person etwas ist, was ich in meinen Handlungs- und Denk- und Fühlraum einlasse."
Welche Gefühle darf man unbefangen äußern und welche werden eher verschwiegen? Welche Gefühle werden wertgeschätzt, vielleicht sogar belohnt? Jede Gefühlsregung wird permanent bewertet, auch, weil in den Gefühlsäußerungen ein ungemeines Potenzial steckt: Mittels Gefühlen können wir andere begeistern oder enttäuschen, sie mit Ideen infizieren und Kräfte mobilisieren. So kann jedes Gefühl, auch die Empathie, politisch instrumentalisiert werden.
Alexander Grau: "Und die Empathie, der ganze Begriff philosophisch kam eben am Anfang der Moderne auf, im 18. Jahrhundert, als Philosophen versuchten, Moral nicht mehr religiös zu begründen, sondern irgendwie plausibel wie menschliches Verhalten kooperativ anders begründet werden kann."
Ute Frevert: "Wir können uns jetzt fragen - und als Historikerin tue ich das natürlich liebend gern - warum man dieser Fähigkeit des Mitfühlens gerade im 18. Jahrhundert, der Mitte des 18. Jahrhunderts, einen so großen Wert zuschrieb?"
Das fragt Ute Frevert auf einem Symposium im Oktober 2016. Doch hilft der Blick in die Geschichte wirklich, den aktuellen Hype um das längst auch marktwirtschaftlich ausgeleuchtete Gefühl zu verstehen? Unter welchen Bedingungen wurde Empathie im 18. Jahrhundert zum bedeutenden Thema?
Frevert: "Die Antwort: Man befand sich in einer Umbruchsituation, von einer alten moralischen Ökonomie in eine ganz neue, deren Moralität noch nicht recht erkennbar war. Die alte Ökonomie beruhte auf festgelegten Verbindlichkeiten und Obligationen. Die neue Ökonomie, der Kapitalismus, der auf der Schwelle stand, der hebelte all diese Obligationen aus und überließ alles dem freien Spiel der Marktkräfte."
"Eigenliebe" und "Eigennutz" sind die Triebfedern des Kapitalismus, sagt der Ökonom und Moralphilosoph Adam Smith in seinem Werk "Wealth of Nations" von 1776. Doch dieser rein ökonomisch orientierten Haltung stellt Smith eine andere gegenüber: Sympathy – sein Wort für Empathie – nennt er die menschliche Fähigkeit, die das soziale Zusammenleben gewährleisten soll.
Eine Bettlerin in Berlin sitzt mit gesengtem Haupt auf der Straße.
Reicht das Mitgefühl für eine kleine Spende?© dpa|Daniel Naupold
"Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer teilzunehmen."
Beginnt Adam Smith seine "Theorie der ethischen Gefühle" von 1759.
Frevert: "Ihm war vollkommen klar, dass ein wilder, ein sozial ungezähmter Kapitalismus das menschliche Zusammenleben extrem belasten, wenn nicht gar unmöglich machen würde. Sympathie oder Empathie rückten an die Stelle früherer sozialer Bindungen. Dass man sie in der menschlichen Natur verankerte, also nicht in der Religion oder irgendwelchen Moralsystemen, sondern sagte: Der Mensch ist so, das war ein super geschickter Schachzug."
Doch der biologisch grundlegenden Eigenschaft stellt Smith den unparteiischen Beobachter zur Seite. Wie möchte ich in dieser Situation behandelt werden, fragt sich die einfühlende Person, die nicht nur aus einem ersten empathischen Impuls heraus reagieren möchte. Dass die Antwort davon abhängt, wie gut ich den anderen kenne und wie vertraut mir seine Lebensumstände sind, beschreibt Adam Smith auch. Eine Erkenntnis, die mehr als zwei Jahrhunderte später die sozialen Neurowissenschaften belegen.
Lamm: "Ich empfinde mehr Empathie und damit verbunden Mitgefühl für Personen, die mir näher stehen: Sei es meine eigene Familie, meine soziale Gruppe, meine Mitarbeiter. Hier gibt es eine Verzerrung, die man aus einer ethisch-moralischen Perspektive nicht haben wollen würde."

Eine fragile Angelegenheit

Wer blauäugig auf Empathie setzt, ignoriert, dass Einfühlung über Raum und Zeit hinweg eine fragile Angelegenheit ist. "Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können" ist der Untertitel eines Buches des Primatenforschers Frans Waal über Empathie, veröffentlicht im Jahr 2011. Auch der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkins setzt auf das für ihn biologisch grundlegende pro-soziale Vermögen. Empathie, so Rifkin in seinem Buch "Die empathische Zivilisation", soll eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, wie Menschen in Zukunft zusammenleben. Warum? Seine Antwort: Empathie erweitere den Geltungsbereich der Moral.
