Christoph Jehlicka: "Das Lied vom Ende"

Die Provinz als Mittelpunkt der Welt

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Christoph Jehlickas Roman spielt in einer norddeutschen Kleinstadt. © Open House / imago
Von Sarah Elsing · 20.06.2018
Ein blutiges Familiendrama, eine Affäre und die norddeutsche Provinz: In "Das Lied vom Ende" lässt Christoph Jehlicka das Kleinstadtkarussell immer schneller drehen. Der Debütroman ist wie ein guter Krimi: spannend, realistisch und überzeugend.
Es beginnt als gleißende Augustidylle um Baggersee, Bruderzwist und erstem Teenie-Sex. Dann wirbelt ein blutiges Familiendrama in der norddeutschen Provinz alles durcheinander. Der erweiterte Selbstmord eines verzweifelten Familienvaters liefert den Anstoß für ein sich immer schneller drehendes Kleinstadtkarussell, in dessen Mittelpunkt Familie Schult steht. Während Vater Frank verzweifelt gegen die Entlassung als Speditionskaufmann kämpft, erfährt Mutter Ursula, dass ihr Mann eine Affäre mit der verstorbenen Nachbarin hatte. Der 16-jährige Sohn Ben stürzt sich nach dem Tod seiner angehimmelten Schulfreundin in aussichtslose Lieben, der zwei Jahre ältere Niko kifft und jobbt bei Getränke Hoffmann.
In seinem Debütroman "Das Lied vom Ende" lässt Christoph Jehlicka die sommerleichte Schläfrigkeit eines Provinznestes in eine gnadenlos realistische Beschreibung der allgemeinen norddeutschen Tristesse gleiten. Ein Ausweg aus den beschränkten Verhältnissen scheint den Bewohnern nur im totalen Bruch möglich – wenn sie denn wirklich wollten. Denn wenn Familie Schult nach fünf Monaten und 250 Seiten scheinbar wieder versöhnt um den Weihnachtsbaum sitzt, erinnert das an eine Zeile aus dem "Element of Crime"-Song "Delmenhorst", dem Geburtsort des Autors: "Erst wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß."

Präzise, unprätentiöse Sprache

Anders als Schreibschulkollegen wie Thomas Klupp, Donata Riggs oder Patrick Findeis, die mit Romanen nach dem Muster "Junger Mensch kehrt in die Heimat zurück und hasst sie immer noch" debütierten, geht Jehlicka die Bernhardsche Verachtung der Provinz ab. Sein Kleinstadtroman versucht eine "teilnehmende Beobachtung" und knüpft damit bescheiden an Robert Seethalers Weltbestseller "Ein ganzes Leben", Stephan Thomes "Grenzgang", Judith Schalanskys "Der Hals der Giraffe" oder Andreas Maiers elf Bände-Projekt "Ortsumgehung" an. Sie alle erforschen die Provinz auf literarisch andere Weise, aber ihre Erkenntnis ist gleich: Erlösung ist nicht vorgesehen.
Ähnlich wie Maier in "Klausen" arbeitet Jehlicka multiperspektivisch und schickt seinen auktorialen Erzähler in die Gefühls- und Gedankenwelten seiner Protagonisten. Ein Experiment, das dank wechselndem Tonfall und der für die 2010er Jahre authentischen Jugendsprache durchaus gelingt. Jehlickas bewusste Abkehr von hohem Ton und gewollter Literarizität hat sicher damit zu tun, dass der 34-Jährige in Hamburg als Werbetexter und Übersetzer arbeitet – und in Hildesheim literarisches Schreiben studierte. Ganz in dieser Tradition setzt er auf eine präzise, unprätentiöse Sprache und glaubhafte Dialoge. Sein doppeltes Familiendrama samt unerwarteten Wendungen, psychologischer Einfühlung und einer gewissen Mitleidlosigkeit gegenüber den Figuren beschwört die Stimmung eines sonntäglichen Provinz-Tatorts herauf. Nur dass die Geschichte diesmal spannend, realistisch und psychologisch überzeugend ist.

Christoph Jehlicka: "Das Lied vom Ende"
Open House, Leipzig, 2018
256 Seiten, 22 Euro

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