Im Jahr 2021 soll es weltweit 355 Kriege gegeben haben, das vermeldet die auf Daten spezialisierte Internetplattform Statista. Die Welt hat eine gewisse Kriegsroutine. Doch dann kam der 24. Februar 2022, der Angriff Russlands auf die Ukraine.
„Es war für uns alle ein Schockerlebnis, als wir am 24.2. erfahren haben, dass diese Invasion stattfindet“, erinnert sich Hans-Christian Atzpodien. Er ist Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.
„Und mit der Aggression aus dem Osten, angefangen mit der Krim-Annexion und dann mit dem 24. Februar 2022 hat der eigentliche Kern der NATO, nämlich kollektive Bündnisverteidigung, eine Revitalisierung erlebt“, sagt der Grünen-Politiker Jürgen Trittin.
„Klar ist, wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen“, betonte Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Regierungserklärung drei Tage nach dem Beginn des russischen Angriffs. „Das ist eine große nationale Kraftanstrengung. Das Ziel ist eine leistungsfähige, fortschrittliche, hochmoderne Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.“
„Zeitenwende“ – ein Begriff macht Geschichte
Pläne, Voraussagen, Prognosen, Modellrechnungen. Manchmal, vielleicht sogar ziemlich oft, kommt alles anders. Dann zerbröseln Gewissheiten und alte Wahrheiten verändern sich. Plötzlich fallen Entscheidungen und Wörter machen Geschichte: „Wir erleben eine Zeitenwende.“
27. Februar 2022: Bundeskanzler Olaf Scholz kündigt bei einer Sondersitzung des Bundestages dauerhaft erhöhte Militärausgaben an.© picture alliance / Flashpic / Jens Krick
Olaf Scholz prägt den Begriff, der sich bald verselbstständigt. Zeitenwende. Alle, die in der Politik Rang und Namen haben und auch viele andere, übernehmen den Begriff. Der Bundeskanzler meint es ernst. Dabei hat er die Zeitenwende nicht einmal herbeigerufen, er hat sie nur benannt. Die Zeiten wendeten sich, als die russische Armee die Staatsgrenze zur Ukraine durchbrach und so einen Krieg begann – ungefähr zwei Flugstunden von Berlin entfernt.
„Ich denke, viele von uns haben das nicht für möglich gehalten. Haben nicht für möglich gehalten, dass Frieden durch Verträge und Diplomatie eigentlich nicht mehr selbstverständlich ist. Sondern, dass man Krieg in Europa hat und man sich gegen kriegerische Aggression durch Abschreckung wappnen muss. Dass wir unsere Streitkräfte wieder aufrüsten in einer ganz anderen Art und Weise, als das vorher der Fall war“, sagt Hans-Christian Atzpodien
Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie weiter: „Das haben wir dann in den Tagen danach ja auch durch die Rede des Bundeskanzlers, Stichwort ‚Zeitenwende‘ alle realisiert und haben dann erst durch die weiteren Ansprachen des Verteidigungsministeriums ja deutlich gemacht bekommen: Wir haben schon sehr klar gemerkt, dass hier ein anderer Wind plötzlich wehte als vorher.“
Ein anderer Wind im Verteidigungsministerium, in der Politik, in der Gesellschaft. Das Säbelrasseln im Osten Europas war keine Pose, es war ernst gemeint: Die Säbel rasselten nicht nur, sie wurden eingesetzt, um sich fremdes Gebiet einzuverleiben.
Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit
„Ich glaube schon, dass wir uns alle sehr ernsthaft mit der Situation auseinandersetzen müssen, was unsere Generation – übrigens parteiübergreifend – geglaubt hat, dass mit dem Ende des Kalten Krieges, des damaligen atomaren Wettrüstens eine Zeit des Friedens beginnt“, sagt Jürgen Trittin.
