Burkhart Veigel und Roswitha Quadflieg: "Frei"

Der Fluchthelfer als Held

November 1963: Der Westberliner Fluchthelfer Klaus-Michael von Keussler beim Tunnelbau unter der Berliner Mauer.
Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 begann auch die Geschichte der Fluchthelfer. Hier gräbt der Westberliner Klaus-Michael von Keussler einen Tunnel © picture alliance / dpa / von Keussler
Burkhart Veigel und Roswitha Quadflieg im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.07.2018
Von einem fiktiven Fluchthelfer in der DDR erzählt der Roman "Frei" von Burkhart Veigel und Roswitha Quadflieg. Er ist inspiriert von den Erfahrungen des Autors, der 650 Menschen half, die Mauer zu überwinden.
Burkhart Veigel war in den 1960er-Jahren einer der erfolgreichsten Fluchthelfer in der Zeit nach dem Bau der Berliner Mauer. Für sein Engagement für die Freiheit erhielt er deshalb 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande. In seinem Roman "Frei" hat er zusammen mit seiner Co-Autorin und Lebenspartnerin, der Schriftstellerin Roswitha Quadflieg, die eigenen Erfahrungen in einem fiktionalen Stoff aufgearbeitet.

Schreiben als Therapie

"Das Beste, was ich machen konnte, war, darüber zu schreiben", sagt Veigel im Deutschlandfunk Kultur. "Denn das hat mir vieles aufgeklärt, hat mir mich erklärt. Und dadurch konnte ich auch überhaupt jetzt etwas nüchterner mit den Dingen umgehen als früher, wo ich häufig in Tränen ausgebrochen bin." Das Schreiben sei für ihn auch eine Therapie gewesen. Er habe jetzt einige Zuschriften von Freunden bekommen, die schrieben, sie litten immer noch an der Vergangenheit.

Das Interview im Wortlaut:

Joachim Scholl: Wir lernen jetzt einen wahren Mann der Freiheit kennen. Er heißt Burkhart Veigel, und er hat Hunderten Menschen zur Flucht aus der DDR verholfen in den 1960er-Jahren. 2012 wurde er dafür mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Er ist inzwischen 80 Jahre alt und jetzt Autor und Held, kann man sagen, dieses Romans. "Frei" lautet der schlichte Titel in einem Wort, und an seiner Seite hatte Burkhart Veigel die Schriftstellerin Roswitha Quadflieg. Beide sind jetzt bei uns – willkommen, guten Tag!
Roswitha Quadflieg: Guten Tag!
Burkhart Veigel: Hallo!
Scholl: "Be blessed, my hero!", "Sei gesegnet, mein Held", das sagt kein Geringerer als Robert Kennedy, ehemaliger Justizminister der USA, zu Ihrem Helden im Roman am 22. Februar 1962 – auch genauso zu Ihnen, Herr Veigel?
Der Schriftsteller Burkhart Veigel
Burkhart Veigel: "Es ist ein Roman zwischen Fakten und Fiktion."© Milena Schlösser
Veigel: Nein. Es ist ja ein Roman zwischen Fakten und Fiktion, und diese Geschichte kenne ich, aber ich war nicht der Angesprochene.
Scholl: Donnerwetter, jetzt habe ich gedacht, meine Güte, ich lern mal jemanden kennen, der Robert Kennedy kennengelernt hat. Gut erfunden!
Veigel: Nicht ganz erfunden, die Geschichte hat es gegeben.
Scholl: Und auch "Be blessed, my hero"?
Veigel: Ja.