Doch welche gesellschaftlichen Situationen lassen solche Heilsversprechen aufkommen? Wann versuchen wir, das Gefühl der Empathie öffentlichkeitswirksam zu mobilisieren? Sind es die extremen gesellschaftlichen Umbrüche, die das 18. Jahrhundert verkraften musste? Sie ähneln in ihrer weitreichenden Konsequenz denen des 21. Jahrhunderts.
Slaby: "Das ist, glaube ich, eine gute und wichtige Beobachtung, dass Verständnisse von Empathie, von Mitgefühl, immer auch in Reaktion auf Entwicklungen im Kapitalismus entwickelt wurden."
Jan Slaby sieht dabei zwei Tendenzen:
Slaby: "Entweder eben als Gegengewicht, als ein Ausgleichsprinzip, als etwas, was die Verheerungen einer entfesselten Nutzenmaximierung kontern soll."
Frevert: "Die Aufgabe der Empathie bestand demnach darin, Menschen jenseits ihres wohl verstandenen Eigeninteresses – das ist okay – in Gesellschaften einzubinden und zu sozialen Wesen zu machen. Diese Sozialität, dieses Miteinander, erschöpfte sich nicht darin, miteinander Handel zu treiben, sondern sie ermöglicht es auch Solidarität, Nähe, Liebe, Hass, wir würden sagen pro-soziale Gefühle zu entwickeln und diese Gefühle in ein entsprechendes Handeln zu überführen."
Oder aber: Tendenz Nummer Zwei: Jan Slaby beschreibt die Rolle der Empathie in der westlichen Welt des 21. Jahrhundert, die die Spielregeln des Kapitalismus schon lange verinnerlicht hat.
Slaby: "… oder als etwas, was in einem transformierten weicheren, vermeintlich weicheren, Kapitalismus, selber zu einer Art Elixier, zum Prinzip, zum Treibstoff des Kapitalismus wird in diesen kommunikativen netzwerk- und teambasierten Gebilde, die wir heute kennen."
Ist auch der aktuelle Empathie-Hype vor allem eine Reaktion auf die Arbeitswelt?
Slaby: "Man darf sich da kein falsches Bild machen. In unserer Welt ist das Arbeitsleben schon sehr zentral dafür, was sozusagen an menschlichen Fähigkeiten wichtig wird."
Soft skills: soziale und emotionale Intelligenz, kommunikative Fähigkeiten – das sind alles Begriffe, die gut in die Empathie-Schublade passen.
Slaby: "Und das war natürlich etwas, was auch nachgefragt wurde in der Arbeitswelt so grob ab den 90er-Jahren, als wir mehr in Teams arbeiteten, als die kommunikative Arbeit, die Informationsarbeit, auch die Servicearbeit stärker wurde, dass ganz andere Fähigkeitsprofile bei Arbeitnehmern wichtig wurden."
"Sie verfügen über ein abgeschlossenes Hochschulstudium und besitzen Fingerspitzengefühl für die Balance zwischen Wirtschaftlichkeit und sozialem Anspruch. Mit Ihrer gelebten Verantwortung und ihrer persönlichen Anteilnahme vermitteln Sie den Mitarbeitenden Teil einer besonderen Gemeinschaft zu sein."
"Dafür bringen Sie mit: Debatten- und Diskursgespür, politische Sensibilität, Kooperationsfähigkeit und Vernetzungskompetenz, Teamfähigkeit."
Slaby: "Und wenn dann einmal so ein Thema gesetzt ist, wenn die Personalabteilungen anfangen Individuen mit diesen Fähigkeiten zu suchen, dann bereiten sich die Bewerber auf so etwas vor und dann entsteht so eine Art sekundäre Kultivierung von Sozialverhalten, Empathie, Gefühlen."
Wird Empathie zu einem strategischen Feigenblatt, das Probleme verdeckt, ohne sie wirklich zu analysieren? Muss, wer Verständnis für die Situation eines anderen aufbringt und sich mitfühlend äußert, gar nicht mehr handeln? Täuscht der schöne Schein der Empathie?
Grau: "Es ist natürlich klar, dass das natürlich in solchen Organisationen wie Firmen oder Konzerne es sind, dass das dazu benutzt werden kann, Machtstrukturen zu verfestigen auf eine gewisse Art und Weise. Das großartig von Teamfähigkeit die Rede ist und sozialer Kompetenz, dass es aber eigentlich dazu führt, zu einer neuen Form von Ausbeutung des Individuums."