Der Bundestagsabgeordnete der Grünen holt zu einem historischen Diskurs aus: „Die erste schmerzhafte Lektion in diesem Zusammenhang waren die Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien bis hin zum Kosovokrieg. Und wir haben heute ganz offensichtlich, worauf Grüne immer wieder hingewiesen haben, dass nämlich Russland unter Putin nicht mehr die Sowjetunion ist, sondern ein ganz anderes System, dass dies sich in grausamer Weise als richtig erwiesen hat.“
Die alte Sowjetunion war ein System der Stabilität, des Beharrens, des Status quo und in dem hat so etwas wie gegenseitige Abschreckung durchaus funktioniert, mit teilweise sehr, sehr knappen Geschichten. Es hat ja auch Fehlalarme und Ähnliches gegeben.
Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter der Grünen
2014 – Putin lässt die Krim überfallen. Er behauptet, Russland hätte Anspruch auf die Halbinsel. Die Reaktionen im Westen? Erhobene Zeigefinger und Kopfschütteln, ein paar Sanktionen und eine Erkenntnis – formuliert zwei Jahre nach Putins Überfall:
„Wir erleben, dass selbst in Europa Frieden und Stabilität keine Selbstverständlichkeit sind.“ Das schreibt Angela Merkel im 2016 veröffentlichten „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“. Und: „Unser Ziel sollte dabei stets sein, Krisen und Konflikten vorzubeugen. Sicherheitspolitik muss vorausschauend und nachhaltig sein. Gleichzeitig müssen wir in der Lage sein, schnell auf gewaltsame Konflikte zu reagieren, zu helfen und zu einer raschen Konfliktbeilegung beizutragen.“
100 Milliarden Euro zusätzlich, aber wofür?
Vorausschauende und nachhaltige Sicherheitspolitik. Schnelles Reagieren auf gewaltsame Konflikte. Was ist aus den Gedanken von 2016 geworden und was wird jetzt passieren, nach der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende? Wofür will die Bundesregierung die 100 Milliarden Euro, die für die Aufrüstung der Bundeswehr zugesagt sind, einsetzen?
Interviewanfrage beim Bundesverteidigungsministerium. Die Antwort kommt per Mail: „Leider muss ich Ihnen bezüglich Ihres Anliegens eine Absage übermitteln. Generell kann ich Ihnen noch mitteilen: Mit dem Sondervermögen soll die Ausrüstung der Bundeswehr auf das Maß angehoben werden, dass sie zur Landes- und Bündnisverteidigung benötigt. Die 100 Mrd. € dienen der Finanzierung von Rüstungsprojekten. Um welche Projekte und Fähigkeiten es sich dabei handelt, können Sie dem Wirtschaftsplan entnehmen. Die Planungen dazu laufen. Mehr kann zum aktuellen Zeitpunkt nicht gesagt werden.“
Das Bundesministerium für Verteidigung gibt sich zugeknöpft.
Die Bundeswehr – eine Truppe mit Problemen
Dafür dringen Stimmen aus der Bundeswehr nach außen: „Das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da. Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert“, sagt der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, im Februar 2022 im Berliner „Tagesspiegel“.
Und im September sagt Oberst Andre Wüstner, Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes, gegenüber dem Fernsehsender „Welt“: „Die Ministerin ist ja immer noch in der Analysephase und sie will jetzt das Projekt Bestandsaufnahme endlich zum Ziel bringen und im nächsten Jahr anfangen. Wir haben dysfunktionale Strukturen und Prozesse, wir haben enorme Probleme in der Nachwuchsgewinnung und ja, wir haben auch eine Überregulierung.“
Auch Oberstleutnant Manfred Scholl kennt die Probleme in der Truppe. Er arbeitet als militärischer Berater im Außenministerium – und knüpft große Hoffnungen an das Milliardenpaket.