Ein Buch mit zwei Autoren

Scholl: Wir müssen es hier nicht verschweigen, Sie und Frau Quadflieg sind ein Paar. Wie kam es denn zu diesem gemeinsamen Roman über einen Stoff, der Sie, Herr Veigel, seit mehr als einem halben Jahrhundert begleitet? Wer hatte die Idee, ein Buch daraus zu machen?
Die Schrifstellerin Roswitha Quadflieg
Roswitha Quadflieg: "Die ursprüngliche Geschichte war die Liebesgeschichte."© Milena Schlösser
Quadflieg: Die Idee hatte Burkhart Veigel, als wir uns vor sechs Jahren kennengelernt haben – als ich nach Berlin zog, kurz danach haben wir uns kennengelernt. Und da ist er schon mit diesem Buch schwanger gegangen. Und dann hat es zwei, drei Jahre gedauert, bis wir uns beide drangesetzt haben. In der Zeit habe ich noch zwei andere Bücher geschrieben, und dann wurde es plötzlich ein Buch mit zwei Autoren.
Scholl: Aus Burkhart Veigel wurde der Romanheld Janus Emmeran. Wie ist Ihnen denn diese Verwandlung gelungen, Herr Veigel?
Veigel: Ich habe ja bisher viele Sachbücher und andere Dinge geschrieben, und es hat ein bisschen gedauert, bis die Romanfiguren bei mir Laufen gelernt haben. Das heißt, ich hab natürlich erst mal die Fakten so im Kopf gehabt, und daraus Fiktion zu machen, eben eine ganz andere Geschichte zu erzählen, die ich aus meinem Bauch schöpfen kann, aber die nicht ich bin, das hat doch ein bisschen gedauert.
Scholl: Ich meine, ich muss ja gestehen, dass ich wirklich zum ersten Mal von Ihrer Geschichte und von Ihrer Person erfahren habe, dann aber wirklich Bauklötze gestaunt habe, wie lange, wie erfolgreich Sie als Fluchthelfer tätig waren. Da habe ich gedacht, muss es doch mindestens fünf Bücher mit Erinnerungen geben oder Bücher über Sie. Ist das gar nicht so?
Veigel: Das wichtigste Buch habe ich ja selbst geschrieben, "Wege durch die Mauer", wo ich die Fluchthilfe bis 1970, 1972 einfach aufgedröselt habe, nicht meine Fluchthilfe, sondern die Fluchthilfe, natürlich nehme ich da einen Teil davon in Anspruch, aber es ist eben nicht – es ist ein Sachbuch über die Fluchthilfe.
Und dabei ist eben auch die Idee entstanden, dass ich mich vielleicht auch in etwas Höheres wage, in höhere Medien wage und deshalb ein Buch schreibe. Nur, wir müssen das durchaus sagen und können das sagen, ich bin nicht damit zurechtgekommen. Es ist bei mir immer länger geworden, mein Roman ist 600, 800 Seiten geworden, und dann habe ich Roswitha gebeten, komm, könntest du mir nicht ein bisschen über die Schulter gucken?

