Claudia Schumacher: "Liebe ist gewaltig"

Sprachmächtiges und originelles Debüt

04:58 Minuten
Buchcover „Liebe ist gewaltig“ von Claudia Schumacher
© dtv

Claudia Schumacher

Liebe ist gewaltigdtv, München 2022

373 Seiten

22,00 Euro

Von Rainer Moritz · 19.05.2022
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Dem prügelndem Vater und der kleinbürgerlichen Enge in Stuttgart ist Juli entkommen. Jetzt sucht sie in Berlin nach sich selbst und übernimmt Verantwortung. Wenn da nicht das eigene Scheitern wäre. „Liebe ist gewaltig“ ist ein überzeugender Debütroman.
Manchen literarischen Debüts sieht man an keiner Stelle an, dass sie literarische Debüts sind. Die 1986 in Tübingen geborene und in Nürtingen aufgewachsene Claudia Schumacher, die sich längst einen Namen als Journalistin gemacht hat, legt ein solches Kunststück vor: souverän, provokativ, sprachmächtig und originell von der ersten Seite an.

Juli Ehre auf Identitätssuche

„Liebe ist gewaltig“, Schumachers Erstlingsroman, braucht nicht lange, um Fahrt aufzunehmen. Drei Kapitel umfasst er, verteilt auf die Jahre 2007, 2014 und 2016. Im Zentrum steht eine junge Frau, die Icherzählerin Juli Ehre, die versucht, ihr konfuses Leben in den Griff zu bekommen und – wenn man nur wüsste, was das ist – „Identität“ zu gewinnen.
Mit drei Geschwistern aufgewachsen im (fiktiven) Stuttgarter Vorort Ederfingen, ist sie als Siebzehnjährige gleich zu Anfang an einem Tiefpunkt angelangt. In einer Klinik, einem „Rehaloch“, blickt sie auf eine verkorkste Jugend zurück.

Aufwachsen mit häuslicher Gewalt

Als Kind „irrer Eltern“ hat sie leidvoll erlebt, wie ihre „durchgeknallte Aufschneiderfamilie“ nach außen das Bild gediegener schwäbischer Hautevolee abgibt und in den eigenen vier Wänden tagtäglich Horror inszeniert. Der Vater, ein angesehener Anwalt, ist ein prügelnder, seine Gewalttätigkeit abstreitender Haustyrann, wohingegen die Mutter klaglos die Opferrolle annimmt, das Auftreten ihres Mannes entschuldigt und so zur „Mittäterin“ wird.
Juli tut nach ihrem Reha-Aufenthalt das einzig Richtige: Sie verlässt das Stuttgarter Elend, geht – wir sind nun im Jahr 2014 – nach Berlin, nennt sich „Jules“, verdient, obwohl sie eigentlich eine Promotion in Mathematik anstrebt, ihre Brötchen als Profi-Gamerin und lässt sich auf eine Liebesbeziehung mit einer Frau, Sanyu, ein.

Kraftvolle und kühne Sprache

So sehr sie ihr Elternhaus hinter sich lassen will, so übermächtig liegen die Schatten der Vergangenheit über ihr. Auch ihre Brüder führen diesen Kampf, auf ganz unterschiedliche Weise: Während Max, zur Freude seines Vaters, Karriere als Lokalpolitiker macht, sieht sich Bruno, ein gescheiterter Musiker, gefangen in der eigenen Gewalttätigkeit, die ihm als väterliches Erbe vorkommt.
Claudia Schumacher kreist mit einer kraftvollen, kühnen Sprache um die Verletzlichkeit ihrer Protagonistin, um die Frage, wie lange man Eltern die Verantwortung für ein nur mühsam gelingendes Leben geben kann. Auch der Versuch, diese Frage abzuwälzen, scheitert: „Ich kenne mich nicht aus mit Feminismus, aber mich nervt die Larmoyanz, dieses Opfergetue.“
Mit den „selbst ernannten Feministinnen“, den „beleidigten Mittelstandstöchtern“, die „ihren Dachschaden auf das sogenannte Patriarchat schieben“, kann Juli nichts anfangen.
Sie stellt sich dieser Auseinandersetzung schonungslos, und zugleich ist klar, dass sie eine parteiische, unzuverlässige Erzählerin ist – dem von Louise Glück stammenden Motto des Romans folgend: „Man kann mir nicht trauen. Denn ein verwundetes Herz ist auch ein verwundeter Geist.“

Versuch von Normalität

Der dritte Teil, vielleicht nicht der stärkste des Buches, zeigt Juli – nun Julia genannt – beim grotesken Versuch, endlich „Normalität“ zu erlangen. An der Seite des sturzlangweiligen Thilo, der sich mit ihrem Vater verbündet, will sie, getrennt von Sanyu und Bruno, ein Schickimickileben in Zürich führen und schwört ihren akademischen Ambitionen ab. Eine „Anpassung“ auf Gedeih und Verderb?
„Liebe ist gewaltig“ ist ein unerschrockener, überzeugender Roman, der keinen Gefühlsabgrund scheut und dafür einen eigenständigen Ton findet.

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