„Wenn ich so Stimmen aus der Truppe höre, dann sind sie erst mal ein stückweit erleichtert, dass es das Sondervermögen gibt, 100 Milliarden, die Ausrüstung der Bundeswehr angegangen werden kann“, sagt er. „Sie kann auch in den nächsten Jahren entsprechenden Nachhall finden, dass sie ausreichend Material hat zum Üben. Wir bauen weitere Verbände auf, die Bundeswehr wächst auf, sie konzentriert sich auf Fähigkeiten der Landes-Bündnis-Verteidigung.“
"Momentan sind wir noch im freien Fall"
Die Bundeswehr und die Rüstungsindustrie liefern zuverlässig – und zwar Pannen, Verzögerungen, Peinlichkeiten, Skandale. So geht es Jahr um Jahr. 2007 sind es Hakenkreuzfahnen an einer Dresdner Offizierschule. 2021 singen Bundeswehrsoldaten bei einem NATO-Einsatz in Litauen ein Geburtstagsständchen für Adolf Hitler. Antisemitische und rassistische Vorfälle, Munitionsdiebstahl. Auf der anderen Seite stehen die Probleme bei Ausstattung und Material.
Andre Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbands: „Momentan sind wir noch im freien Fall. Wir leisten nach wie vor Gutes mit Blick auf die NATO-Ostflanke, die Einsätze, die wir aktuell haben: Mali, Irak, et cetera. Aber was die Bundeswehr anbelangt sind wir immer noch – wir geben ja Gerät ab, beispielsweise Ukraine. Wir füllen noch nicht weiter auf. Die 100 Milliarden sind noch nicht in Verträgen, das heißt, es geht noch nach unten. Das ist die Realität.“
Der aktuelle Jahresbericht der Wehrbeauftragten des deutschen Bundestages listet einen sogenannten durchschnittlichen Klarstand auf, den tatsächlich verfügbaren Bestand an Waffen und Geräten. Durchschnittlich liegt die Einsatzbereitschaft bei 68 Prozent, zum Beispiel beim Schützenpanzer Marder, beim Kampfjet Tornado und beim Mehrzweckhubschrauber Sea King.
Probleme bei Einsatzbereitschaft und Materialbeschaffung
Auch ein anderes Hubschraubermodell, das es seit 1972 bei der Bundeswehr gibt, ist in der Kritik.
Hier bei einem Löscheinsatz fliegen sie: Die Hubschrauber CH-53 haben die niedrigste Einsatzbereitschaft aller fliegenden Waffensysteme der Luftwaffe.© dpa/Sven Hoppe
Im Bericht der Wehrbeauftragten ist zu lesen:
„Bereits 2002 gab es Zweifel, wie lange die betagten Hubschrauber CH-53 überhaupt noch einsatzfähig wären. Sie wuchsen im Dezember 2002 zu lautstarker Kritik an, als einer der Hubschrauber aufgrund eines Materialfehlers über Kabul abstürzte und sieben Soldaten das Leben kostete. Bis heute hält die Kritik an und wirft die Frage auf, wann die Bundeswehr das dringend erforderliche Nachfolgemodell für den schweren Transporthubschrauber erhält. Die Einsatzbereitschaft des CH-53 ist nach wie vor die niedrigste aller fliegenden Waffensysteme der Luftwaffe.“
Hinzu kommen politische Skandale im Verteidigungsministerium – die Liste reicht von undurchsichtigen Beraterverträgen bis zu Hubschrauberflügen mit privaten Gästen.
Immer wieder ging es um Probleme bei der Beschaffung von neuem Material für die Bundeswehr, mit denen sich in der vergangenen Legislatur ein Untersuchungsausschuss des Bundestages beschäftigte.
Jürgen Trittin von den Grünen erinnert an dessen Arbeit: „Die Ergebnisse beispielsweise der Beschaffungsskandale von Frau von der Leyen und ihrer Staatssekretärin Frau Suder, haben ja bestimmte Ergebnisse gebracht, beispielsweise, dass da in dreistelliger Millionenhöhe Beraterhonorare verschwendet wurden, dass in diesem Zusammenhang regelmäßig Ausschreibungswege gewählt worden sind.“
Er erklärt: „Man hat nicht ein eingeführtes militärisches Produkt gekauft, sondern hat gesagt, wir entwickeln das. Wir entwickeln das aber in einer speziellen Variation für Deutschland. Das hat regelmäßig die Kosten – kleinere Stückzahlen, höhere Kosten pro Stück – explosionsartig in die Höhe getrieben. Der deutschen Rüstungsindustrie war das immer lieb und teuer, das verstehe ich.“
100 Milliarden - Ist das viel oder wenig?
Teuer. Der Begriff fällt häufig, wenn es um Rüstung geht. Wie teuer darf es sein? 100 Milliarden Euro will die Bundesregierung zusätzlich für die Bundeswehr zur Verfügung stellen. Ist das viel oder wenig? Für eine Zivilgesellschaft, die lange Zeit nichts von Rüstung hören wollte, ist das viel.