Liebesgeschichte als zweite Ebene

Scholl: Das heißt, es gab sozusagen von Ihnen schon ein Manuskript, und Sie konnten redigieren. Ich wollte gerade fragen, wie Sie konkret gearbeitet haben. Ich kann mir immer nicht vorstellen, wie man zusammen einen Roman schreibt.
Quadflieg: Dazu muss ich aber sagen, die ursprüngliche Geschichte, die bei Burkhart im Bauchladen war, das war die Liebesgeschichte, also die zweite Ebene, die wir in diesem Roman haben, die völlig fiktional ist. Dieses Paar hat es nie gegeben. Und er wollte eben zurückblicken auf die DDR via dieser beiden Personen. Und dann, als ich das gelesen habe, habe ich gesagt, du, aber pass mal auf, da wird immer von Fluchthilfe gesprochen.
Da müssen wir erst mal wissen, was Fluchthilfe ist in diesem Roman, weil man kann nicht von einem Roman auf ein Sachbuch verweisen und sagen, da könnt ihr das alles nachlesen. Und so ist sozusagen die eigentliche, seine Fluchthelferzeit in diesem Roman reingekommen, aber erst im zweiten Durchlauf sozusagen. Und dann ist auch noch die Jugend reingekommen, weil wir uns gefragt haben, warum ist der so? Warum ist der so radikal, warum ist der so verletzlich, warum ist der so, wie er im Buch beschrieben ist?
Scholl: Darauf kommen wir auf jeden Fall noch zu sprechen, aber jetzt wollen wir natürlich kurz mal den Fluchthelfer Burkhart Veigel selber hören. Es werden im Buch ja viele Fluchtarten beschrieben, und am Ende ist es eigentlich auch wieder eine fiktionale Geschichte der Fluchtbewegung, mit diesen vielen Jahren auch, die geschildert werden. Alle sind riskant, wären erzählenswert. Dafür reicht unsere Zeit nicht. Vielleicht schildern Sie aber, Herr Veigel, mal eine Methode, vielleicht die ganz am Anfang, wo es noch relativ leicht war, direkt nach dem Bau der Mauer. Wie haben Sie da Leute rausgebracht?
Berliner Mauer mit Stacheldraht am Potsdamer Platz am 30. September 1961
Berliner Mauer mit Stacheldraht am Potsdamer Platz am 30. September 1961© imago/Sabine Gudath
Veigel: Hauptsächlich mit Ausländerpässen. Weil die Westberliner durften ja ab dem 23. August 1961, neun Tage nach dem Bau der Mauer, nicht mehr rüber. Also konnten wir mit Westberliner behelfsmäßigen Ausweisen nichts mehr anfangen. Westdeutsche ging nicht, aber Ausländer gingen ganz toll, weil die Ausländer auch nie so hart kontrolliert wurden wie Westdeutsche.
Und wir hatten einen unglaublichen Zugang an Pässen von Ausländern, die uns wirklich – wir hatten nach zwei, drei Wochen Sammelns die ersten 200 Schweizer Pässe zusammen. Insgesamt hatten wir vielleicht 1.600 Ausländerpässe, konnten dadurch für fast jeden potenziellen Flüchtling einen Pass finden, auf Ähnlichkeit zunächst.
Später haben wir ja die Bilder getauscht. Wir waren später so perfekte Passfälscher, dass die Stasi mich in den Akten zweimal so erwähnt hat, dass meine Fälschungen on originalen Pässen nicht zu unterscheiden seien. Und dadurch haben wir eben doch, ich würde sagen, Hunderte von Menschen mit Ausländerpässen rüberbringen können, bis zum 7. Januar 1962, wo der Osten sich eine andere Kontrollmethode hat einfallen lassen.

Umgang mit Todesangst

Scholl: Also die eine Seite hat immer auf die andere reagiert. Die DDR hat natürlich ihr System der Abschottung immer mehr verfeinert. Und Sie selbst, Herr Veigel, Sie gerieten ja auch ins Visier. Es gab Pläne, Sie richtig auszuschalten, zu liquidieren, wie es im kommunistischen Jargon damals hieß. Hatten Sie eigentlich niemals Angst?
Veigel: Ich bin sicher kein ängstlicher Typ, und ich hatte sicher in manchen Situationen echte Todesangst, aber nicht damals. Ich hab mich gewundert, wie ich körperlich reagiere, und habe daraus geschlossen, das muss Todesangst sein oder so etwas Ähnliches wie Todesangst. Aber wenn man es zum ersten Mal erlebt, hat man ja noch nicht darüber reflektiert und kann deshalb nicht sagen, das ist Todesangst.
Aber das hat sich ja dann bei mir ergeben. Aber die Angst – man hat ja versucht, mich zweimal zu entführen, ich habe vor einer weiteren Entführung keine Angst gehabt, weil ich mich natürlich durch die vielen Erfolge und die wirklich extrem seltenen Misserfolge denen auch überlegen gefühlt habe in meinem jugendlichen Leichtsinn, und dachte, sie können es ein drittes oder viertes Mal probieren, denen werde ich immer wieder von der Schippe springen.
Scholl: Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen genau Ihnen die Freiheit verdanken?
Veigel: Etwa 650.
Quadflieg: Und im Roman sind es 1000. Janus Emmeran holt etwa 1000 Leute.
Scholl: Oft wird im Roman die Motivationsfrage gestellt, andere Figuren sagen, warum machst du das eigentlich. Und natürlich stellt man sich die Frage, wie denn aus dem jungen Medizinstudenten Burkhart Veigel da 1961 so ein energetischer Fluchthelfer wird. Ich habe mich gefragt, wie Sie überhaupt Ihr Studium abgeschlossen haben. Haben Sie heute eine Antwort?
Veigel: Nicht endgültig. Aber durch das Schreiben des Romans – ich muss kurz einfügen, ich habe jetzt einige Zuschriften bekommen von Freunden, die gesagt haben, ich leide immer noch an meiner Vergangenheit. Und das Beste, was ich machen konnte, war, darüber zu schreiben. Denn das hat mir vieles aufgeklärt, hat mir mich erklärt. Und dadurch konnte ich auch überhaupt jetzt etwas nüchterner mit den Dingen umgehen als früher, wo ich häufig in Tränen ausgebrochen bin. Ich kann heute darüber eher berichten. Also insofern war das Schreiben auch Therapie für mich.

