Regisseurin Christiane Jatahy

Macbeth im amazonischen Urwald

05:45 Minuten
Christiane Jatahy bei der Aufführung von "The Lingering Now" bei den Kunstfestspielen Herrenhausen.
Christiane Jatahy bei der Aufführung von "The Lingering Now" bei den Kunstfestspielen Herrenhausen. © Helge Krückeberg
Von Michael Laages |
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In jeder ihrer Arbeiten gehe es um das Durchdringen von Theater und Film, sagt die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy. Angetrieben wird sie von dem Kampf der indigenen Völker Brasiliens um Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung.
Ende Juni wird ihr bei der Biennale Venedig ein „Goldener Löwe“ verliehen – für ihr Lebenswerk als Theaterregisseurin. Christiane Jatahy wurde 1968 in Rio de Janeiro in einer Familie mit indigenen Wurzeln geboren. Heute ist sie quasi unentwegt zwischen dieser ersten Heimat und ihrer zweiten in Paris unterwegs. Sie zählt zu den wichtigsten Theaterkünstlerinnen der Gegenwart.
Bei den Wiener Festwochen wurde soeben Jatahys jüngste Produktion uraufgeführt: „Depois do Silêncio“ (Nach der Stille). Öffentliche Proben dieser in Brasilien entstandenen Arbeit zeigte sie Anfang Juni am Mousonturm in Frankfurt am Main. Gerade eröffnete sie die Kunstfestspiele in Hannover mit dem zweiten Teil von „Our Odyssey“, einer halbdokumentarischen Fantasie über Flucht und Geflüchtete. „Before the Sky Falls“, eine Shakespeare- und „Macbeth“-Bearbeitung für das Schauspielhaus Zürich, war eine der herausragenden Aufführungen der Theatersaison, die gerade zu Ende geht.

Große Empathie für die Heimatlosen

Zuweilen scheint Christiane Jatahy sich selbst wie geflüchtet zu fühlen und im Niemandsland zu Hause, in „No Man‘s Land“. Vielleicht erzählt sie deshalb mit so großer Empathie von und mit denen, die auf der Flucht sind und ohne Heimat im eigenen Land: in Palästina, Syrien oder Südafrika, wo zum Beispiel die drei kleinen Mädchen leben, die in diesem Stück singen.
Im Finale der „Odyssee“ befragt Jatahy selbst einen Häuptling, den Kaziken eines indigenen Stammes am Amazonas auf der Suche nach dem Großvater, Kämpfer gegen Brasiliens Militärdiktatur wie die ganze Familie, dessen Flugzeug einst über dem Land des Amazonas-Volkes abstürzte.

Kampf der Indigenen um Selbstbestimmung

Alle sind wir „iguais“, also „gleich“: Keine politische Forderung bindet Jatahy fester an das alte Zuhause als der Kampf der indigenen Völker Brasiliens - der eigentlichen Besitzer des riesigen Landes also - um Freiheit und Selbstbestimmung, speziell in Amazonien. Wie weit weg in Europa auch immer inzwischen der überwiegende Teil ihrer Theaterarbeit entsteht: Das hier ist der Kern, das treibt die Regisseurin an.
Theater hat sie studiert, noch in Rio, aber auch Journalismus und Medien, Kommunikation und Film – bald nach dem Abschluss hat sie Formate für die Bühne entwickelt, die ohne Kamera nicht mehr denkbar sind. „Palco“ (Bühne) und „Cinema“ verschmelzen.

Albträume im amazonischen Urwald

Klassisch-vertraute Stoffe hat sie auf diese Weise neu erzählt – „Drei Schwestern“ von Tschechow oder eben neulich in Zürich „Macbeth“, wo der Wald, der bekanntlich am Schluss zu wandern beginnt, natürlich zum amazonischen Urwald wurde und die Kamera immer tiefer hineindriftete ins undurchdringliche Grün und die Kinder-Geister dieses Waldes die Albträume brachten für Machtmensch Macbeth.
Jede Arbeit, erzählt Christiane Jatahy, sucht aufs Neue diese gegenseitige Durchdringung von Theater und Film. Anders als viele deutsche Propagandisten der Video-Erweiterung im Theater steht sie oft auch selber hinter der Kamera.
In der „Odyssee“ sitzt sie neben dem Bühnenbildner Thomas Walgrave sogar am Technikpult und steuert die Vorstellung. Auch auf diese Weise positioniert sie sich zwischen den Künsten. In Christiane Jatahys Theater treten Darstellerinnen und Darsteller quasi aus Film und Video heraus, realisieren sich im Spiel auf beiden Ebenen. Dieses Neben- und Miteinander der Künste forciert sie wie kaum jemand sonst.

Ihr Hoffnungsträger gegen Bolsonaro ist da Silva

Genauso selbstverständlich bezieht sie politisch Position. Sie ist aufgewachsen in der brasilianischen Diktatur, die die eigene Familie mit allen Kräften bekämpfte. Sie erkennt im Präsidenten Jair Bolsonaro all die Schrecken der Kindheit wieder. Würde er wiedergewählt im Herbst? Das dürfe nicht geschehen, weil er sonst das moderne Brasilien endgültig zugrunde richten würde, sagt Jatahy, vielleicht in einer neuen Militärdiktatur.
Darum hofft sie so sehr auf den neuerlichen Erfolg des Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, jetzt, nachdem sich alle juristischen Angriffe auf ihn als Lügen und Hirngespinste erwiesen haben. Die Chancen für Lula sind groß, aber die Angst wächst mit, dass ein „Golpe“, ein Putsch, diese Chancen noch zunichtemacht.
Die Folgen hat Christiane Jatahy schon einmal erlebt – als Kind. Sie hofft mit aller Kraft, dass es nie wieder so kommt.
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