Jürgen Trittin, Mitglied im Verteidigungsausschuss und im parlamentarischen Ausschuss der NATO bemüht sich, die Summe zu relativieren.
„Wenn ich 100 Milliarden über 20 Jahre abzinse und das ist ungefähr der Beschaffungszeitraum FKs, also das Flugzeug. Dann sind das nur noch fünf Milliarden jährlich. Ich sage schlicht und ergreifend, man soll sich von einer Zahl nicht ins Bockshorn jagen lassen, weil nirgendwo drinnen steht, in welchem Zeitraum es ausgegeben wird“, erklärt er.
Und so sind 100 Milliarden tatsächlich nicht so viel, wie auch Christian Mölling, Forschungsdirektor der Gesellschaft für Auswärtige Politik, vorrechnet.
„Wir haben eine Inflation und da, wo wir Monopole haben, haben wir eine sogenannte Verteidigungsinflation. Die ist höher als die normale Inflation. Das heißt, dass das Sondervermögen, was mal 2021 errechnet worden ist, also noch ohne die finanziellen Verwerfungen, die aus diesem Ukraine-Krieg entstanden sind, damals waren es 100 Milliarden. Jetzt ist es das schon bei Weitem nicht mehr.
Er erklärt: „Wenn wir mal annehmen, wir haben eine zehnprozentige Inflation dieses Jahr, sehen wir, dass das Geld eben nur noch 90 Milliarden wert ist. Deswegen, das darf man dann nicht verkürzt darstellen, haben wir das Problem, dass wir nachschütten müssen, wenn wir kaufen wollen, was 2021 mal 100 Milliarden wert gewesen ist.“
Debatte über Zwei-Prozent-Ziel der NATO
Andererseits gibt es die Dauerdebatte über das Zwei-Prozent-Ziel. Zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen in Verteidigungsausgaben investiert werden, so eine Vereinbarung innerhalb der NATO. Deutschland verfehlt dieses Ziel seit Jahren. Olaf Scholz will das ändern: mit dem 100-Milliarden-Paket.
Julia Berghofer von der Denkfabrik European Leadership Network in London ist allerdings skeptisch, ob das ausreicht. „Es klingt wahnsinnig viel, im Großen und Ganzen ist das Sondervermögen gerade mal der Einsatz, um bestimmte Fähigkeitslücken zu schließen.“
Fähigkeitslücken, das ist eine Umschreibung für das, was man nicht kann, aber können sollte. Und diese Lücken seien in den vergangenen Jahren größer geworden, sagt Berghofer.
„Ich habe mir in letzter Zeit die Verteidigungsausgaben Deutschlands seit der Gründung der Bundeswehr 1955 mal angeschaut, auch aus Interesse, wie die sich entwickelt haben. 1960 waren die noch auf einem Stand von etwa 4 Prozent. Nach dem Kalten Krieg, nach Ende des Kalten Krieges so um 1992 herum, waren wir dann das erste Mal unter 2 Prozent unter Kohl“, sagt sie.
In der Ära Schröder und Merkel haben sich die Verteidigungsausgaben sukzessive nach unten entwickelt. Wir wissen ja, dass in den letzten mindestens 20 Jahren massive Fehleinschätzungen gegenüber Russland gemacht wurden. Und in dem Zusammenhang muss man sich natürlich fragen, wie viel Sinn es macht: Ich investiere zu wenig in Abschreckung, in Verteidigung und ich investiere zu wenig in Bündnisfähigkeit.
Julia Berghofer, European Leadership Network
Viel Geld, wenig Wirkung
Das 100-Milliarden-Paket – viel zu klein also für eine echte Zeitenwende? Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin hält dagegen.
