Berliner Mauer

Die 28 langen und die 28 kurzen Jahre

Nach der Öffnung der Grenzen der DDR zur BRD und Westberlin am 9. November 1989 werden überall auch provisorische Übergangsstellen eingerichtet. Auch in der Ebertstraße strömen Tausende nach erfolgtem Mauerdurchbruch in den Westen.
Die Mauer ist auf: Heute genauso lange, wie sie stand. © picture alliance / ZB / Bernd Settnik
Von Max Thomas Mehr · 05.02.2018
Am 13. August 1961 wurde die Berliner Mauer errichtet, am 9. November '89 fiel sie in einer legendären Nacht. Also gibt es heute genau so viele Tage wieder ohne sie, wie es Tage mit ihr gab. Die unterschiedlichen Lebenswelten von Ost und West hätten sich seither verfestigt, meint Max Thomas Mehr.
Heute ist Montag, der 5. Februar 2018. Erstaunlich: angeblich ist die Mauer heute so lange weg, wie sie gestanden hat. Mein Zeitgefühl sagt etwas anderes. Stand dieses verhasste Bauwerk nicht viel länger da? All die Jahrzehnte, die mit dem Satz von Walter Ulbricht begannen: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.
Es folgten: kleiner Grenzverkehr, zähe Debatten um Willy Brandts Ostverträge, die zahlreichen Fluchtversuche, die Toten an der Mauer und dann: die große Katharsis, als SED Polit-Bürokrat Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz in die Mikrophone nuschelte: Das Reisen in den Westen ist jederzeit möglich, "ab sofort, unverzüglich". All das soll schon so lange her sein, wie es gedauert hat? Kann nicht sein.
Mein Zeitgefühl scheint disparat, irgendwie unangemessen. Vielleicht weil die Teilung entgegen aller öffentlichen Beteuerungen noch immer massiv spürbar ist? Denn seit die Mauer weg ist, seitdem man sich etwas kennengelernt hat, macht sich Befremden breit zwischen Ost und West.

Im Westen entstand eine freiere Gesellschaft

Als sie noch stand, galt für uns im Westen doch: Alles besser hier: mehr Konsum, höhere Lebensqualität – und nach '68, dem Bruch mit den autoritären Strukturen der Adenauer-Republik: eine freiere Gesellschaft, in der die Altnazis endlich aus den Machtpositionen vertrieben und eine lebendige Demokratie erzwungen worden war.
Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" und später das Entstehen der Grünen bis hin zu ihrer Regierungsbeteiligung erst in Hessen und dann im Bund vollendete diesen Prozess der Modernisierung der Bonner Republik. Die im Osten würden ja rüberkommen, wenn sie nur könnten, und viele taten das ja auch.

Kein Vertrauen in das Instrumentarium der Demokratie

Dass das Glücksstreben des Einzelnen das Wohl aller garantieren soll – das haben die meisten Ossis nicht erfahren. 56 Jahre ununterbrochene Diktaturerfahrung, davon 44 Jahre Formatierung durch den Kommunismus und dann die Treuhand und die ganze nur verwaltungstechnisch vollzogene Einheit – da wuchs kein Vertrauen in das Instrumentarium der Demokratie, in die Parteien, die Delegation von Interessen, ihr Ausbalancieren durch checks and balances.
Stattdessen griff harter Egoismus Platz, als keine sozialistische Einheitspartei mehr den Kurs bestimmte: Jetzt endlich laufen die Dinge so, wie ich es will. Das beförderte ein ziemlich einfältiges Verständnis von Demokratie in großen Teilen der Gesellschaft der "fünf – inzwischen auch nicht mehr so – neuen Länder".
Die Westdeutschen und die Ostdeutschen hätten streiten müssen – im Grunde über alles. Stattdessen wandten die Wessis sich Europa zu und die Ostdeutschen, die nach Westen schauten, sahen nur noch in ihre Rücken.

Öffnung zur Welt führt zu mehr Nationalismus

So haben sich die unterschiedlichen Lebenswelten seit dem Mauerfall verfestigt. Laut einer neuen Bertelsmann-Studie hat in den neuen Bundesländern durchweg die Mehrheit der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber Vielfalt und demokratischen Orientierungen, gegenüber Globalisierung und Zuwanderung.
Die Öffnung zur Welt führt dort offenbar zu mehr Nationalismus. Hier haben auch die sozialkritischen West-Eliten versagt: statt zu verstehen, dass der Wegfall der Mauer, von der 28 Jahre lang die Machthaber im Osten behauptet haben, sie sei auch ein "antikapitalistischer Schutzwall" nach '89 Ängste freisetzte, warfen sie den Ostdeutschen allenfalls "DM-Nationalismus" vor, wie ihn Jürgen Habermas nannte. Ein Ergebnis: Die AfD.

Noch genug Zeit zum Streiten

28 lange und 28 kurze Jahre. Das nächste Datum dieser Art kommt am 13. Mai 2034. Dann wäre der Kalte Krieg, die Teilung Europas nach dem Ende 2. Weltkrieg, solange überwunden, wie sie existierte. Noch genug Zeit zum Streiten. Zu hoffen bleibt für mich, dass daraus keine politische Sonnenfinsternis wird und sich auch im Osten eine Mehrheit weltoffener Europäer zusammenfindet. Dafür müssen sie ja nicht gleich die eigene Nation verleugnen.

Max Thomas Mehr, Jahrgang 1953, ist freischaffender politischer Journalist und Fernsehautor. Er hat die Tageszeitung "taz" mitbegründet. Für das Drehbuch des Films "Sebnitz: Die perfekte Story" (produziert von Arte/MDR) wurde er mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet.

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