Computerspiel "Animal Crossing"

In der Kapitalismusfalle

06:33 Minuten
Screenshot aus dem Computerspiel Animal Crossing: New Horizons
"Wir leben in einer Welt, in der wir Geld fürs Überleben brauchen. Das wird eben auch hier deutlich", sagt die Videospiele-Journalistin Astrid Johnson über "Animal Crossing". © Youtube / Nintendo, Animal Crossing: New Horizons
Von Marcus Richter · 23.05.2020
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„Animal Crossing“ ist wie eine Puppenstube – als Computerspiel. Wir richten uns ein, lernen Nachbarn kennen, verschönern die Umgebung. Doch das kostet viele Sternies. Marcus Richter hat dabei etwas über Kapitalismus, Vertrauen und Rüben gelernt. 
Also, eigentlich will ich ja nur mein Haus einrichten, aber dazu brauche ich zwei Dinge: Geld und schicke Möbel. Beides ist in "Animal Crossing: New Horizons" anfangs selten. Sternies – die Währung im Spiel – sind rar und Möbel muss man entweder kaufen – dazu braucht man wieder Sternies – oder kann sie zufällig finden.

Nach klassischer Computerspiellogik müsste ich jetzt einfach viel Zeit investieren, um Sternies zu verdienen, oder auf Zufallsfunde hoffen oder ich kann "Touch-Trading" machen.

"Sobald man ein Möbel aufgenommen hat, dann ist es katalogisiert, dann kann man hingehen und es immer wieder kaufen." Sebastian Zeitz arbeitet für die Videospiele-Seite Gamepro.de und ist dort quasi "Animal Crossing"-Beauftragter.
Es gibt nichts über das Spiel, das er nicht weiß, und er soll mir dabei helfen, reich zu werden. Als erstes hilft mir eben die Videospiellogik: Man kann Sofas nicht nur von Bäumen schütteln, sondern auch in den eigenen Rucksack tun. Wenn ich jetzt im Onlinemodus andere Spielerinnen und Spieler besuche und wir jeweils die Möbel des anderen anfassen, also "be-touchen" – daher "touch trading" –, dann lässt mich das Spiel diese Möbel in Zukunft kaufen.

Ein bisschen wie das Internet früher

Aber Moment mal: Wer hindert die anderen daran, meine Möbel einfach einzusacken und damit abzuhauen? "Also das kann passieren, aber so einen richtigen Knigge gibt es da irgendwie nicht, also ich glaube, das ist einfach so eine Vertrauensbasis", sagt Zeitz. Immerhin, falls es doch mal schiefgeht, gibt es einen Trick: Man macht einfach abrupt das Spiel aus. "Dann ist der Fortschritt halt weg und das Item ist weiterhin beim Host."
Es ist ein bisschen wie das Internet früher: Man vertraut sich allein, weil man ein gemeinsames Onlineinteresse hat – und wenn es schief geht, kappt man einfach die Verbindung. Aber dass nicht alles so entspannt ist, lerne ich schnell, denn ich brauche ja immer noch Sternies. Die Möbel sind jetzt zwar in meinem Katalog, aber müssen immer noch gekauft werden.

Rüben als Nahrung und Handelsgut

Und damit kommen wir zum Rübenhandel. Einmal die Woche taucht eine Bäuerin auf, die Rüben verkauft. Die kann man essen. Aber eigentlich sind sie dazu da, damit Handel zu treiben. Im örtlichen Laden, der die Rüben wieder ankauft, wechseln zweimal täglich willkürlich die Rübenpreise.

So kann man theoretisch das sechsfache des Einkaufspreises erzielen. Praktisch ist das bei mir nie passiert, aber auch hier hilft online spielen. Es gibt sogar eigene Seiten und Apps wie Leaf OS oder ACNHexchange. Dort organisieren sich Spielerinnen und Spieler. Die mit hohen Rübenpreisen laden andere ein, die ihre Rüben verkaufen wollen.

Aber: "Wenn man ankommt, dann steht der Spieler halt da, der hat den Weg versperrt, du kommst gar nicht durch meistens, sondern musst erst die Items dort ablegen, die er verlangt." Sie verwehren also den Zutritt zur eigenen Spielwelt, bis die Besucher und Besucherinnen einen Tribut in Spielgeld oder seltenen Gegenständen entrichtet haben.

Abzocke durch die Privilegierten

An dieser Stelle bin ich unfassbar frustriert. Ich meine: Die Rübenpreise in "Animal Crossing" sind völlig willkürlich. Wieso erdreisten sich diejenigen, denen dieses Glück – man könnte in der vollen Bedeutung der gesellschaftlichen Diskussion, in der das Wort verwendet wird, sagen: dieses Privileg – verliehen wird, ihre Mitmenschen abzuzocken, sei es auch nur virtuell?

"Ich glaube, das zeigt einfach, wie tief verwurzelt Kapitalismus in unser aller Leben ist. Wir leben in einer Welt, in der wir Geld für das Überleben brauchen. Das wird eben auch hier deutlich", sagt Astrid Johnson. Die Videospiele-Journalistin hat für die Seite Polygon einen Artikel geschrieben, in dem sie "Animal Crossing" aus marxistischer Perspektive analysiert. Der Rübenhandel könne als klassischer Kapitalismus gelesen werden: Man beute die Produktionskraft der Bäuerin aus und bereichere sich am Kapitalmarkt ohne etwas abzugeben.
Ihr Fazit deshalb: "Um das Proletariat zu retten, die Bourgeoisie abzuschaffen, müssen wir radikal sein und die Rüben essen." Denn das wäre laut Johnson – würde man die Metapher zu Ende denken – der einzige Weg, ein deutliches Zeichen zu setzen. "Es ist eine metaphorische Ablehnung des repräsentierten Systems. Nintendo simuliert Aktien ein wenig zu gut und hat dadurch Menschen im Netz zu Monstern gemacht. Wenn wir einfach alle die Rüben essen, müssten wir über das Problem nicht mehr weiter nachdenken."

Ist das Spiel kapitalistisch – oder bin ich es selbst?

Mir schwirrt der Kopf. Wie bin ich hier gelandet? Eigentlich wollte ich doch nur mein schönes Comicgrafik-Puppenhaus-Eigenheim einrichten und jetzt denke ich über Bezahlschranken und Kapitalismuskritik anhand von Videospielen nach. Und fühle mich dabei ertappt. Denn wenn ich ehrlich bin: Natürlich hätte ich wahrscheinlich auch ein Eintrittsgeld genommen. Ist das Spiel unheilbar kapitalistisch oder bin ich es?

Ich muss noch weiter darüber nachdenken. Später. Erstmal will ich mein Haus weiter einrichten und schließlich: Es ist doch nur ein Spiel, oder?
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