Piotr Socha & Monika Utnik-Strugata: "Das Buch vom Dreck"
© Gerstenberg Verlag
Kulturgeschichte von Schmutz und Sauberkeit
06:06 Minuten
Piotr Socha (Illustrationen) und Monika Utnik-Strugata (Texte)
Übersetzt von Dorothea Traupe
Das Buch vom Dreck. Eine nicht ganz so feine Geschichte von Schmutz, Krankheit und HygieneGerstenberg, Hildesheim 2022195 Seiten
30,00 Euro
Vorstellungen von Schmutz und Sauberkeit verraten viel über eine Gesellschaft. Piotr Socha zeichnet eine Kulturgeschichte des Drecks, von religiösen Baderitualen bis zu pandemischen Hygienevorschriften. Bilder voller herrlichem Unernst.
Wer meint, hier ginge es um den „letzten Dreck“, hat sich geirrt! Das eindrucksvolle Sachbuch mit dem knackigen Titel und dem leise ironischen Untertitel ist ein hochwertig ausgestattetes Geschichts- und Geschichtenbuch, ein unterhaltsames Lehrbuch, ein Augenschmaus und Lesespaß. Egal, ob man es vom Anfang bis zum Schluss durchliest und betrachtet oder sich lieber hier und dort von einzelnen Themen oder Bildern zum Schmökern verführen lässt.
Kein Schmutz ohne Sauberkeit
Eines wird gleich klar: Ein Buch vom Dreck ist auch immer zugleich ein Buch über die Sauberkeit und das Wasser, über Hygiene und Krankheiten. Wobei auch schnell deutlich wird, dass Schmutz und Sauberkeit sehr relative Begriffe sind und sich die Vorstellung davon durch die Jahrtausende und über die ganze Welt hinweg immer stark unterschieden haben.
Hygieneregeln bei den alten Ägyptern, religiöse Baderituale bei Moslems und Juden, Sauberkeitsvorstellungen mittelalterlicher Eremiten, barocke Miniläusefallen in Perücken oder schließlich moderne Duschorgien haben kaum einen gemeinsamen Nenner. Ganz abgesehen von Hygienevorschriften während der Pandemie.
Redensarten über stinkenden Dreck
Piotr Socha und Monika Utnik-Strugala stellen eine Unmenge von faszinierenden Fakten, Aspekten, Regeln und Produkten zum Thema Dreck bzw. Sauberkeit vor: Wasch- und Baderituale, die Entwicklung von Wasserleitungen und Toiletten, Klopapier und Zahnbürsten, Haar- und Bartpflege sowie die Entstehung von Krankheiten und Bademoden.
Interessant sind auch Beobachtungen zu Redensarten über Schmutz und Sauberkeit, hinter denen sich spannende Geschichten verbergen. Nicht nur „schmutzige Absichten“ „stinken zum Himmel“!
Nationalsozialistische "Hygiene"
Das Buch spart auch nicht mit kuriosen Details aus dem Intimbereich, ob es sich um die Salben afrikanischer Frauen, den geruchlosen Schweiß vieler Chinesen oder die Weltraumklos der Astronauten handelt.
Und schließlich geht das Künstlerduo auch auf die unheilvolle rassentheoretische Interpretation der Begriffe Gesundheit und Hygiene ein. Von Kolonialismus und Rassendiskriminierung im Namen der Sauberkeit bis hin zum indischen Kastendenken und der nationalsozialistischen "Rassenhygiene" – die Folgen eines falschen Sauberkeitswahns waren und sind grauenhaft!
Knallbunte Illustrationen
Zum besonderen Ereignis wird dieses unterhaltsame Kindersachbuch aber durch seine großartigen Bilder und Illustrationen. Ganzseitig, zum Teil auch doppelseitig, oft frech, meist knallbunt springen sie dem Betrachter förmlich entgegen. Sochas ganz eigener Stil – flächige Räume, plakative Figuren, dekorative Details, kreative Ideen und sehr witzige Arrangements – spricht uns unmittelbar an.
Dazu strahlen seine Bilder – neben den soliden, gut recherchierten Texten – einen herrlichen Unernst aus. Einsiedler, Täuflinge, Saunagänger, perückentragende Damen, Krankenschwestern oder Heilige, sie alle strotzen förmlich vor fröhlicher Naivität und Selbstzufriedenheit. Fast jedes Thema bekommt dadurch einen schelmischen Beigeschmack.
Lange nicht mehr hat es so viel Freude gemacht, alte Vorstellungen von Dreck und Sauberkeit kennenzulernen oder infrage zu stellen und neue Seiten dieses tollen Themas zu entdecken!