Aktueller Bezug zu Flüchtlingen

Scholl: Ihr Roman hat zwei Ebenen. Roswitha Quadflieg hat es schon erwähnt. Die historische, die detailliert von dem jungen Fluchthelfer in den Jahren direkt nach dem Mauerbau erzählt, und es gibt eine Handlung im Jahr 2016, als der alte Janus eine jüngere Frau aus der DDR kennen- und lieben lernt. Sie haben schon gesagt, Frau Quadflieg, es kommt eigentlich von Herrn Veigel, die Liebesgeschichte.
Quadflieg: Ja. Er hatte ursprünglich die Idee, die DDR über eine Liebesgeschichte zu erzählen und aufzuarbeiten.
Scholl: Aber Sie ziehen da ganz geschickt eine sehr aktuelle Spur ein zum heutigen Flüchtlingsproblem, und da habe ich mich gefragt, was haben diese beiden Stränge wirklich miteinander zu tun? Haben sie was miteinander zu tun, oder was haben Sie sich dabei gedacht?
Eine Gruppe von Flüchtlingen sitzt nach einem Schiffsunglück auf Steinen an einem Strand in Libyen.
In dem Roman werden auch die Parallelen zu der Lage heutiger Flüchtlinge gezogen. Eine Gruppe von Flüchtlingen sitzt nach einem Schiffsunglück auf Steinen an einem Strand in Libyen.© AFP/Turkia
Quadflieg: Wir haben natürlich die Möglichkeit durch die beiden, zu reflektieren, was damals war, sich Gedanken zu machen, war die DDR ein Unrechtsstaat oder nicht, oder darüber zu diskutieren, und alles, was damit zusammenhängt. Und natürlich auch die Situation heute, bezogen auf Flüchtlingsströme, die jetzt nach Deutschland kommen, 2016 ist der Roman angesiedelt, da fing das ja gerade sozusagen an, erst das Erwachen.
Dennoch war das Problem schon sehr heftig. Und Janus wird durch einen alten Freund gebeten, einer jungen Syrerin Asyl zu gewähren in seinem Haus in den Schweizer Bergen. Und er wird sofort wieder zum Fluchthelfer, also zum Helfer, in dem Fall nicht Fluchthelfer, sondern Helfer. Und dieses Gen und dieses Need, das er immer noch hat …

Psychologische Spur

Scholl: Das "Freiheitsgen" wird es genannt an einer Stelle.
Quadflieg: Ja, das Freiheitsgen, das ist so überwältigend auch für diese Colette, seine Partnerin – und das ist ein bisschen viel für sie.
Scholl: Noch mal auf diese Motivation kurz zurückzukommen, Herr Veigel, mit dem Freiheitsgen. Es gibt in dem Roman ja auch diese psychologische Spur – Frau Quadflieg hat es schon angesprochen – mittels eines Prologs, wo ein kleiner Junge am Anfang misshandelt, geschlagen, beschimpft wird, weil er ins Bett gemacht hat, also eine ganz schauerliche Szene.
Aber man fragt sich natürlich dann sofort, ist das eigentlich so die traumatische Urszene für dieses Freiheitsgen? Also bös gesprochen, hat der Held selbst irgendwie einen kleinen Schatten? Oder ist das wirklich so eine Sache, die von ganz früher kommt und die vielleicht auch auf Sie zutrifft, Herr Veigel?
Veigel: Da ist natürlich sehr viel Autobiografisches drin, das ist ganz klar, aber auch wieder etwas fiktionalisiert. Es ist nicht genau so abgelaufen, bewusst nicht so abgelaufen, auch der Familie wegen natürlich, die mir vielleicht Vorwürfe machen könnte. Wir haben da sehr viel fiktionalisiert, aber die Grundbausteine, die hatte ich tatsächlich im Bauch.
Scholl: Danke schön, Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel, für den Besuch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei
Europa-Verlag 2018
320 Seiten, 20 Euro

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