Frevert: "Das ist ein rein genuines Interesse, was sich sicherlich auch in Heller und Pfennig auszahlt und keine Konvention. Das ist eine Ressource, die Sie da brauchen."
Doch egal, ob Empathie strategisch eingesetzt wird oder es um einen aufrichtig gemeinten Appell geht: der Ruf nach dem Gefühl ist allgegenwärtig.
Frevert: "Aber in dem Moment, indem sie permanent adressiert wird, permanent besprochen, auch eingefordert wird in unserer empathischen Zivilisation, werde ich aufmerksamer dafür."

Der globale Hoffnungsträger

Doch noch einmal die Frage: Warum gerade jetzt? Warum ist Empathie Anfang des 21. Jahrhunderts ein so starker, gerade auch globaler Hoffnungsträger?
Lamm: "Na, ich denke, es ist ein Symptom dessen, dass wir in Zeiten leben, die mit relativ viel Unsicherheit verbunden sind, und wo vielleicht auch viele Institutionen wegfallen, die sonst uns gestützt haben, wie z.B. die Kirche, Glaube etc., entsteht das Gefühl, wir müssen das irgendwie wieder zurückholen. Wir dürfen dem Egoismus nicht zu viel Platz geben. Und da ist Empathie bzw. in meiner Definition Mitgefühl, und prosoziale Intentionen, Werte und Haltungen eine Möglichkeit gegen den Egoismus anzukämpfen."
Grau: "Wahrscheinlich ist dieser Empathie-Hype, den wir momentan erleben, eine Reaktion auf die Globalisierung, auf den Austausch von Kulturen, weil es auf eine allgemeine universelle Eigenschaft zurückgreift."
Wird Empathie zum moralischen Minimum? Zu einem "Totschlagargument" in Zeiten, die uns mit globalen Problemen konfrontieren, die nicht oder zumindest nicht kurzfristig zu lösen sind? Wird, gerade weil es keine Lösungsmodelle gibt, Empathie als erlösendes Angebot ins Spiel gebracht?
Eines liegt dabei auf der Hand: Die Anforderungen an das Gefühl der Empathie steigen.
Grau: "Die elektronischen Massenmedien führen dazu, dass diese globalen Katastrophen in meinem Wohnzimmer landen."
Das erste Aylan-Kurdi-Graffiti in Frankfurt
Das Schicksal des kleinen Jungen Aylan Kurdi bewegte die Menschen weltweit.© dpa/picture alliance/Arne Dedert
Tagtäglich sehen wir Bilder von hungernden oder durch Krieg verletzte und verstümmelte Menschen, schauen bei lebensgefährlichen, oft tödlichen Fluchtversuchen aus Krisengebieten zu. Höhepunkt dieser Bilderflut war im Herbst 2015 das Foto des syrischen Jungen Aylan Kurdi, ertrunken auf der Flucht, angespült an den Strand der türkischen Stadt Bodrum. Dem Bild des Dreijährigen konnte sich kaum einer entziehen.
Straßenumfrage:
"Auf der einen Seite ist es in meinen Augen so Effekthascherei, auf der anderen Seite ein deutlicher Fingerzeig, dass es so nicht weitergehen kann."
"Das ist schon erschütternd. Dass es veröffentlicht wurde, finde ich trotzdem richtig, so ein Bild, bei manchen Leuten, sprich Politikern mehr bewirkt."
"Man wird immer abgehärteter und das ist ganz großer Nachteil, weil man kein Mitleid mehr hat, das ist weg."
Ohne Zweifel, gerade das Bild von Aylan Kurdi ruft ein starkes, fast unerträgliches Gefühl hervor. Aber reicht der starke Gefühlsimpuls wirklich aus, um zu handeln? Oder bleibt es bei der empathischen Erregung, bleibt es bei "Einfühlung pur"? Marion Müller, Professorin für Massenkommunikation an der Jacobs University in Bremen, unterscheidet drei Reaktionen:
Marion Müller: "Die erste ist tatsächliche eine stellvertretende Traumatisierung. Die Menschen, die das zum ersten Mal sehen – denken Sie an die ganzen Kinder und Jugendlichen, die ein kleines Kind tot am Strand sehen – das kann potentiell eben auch dazu führen, dass die Betrachter ganz ganz schwierige emotionale Probleme haben, damit umzugehen, weil sie so machtlos sind. Das ist eine empathische Reaktion, die sehr menschlich, sehr stark ist, aber die nicht dazu führt, das was getan werden kann, weil der Eindruck so überwältigend ist, dass es nicht dazu führt: Ich kann jetzt was tun."