Er sieht die Defizite an anderer Stelle: „Wir sind in einer Situation, wo wir fast so viel für Rüstung ausgeben wie Russland, als Deutschland alleine. Muss man sich mal klarmachen: Von dem Geld, von dem Russland mindestens drei Kriege führt – in Syrien, in Libyen und massiv in der Ukraine – sind wir nicht mal in der Lage, unsere Soldatinnen und Soldaten, das war nicht mal ein Bataillon zu dem Zeitpunkt, also keine tausend Leute, anständig auszurüsten. Das heißt, wir haben es damit zu tun, dass wir unglaublich viel Geld zur Verfügung hatten, was offensichtlich versickert und sonstwo ist.“
Ob die 100 Milliarden reichen, um die Bundeswehr auf Kurs zu bringen, bleibt strittig. Genauso wie die Frage, wofür das Geld jetzt am besten ausgegeben werden muss. Welche Waffen werden am dringendsten benötigt, wie modern sollen sie sein? Und wie schnell können sie beschafft werden?
Der aktuelle Rüstungsbericht der Bundeswehr listet 19 Projekte auf, darunter der Kampfhubschrauber Tiger, das unbemannte Luftfahrzeug Pegasus, der Kampfjet Eurofighter, das Mehrzweckkampfflugzeug Tornado, die Fregatte Klasse 125 und taktische Luftverteidigungssysteme.
Die „Zeitenwende“ ist eine Mammutaufgabe
Es geht um nationale und internationale Großprojekte, um Kampfjets, ein System zur Abwehr von Hyperschallwaffen, neue Artilleriesysteme und um Digitalisierung. Es sind Mammutaufgaben. Rüstungsprojekte dauern.
Christian Mölling, Forschungsdirektor der Gesellschaft für Auswärtige Politik, erklärt: „Es geht um neue Hubschrauber, es geht um ein Panzerprojekt, was man machen möchte. Es geht um Flugzeuge unterschiedlicher Couleur, es geht auch um ein großes Querschnittsprojekt, um die Digitalisierung der Streitkräfte. Ein Projekt, das in den letzten Jahren noch nicht gelungen ist oder nicht vorangekommen ist, aber dringend notwendig ist, damit wir überhaupt mit unseren Alliierten sprechen können und miteinander Daten austauschen können. Alles das ist im Grunde da drinnen. Das ist auch abgeleitet aus einer politischen und militärischen Zielsetzung, die wir mit unseren Partnern in der NATO vereinbart haben.“
Große Projekte sind geplant. Und die Frage ist: Wie schnell kann die Rüstungsindustrie liefern? Eine bis heute ungeliebte Branche, immer wieder eingeholt von Skandalen und Skandälchen, die jetzt aber für manch einen zum Hoffnungsträger wird und die mit großem Interesse auf das 100-Milliarden-Paket blickt.
Rüstungsindustrie will Kapazitäten ausbauen
Hans-Christian Atzpodien, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie erläutert: „Aber alle Unternehmen, die ich kenne, haben gesagt, dass sie in der Lage sind, ihre entsprechenden Kapazitäten nach oben anzupassen. Alle haben gesagt, dass sie auch bereit sind, neue Leute einzustellen, mehr Schichten zu fahren.“
Und weiter: „Die Bereitschaft ist riesengroß, es muss nur klar abgerufen werden. Es müssen klare Grundlagen bestehen, auf welcher Auftragsbasis das passiert, über welchen Zeitraum. Damit man als Unternehmen auch weiß, ob man da jetzt in ein Investment geht oder ob es nur kurzfristig ist.“
Zumal die Zeiten schwierig sind. Energiepreise, stockende Lieferketten, Materialengpässe, Personalmangel. Auch die Rüstungsindustrie bleibt nicht von den aktuellen Problemen verschont.
„Auf der einen Seite ganz klar Probleme mit Rohstoffversorgung und bestimmten Vorprodukten, auch gerade im Bereich der Elektronik. Da unterscheiden wir uns nicht von anderen Branchen wie Automobil et cetera. Auf der anderen Seite konkurrieren wir am Arbeitsmarkt auch um Fachkräfte mit anderen“, sagt er.
