Perspektivwechsel

Rezensiert von Michael Opitz · 02.08.2005
Der Titel von Christa Wolfs neuem Erzählband "Mit anderem Blick" ist programmatisch: Wahrte die Erzählerin in früheren Texten stets eine gewisse Distanz, gewährt sie nun zunehmend Einblick in Persönliches und Intimes. Erfahrungen von Verletzungen und Krankheiten, von Ängsten und Schmerzen werden so mitgeteilt, aber auch banale Alltäglichkeiten.
Acht der neun Erzählungen des neuen Buches von Christa Wolf wurden bereits zwischen 1992 ("Nagelprobe") und 2003 ("Assoziationen in Blau", "Herr Wolf erwartet Gäste und bereitet für sie ein Essen vor") veröffentlicht, neu ist nur die Geschichte "Fototermin L.A." Und doch verweist der Titel des Bandes "Mit anderem Blick" zu Recht auf einen Perspektivwechsel. Schaut man sich die letzten Bücher von Christa Wolf an, dann zeigt sich, dass sie viel mehr Einblicke in die persönlichen Belange ihres Lebens als frühere erlauben.

Zwar gilt für Wolfs Werk in besonderem Maße der Begriff der subjektiven Authentizität, doch trotz der unverkennbaren Anwesenheit der Autorin in den Texten gab es immer auch eine bewusst aufrechterhaltene Distanz. Autobiographische Erfahrungen lagen der Prosa von Christa Wolf häufig zu Grunde, sie schrieb darüber, was sie bedrängte, aber Selbstbespiegelungen verfasste sie nicht. Vielmehr war ihr daran gelegen, die durch das Selbst gespiegelten Verhältnisse zu zeigen.

In Büchern wie "Leibhaftig" oder "Ein Tag im Jahr" hat Christa Wolf der Öffentlichkeit verstärkt Einblicke in zuvor verborgene und sehr persönliche Lebensbereiche erlaubt, hat Privates öffentlich gemacht und sich ungeschützter gezeigt.

In "Mit anderem Blick" gestattet sich die Autorin nun einen noch subjektiveren Blick, in dem das Glück über eine Partnerschaft ebenso eine Rolle spielt wie der alleralltäglichste Alltag. Und dieser Blickwechsel kommt nicht von ungefähr, sondern hat seine Geschichte. Christa Wolf war durch ihre Art, sich in gesellschaftliche Belange einzumischen und Kritik zu äußern, immer angreifbar. Und sie wurde angegriffen, auf zuweilen verletzende Weise, wobei auch Privates öffentlich wurde. Daher gedenkt Christa Wolf nun offensichtlich weitere Einblicke in ihr Leben lieber aus eigener Perspektive mitzuteilen, um sie sich nicht mitteilen zu lassen.

Den acht erneut veröffentlichten Geschichten liegen Erfahrungen von Verletzungen und Krankheiten, von Ängsten und Schmerzen zu Grunde. "Nagelprobe" etwa ist nicht nur eine Hommage auf Günter Uecker, sondern lässt sich auch als Selbstverständigungstext über die Folter lesen, in dem immer wieder Biographisches anklingt.

Häufig kommen die Erzählungen auf Endlichkeit, Zweisamkeit und Glück zu sprechen. Weil diese Themen mit der Preisgabe von Intimität verbunden sind, hat ihnen Christa Wolf lange Zeit einen eigenständigen Mitteilungswert abgesprochen. In den Erzählungen des neuen Bandes herrschen sie vor. Sollte sich darin ein prinzipieller, das weitere Werk bestimmender Blickwechsel ankündigen, erst dann würde man jenen anderen Blick, den "Kassandra-Blick" der Christa Wolf vermissen.

Christa Wolf: Mit anderem Blick
Erzählungen. Suhrkamp Verlag.
191 Seiten. 14,80 Euro.