Zwischen stellvertretenden Traumatisierung und Abstumpfung

Die zweite Form der Empathie ist eine Art leere Empathie, das ist eben diese Abstumpfung. Ich habe schon so viele Bilder gesehen."
Umfrage: "Ich muss sagen, dass ich einigermaßen abgestumpft bin, wahrscheinlich durch die Allgegenwart von Krisen und leidenden Menschen usw. – so allgegenwärtig, dass ich relativ abgestumpft bin, bei mir passiert da eigentlich nicht so viel."
Müller: "Und die dritte Form und das ist das, wo wir als Gesellschaft, aber sicherlich auch die Medien und die politische Akteure hinwollen, ist die echte Empathie. Und das ist das, was wir auch tatsächlich in der breiten Bevölkerung sehen: Nämlich, dass so ein Bild, so ein Eindruck, politisches, pro-soziales Handeln auslöst."
Umfrage: "Ja, und dann hat das so einen ganz, ganz inneren Punkt von mir getroffen und dann habe ich gedacht, das ist jetzt der Moment, wo ich nicht mehr denken kann, das wird schon jemand anderes regeln, wo ich auch ganz aktiv gesehen habe, was wir tun können, um da was zu lindern, wo es nicht mehr nur um Mitleid ging, sondern darum auch was Gutes zu bauen und abzugeben, von dem, was man hat. Da ging es um ganz banale Sachen: Nahrung, Wasser, Babyutensilien."
Frevert: "Und wir haben zum Beispiel – darf man ja immer noch mal dran erinnern - im September / Oktober 2015 eine Welle von Empathie, eine Welle des Mitgefühls unter unseren Mitbürgern erlebt, die andere Menschen, denen es längst nicht so gut geht wie uns mit offenen Armen willkommen geheißen haben in unserem Land. Wenn etwas Empathie war, dann haben wir es dort erlebt. Und diese Empathie ist auch nicht vollkommen implodiert und hat sich in Nichts aufgelöst, sondern hat sich in der Vielfalt von freiwilligen Hilfsaktionen weiter verfestigt."
Ein Flüchtlingshelfer im Bahnhof von Flensburg.
Bei der Aufnahme von Flüchtlingen engagieren sich viele Ehrenamtliche - bis heute.© imago / Lars Berg
Doch es gab auch andere Reaktionen.
Grau: "Das ist natürlich ein ganz großes Dilemma, was auch zum Teil auch erklärt, warum Empathie so eine hohe Reputation in unserer Gesellschaft hat und weshalb es uns in Spannung versetzt, auch innergesellschaftlich. Wenn wir an die immer noch aktuelle Flüchtlingsdebatte erinnern: Die einen werfen den anderen vor, zu viel Empathie aufzubringen, das sind dann die Gutmenschen, die anderen werfen vor, nicht Empathie fähig zu sein, das sind dann die Skeptiker."
Entsteht im Schatten des Empathie-Hypes wieder eine neue Vorstellung von den "wahren" Gefühlen? Hat sich die permanente Forderung empathisch zu sein, ausgehöhlt und dreht sich deshalb oftmals ins Gegenteil?
Slaby: "Und nun kann man die Geschichte weitererzählen: Mit der Wahl Trumps ist dieses Zeitalter vorbei, jetzt ist Empathie out, Gutmensch war schon vor einiger Zeit das Unwort des Jahres. Insofern geht die Konjunktur wieder in eine andere Richtung."
Lamm: "Es braucht eben diese Untermauerung Werte, durch ethische Überzeugungen, d.h. Empathie in einem Vakuum wird nicht logischerweise nur prosoziale Konsequenzen haben ..."
Slaby: "Insofern ist es vielleicht auch ein Fehler den Fokus so nah auf Empathie einzustellen, als sei das die entscheidende soziale Tugend und nicht zu schauen, dass es auch darauf ankommt gerade dann klug mitzufühlen, Sympathien für andere zu hegen, wenn man sie nicht versteht, wenn man sie äußerlich nicht lesen kann, wenn die Emotionen nicht mitschwingen wollen."
Wer ausschließlich auf Empathie setzt, verliert: Das Gefühl allein ist keine unerschöpfliche Größe. Es braucht gesellschaftliche Rahmenbedingungen, damit aus der empathischen Fähigkeit dauerhaftes Handeln, Mitgefühl, entstehen kann. Empathie muss grundsätzlich wertgeschätzt werden. Andererseits braucht es klare Handlungsspielräume, damit das Gefühl nicht ohnmächtig überfordert, sondern zu einem starken Handlungsimpuls wird.Und manchmal braucht ein empathisches Mitgefühl vor allem eines: einen klaren Kopf.
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