César Rendueles: "Gegen Chancengleichheit"

Verdeckte Schieflagen beseitigen

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Die Cover-Illustration von César Rendueles' Buch "Gegen Chancengleichheit" zeigt einen Mann und eine Frau auf einer Draisine. Die Frau hat durch einen Hocker eine höhere Position.
© Suhrkamp Verlag

César Rendueles

Aus dem Spanischen von Raul Zelik

Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches PamphletSuhrkamp, Berlin 2022

329 Seiten

20,00 Euro

Von Pascal Fischer · 22.11.2022
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Die Rede von der Chancengleichheit verdecke, dass unsere Gesellschaft überall Ungleichheit produziert, sagt der spanische Soziologe César Rendueles. Gleichheit müsse daher als Ziel gedacht werden – und nicht als Ausgangspunkt.
Wer für Gleichheit kämpft, kann gegen Chancengleichheit sein – wie der spanische Soziologieprofessor César Rendueles. Die ausgerufene Chancengleichheit im Bildungssystem sei nur ein Trick des Neoliberalismus, gleiche Startchancen zu garantieren, Menschen dann aber in eine Gesellschaft zu entlassen, die mit vielen verdeckten Mechanismen letztlich wieder Ungleichheit reproduziere.

Gleichheit als Ziel, nicht Ausgangspunkt

Gleichheit müsse also Methode und Ziel sein, so die abstrakte Hauptforderung des Buches. Denn unsere Spezies sei nicht so konkurrenzbesessen, wie es die Verfechter der Chicagoer Schule meinen, sondern äußerst egalitär, belegt Rendueles mit Verweisen auf die Evolutionstheorie und manche Stammesgesellschaft.
Die Schule müsse uns darum nicht mit Fertigkeiten für ein ewiges Rattenrennen ausstatten, sondern uns als Bürger einer Gemeinschaft sozialisieren und damit die Demokratie festigen. Denn je mehr wir die Marktlogik verinnerlichten, desto weniger sozialen Kitt gäbe es in der Gesellschaft, fürchtet Rendueles. Staatliche Gemeinschaftsschulen könnten eine Lösung sein.

Für Grundeinkommen und Beschäftigungsgarantie

„Pamphlet“ nennt sich das Buch, dabei strebt es allein schon in der Länge mehr Systematik an: In zwölf Kapiteln unternimmt Rendueles einen Marsch durch die Institutionen, mal mehr, mal weniger konkret: Geschlechterverhältnis, Ökologie, politisches System, Kultur. 
Beim Arbeitsmarkt wünscht er sich ein Grundeinkommen und eine Beschäftigungsgarantie; beides soll das Rattenrennen der Arbeitnehmer bezähmen. Und ein Einkommensdeckel soll Superreiche verhindern, die ansonsten das politische System unterminierten.
Vergesellschaftete strategische Wirtschaftssektoren, starke öffentliche Grundversorgung – Rendueles fordert mehr zentrale Planung, insbesondere bei der Organisation von Grundgütern: Energie, Gesundheit, Transport, Wohnraum. Eine starke Bürokratie ist für Rendueles kein Monster, sondern Garant für eine gerechte Verteilung jeglicher Güter.
In der Familienpolitik will er, anders als manche Linke, die Erziehung in den Schutzraum der Familie legen, diese aber durch Sozialleistungen vor den Stürmen des Arbeitsmarktes schützen.

Sympathisches Motiv, problematisches Konzept

So nachvollziehbar Rendueles’ Anliegen ist, so problematisch wird das Konzept bei näherem Hinschauen: Statistiken, wissenschaftliche Zitate aus den Medien, gar aus der Popkultur – Rendueles führt vielerlei Quellen an, manchmal arg frei.
Arbeitnehmer sind durch seine marxistische Brille besehen grundsätzlich schwach, von der Marktmacht etwa gefragter IT-Spezialisten hat er noch nie gehört. „Leistungsträger“ präsentiert er stets als Zerrbilder, als geldgierige Autonarren mit Schweizer Nummernkonto.
Seltsam scheint auch der Verweis auf die Evolutionstheorie und einfache Stammeskulturen: Die Vorteile egalitären Lebens müssen nicht automatisch für komplexe industrielle Gesellschaften gelten.
Sympathisch ist Rendueles’ Anliegen, unsichtbare Schieflagen sichtbar zu machen: Vieles, was heute als linksradikal gilt, war lange Zeit Standard westlicher Politik: Sozialprogramme, Reichensteuern von 90 Prozent. So sehr es lobenswert ist, daran zu erinnern, so sehr vergisst Rendueles die Lehren aus Sozialismus und Kommunismus. Planwirtschaft als Lösung anzubieten, könnte gefährlich naiv sein.
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