„Aber wir sind nicht spezifisch benachteiligt. Also, wir haben jetzt keinen Malus, dass wir Rüstung herstellen. Die Erfahrung haben unsere Unternehmen generell nicht gemacht, sodass wir glauben, dass wir ein ganz normaler Mitwettbewerber auf dem Arbeitsmarkt sind.“
Gravierender ist für den Rüstungslobbyisten Atzpodien ein ganz anderes Problem. Die ständigen Sonderwünsche von Politik und Bundeswehr verzögerten die Produktion und machten sie teuerer als nötig, sagt er.
„Es sind ja keine Produkte, die man über die normale Ladentheke handelt. Aber es gibt schon in allen Bereichen Geräte, Gerätetypen, die von einer Mehrzahl von Kunden gekauft worden sind, erprobt sind, die halt die Bundeswehr auch nutzen könnte, wenn sie nicht so einseitig deutsche Anforderungsvorschriften hätte“, kritisiert er.
„Das ist ja im Grunde das, wo wir sagen, dass man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen könnte. Man könnte die Vorteile einer größeren Serie nutzen, die Kostenvorteile auch. Schwierig ist halt nur, wenn man sich einmal in eine Welt von sicherheitsrelevanten Vorschriften begeben hat, da wieder rauszukommen.“
Beschaffungsprozess ist kompliziert
100 Milliarden Euro wollen viele verdienen. Aber wer ist in der Lage modernes Kriegsgerät zu annehmbaren Preisen zu liefern? Und in welchen Ländern sitzen die Hersteller?
Die Beschaffung ist ein komplizierter Prozess, die Entscheidung für bestimmte Waffensysteme folgt strategischen und auch industriepolitischen Kriterien. Wer stellt die Waffen her, von wem macht sich der Käufer abhängig? Wer garantiert, dass das Waffensystem auch nach mehreren Jahren noch funktionsfähig ist? Wer hält Ersatzteile vorrätig und sorgt für entsprechende Munition? Welche Firma, welches Land profitiert von den Aufträgen?
Christian Mölling von der Gesellschaft für Auswärtige Politik erklärt: „Wir kaufen jetzt relativ viel in den USA. Also Kampfflugzeuge auf der einen Seite, Transporthubschrauber auch. Wenn wir uns zurückerinnern, waren die Trump-Jahre ja doch sehr holprig. Auch auf der atmosphärischen Ebene war es sehr schwer, auf der militärischen Ebene voranzukommen. Können wir uns vorstellen, dass unter diesen Bedingungen diese Projekte, die wir jetzt anfangen, ohne dass da ein Schild steht, das sicherstellt, dass diese Projekte weder auf der deutschen noch auf der amerikanischen Seite irgendwann einen Zusammenbruch erleben?“
Und weiter: „Kann ein Kanzler oder eine Kanzlerin sich in vier, fünf Jahren hinstellen und sagen: Nein, diese Projekte sind sicher und wir dürfen deutsches Steuergeld in die USA geben, obwohl Trump dran ist. Denn das wird das Argument sein: Können wir denn einem solchen, ich will mal freundlich sein, Horrido, tatsächlich deutsches Steuergeld geben? Da müssen Sie eine Antwort darauf geben können.“
Und damit tut sich die Politik schwer. Die Entscheidungen für neue Waffensysteme seien oft langwierig – und sprunghaft, sagt Christian Mölling und nennt ein Beispiel.
Es hat einen langen Prozess gegeben, welches Flugzeug oder welchen Flugzeug-Mix wir als Nachfolge für den Tornado nutzen wollen. Da hat es einen über Jahre hinweg gezogenen Prozess gegeben, wo man sich einfach aus politischen Gründen nicht entschieden hat und nicht aus militärischen Gründen nicht entschieden hat. Und über Nacht hat der Bundeskanzler entschieden, dass er jetzt ein bestimmtes amerikanisches Flugzeug kaufen will – und damit ist es eine politische Entscheidung und keine Marktentscheidung.
Christian Mölling, Gesellschaft für Auswärtige Politik
Das Bundesamt für Beschaffung in der Kritik
Es sind aber auch ganz praktische Fragen, mit denen sich die Politik beim Kauf von Rüstungsgütern herumschlagen muss. Der Käufer muss wissen, was genau er kaufen will. Einkäufe müssen ausgeschrieben und bestellt werden und die Waren müssen auf die angeforderte Qualität überprüft werden.
Ist das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr in Koblenz den Anforderungen der "Zeitenwende" gewachsen?© picture alliance / dpa / Thomas Frey
Zuständig dafür ist das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr, das BAAINBw, eine Behörde mit Sitz in Koblenz, die den Anforderungen nicht immer gewachsen sei, sagt Julia Berghofer von der Denkfabrik European Leadership Network.
„Ich muss jetzt nur kurz lachen, denn das BAAINBw ist ein wahnsinnig frustrierendes Thema“, sagt sie. „Tatsächlich denke ich, dass das Amt durchaus sehr viele Mitarbeiter hat, soweit ich informiert bin um die 12.000. Davon sind 2000 aus der Bundeswehr und 10.000 zivile Mitarbeiter und um die 116 Dienstorte, was ja doch einiges ist. Das Beschaffungsamt in Koblenz oder wie es formal richtig heißt das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr war ja in letzter Zeit wahnsinnig viel Kritik ausgesetzt.“
Die Kritik ist vielfältig: Mangelnde Digitalisierung, ineffiziente Prozesse und schwer durchschaubare Strukturen.
„Wenn Sie sich die Organigramme auf der Seite des BAAINBw mal anschauen: Es hat zehn verschiedene Abteilungen, unter anderem Luft, See, Land, IT. Wenn Sie sich die Organigramme anschauen und dagegen das sowieso schon komplexe Organigramm des Auswärtigen Amtes sehen, dann denken Sie sich: Das vom Auswärtigen Amt ist wirklich noch sehr unterkomplex“, kritisiert Julia Berghofer.
Die Politik hat schon einige Weichen gestellt. Kleinere Aufträge müssen jetzt nicht mehr über Schreibtische des Beschaffungsamtes in Koblenz gehen. Doch auch wenn manches Manko beseitigt ist, auf das Beschaffungsamt in Koblenz kommt viel Arbeit zu, schließlich muss viel neues Material beschafft und altes gewartet werden. Ist die Behörde darauf vorbereitet?
"Das wird so einfach nicht funktionieren"
Christian Mölling von der Gesellschaft für Auswärtige Politik: „Sie müssen sich vorstellen, dass die jetzige Bürokratie in der Lage war, acht oder neun Milliarden zu verwalten und auch zu verarbeiten, also Geld in Material umzusetzen. Jetzt sollen sie auf einen Schlag das Doppelte oder das Dreifache ausgeben, je nachdem, was sie in der Lage sind, auszugeben. Das wird so einfach nicht funktionieren.“
Das Beschaffungsamt in Koblenz – auch Rüstungslobbyist Hans-Christian Atzpodien sieht dort Probleme.
„Der Eindruck ist eben, dass bisher zumindest die Beschaffungsverwaltung nicht bereit war, diesen Schritt der Öffnung auf die Industrie zuzugehen. Sondern: Dass man, wenn man schon mal ein Großgerät beschaffen kann, dann auch das zu dem konkreten Zeitpunkt ideal-bestmögliche Gerät beschaffen möchte. Das ist das, was man sich selber zurechtlegt. Dass das nicht immer das ist, schon gar nicht das Marktverfügbare ist, aber auch nicht das schnell und einfach zu Machende, ist eigentlich offensichtlich“, kritisiert er.
Wir setzen jetzt auf ein Umsteuern in den Köpfen. Das ist wichtig: Jetzt haben wir eine neue Herausforderungssituation, jetzt müssen wir mit anderen Mitteln, die es ja schon gibt, an die Situation herangehen.
Hans-Christian Atzpodien, Rüstungslobbyist
75 Milliarden Euro zusätzlich - pro Jahr?
100 Milliarden. Über viele Jahre verteilt. Reicht das, um die angekündigte Zeitenwende umzusetzen?
Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik ist skeptisch. Bestenfalls sei es ein erster Schritt. Aber eigentlich müsste die Bundesregierung viel mehr tun. Nämlich 75 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für die Verteidigung ausgeben.
„Die Zahl, die wir ausgerechnet haben, 75 Milliarden, das hat damit zu tun, dass der Bundeskanzler gesagt hat, er will ab sofort zwei Prozent des Bruttosozialproduktes ausgeben. Das ist ja jetzt relativ leicht auszurechnen, wie viel das ist und wir wissen, wie viel im jetzigen Haushalt drin ist. Das heißt, insgesamt müsste der Haushalt um 75 Milliarden steigen. Im nächsten Jahr müsste er dann aber schon um 80 Milliarden sein, vorausgesetzt, das vorausgesagte Bruttosozialprodukt in Deutschland steigt“, erklärt er.
Wie also sieht die Zeitenwende bei der Bundeswehr aus, welche Vorstellungen hat das zuständige Ministerium? Welche Konzepte gibt es?
Jürgen Trittin von den Grünen: „Ich glaube, dass das Verteidigungsministerium damit beschäftigt ist, das Geld auszugeben. Und der Haushaltsausschuss ist damit beschäftigt, das Verteidigungsministerium zu kontrollieren, dass die das nicht wieder so machen, wie sie das die letzten 16 Jahre gemacht haben.“
Einfach so weitermachen wie bisher, das geht nicht, sagt Julia Berghofer von der Denkfabrik European Leadership Network. Was sie am meisten vermisst: Ein klares Konzept, eine sicherheitspolitische Strategie, die Antworten gibt auf die neue Bedrohungslage.
Kritik an fehlender Sicherheitsstrategie
„Im Moment ist die für mich nicht ersichtlich. Die mag da sein, aber ich als jemand, der nicht in einem Ministerium arbeitet und nicht in der Bundeswehr ist, frage mich, wo diese strategische Vision ist. Wir haben jetzt eine aktuelle Situation, wir haben eine akute Bedrohung und wir haben ein konkretes Szenarium in der Ukraine und wir können uns bestimmte andere Szenarien überlegen, wie die Situation mit Russland eskalieren könnte oder nicht“, sagt sie.
Und weiter: „Aber was ist denn die längerfristige Vision? Deutschland ist jetzt in der Phase, sich eine erste nationale Sicherheitsstrategie zu geben, etwas, was wahrscheinlich lange überfällig war für ein Land unseres militärischen, diplomatischen, politischen Einflusses.“
Doch wie die neue Sicherheitsstrategie aussehen soll, ist unklar. Ebenso wie die Frage, wie die drängenden Probleme der Beschaffungspolitik gelöst werden sollen.
Auch da vermisst die Verteidigungsexpertin klare Antworten der Politik: „Für mich ist es nicht wahnsinnig nachvollziehbar, vielleicht ist da auch meine Erwartungshaltung mittlerweile schon ein bisschen reduziert. Der gesamte Prozess um das Sondervermögen herum war ja schon sehr intransparent, sehr verschwiegen, man hat immer nur diese Horrormeldungen bekommen, wenn Herr Merz versucht, die Regierung unter Druck zu setzen, aber ansonsten war alles unter der Hand.“
Auch Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sieht großen Nachholbedarf. Die Bundesregierung müsse offenlegen, wofür das 100-Milliarden-Paket ausgegeben werde. Sonst könnte die Akzeptanz dafür schnell verloren gehen.
„Frau Lambrecht wird ja auch in drei Jahren oder früher Bericht abgeben müssen, was sie denn mit dem Geld gemacht hat. Sie wird bis dahin nicht alle 100 Milliarden ausgegeben haben“, sagt er. „Aber man wird dann schon fragen, ist schon etwas fertig? Und wenn dann alle um die Ecke kommen und sagen, einen halben Panzer und eine halbe Rakete, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass der Bundestag sagt, das habt ihr ganz toll gemacht, hier habt ihr die nächsten 100 Milliarden.“