Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres"

Die junge Frau und das Meer

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Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres". (Mare Verlag / Deutschlandradio)
Bram Stokers gelingt in seiner Erzählung eine geschickte Verschiebung der Perspektive. © MARE Verlag / Deutschlandradio
Von Günther Wessel · 21.04.2020
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Mit dem 1897 erschienenen Gruselroman „Dracula“ ist Bram Stoker selbst unsterblich geworden – zu Recht. Sein Talent für Spannungsbögen und Melodramatik beweist er auch mit dieser Erzählung, die erstmals auf Deutsch erscheint, eindrucksvoll.
Der Plot der Geschichte ist simpel: In einem Dorf voller Schmuggler an der stürmischen Küste im Nordosten Schottlands leben der pflichtbewusste junge Zöllner William und die Fischerstochter Maggie. Die beiden sind verlobt. Maggies verarmter Vater wird von einem Schurken, bei dem er verschuldet ist, gezwungen, mit seinem Boot Konterbande an die Küste zu bringen.

Was zählt mehr: Liebe oder Pflicht?

Zöllner William erfährt davon und gerät in einen klassischen Konflikt: Pflichterfüllung oder Liebe, Dienstherr oder Familie, Tugend oder Schuldenfreiheit – der Stoff, aus dem Tragödien bestehen. Vor allem auch, weil Maggie ihren William gerade wegen seiner treuen aufrechten Pflichterfüllung liebt.
Und so ringen und hadern die Verlobten, sinken sich in die Arme, beteuern ihre Liebe und zweifeln, während draußen der Sturm immer heftiger auf dem Meer wütet und so schon eine Ahnung vom tragischen Ende der Geschichte vermittelt.

Geschickte Verschiebung der Perspektive

Bram Stokers Erzählung ist typisch für das späte 19. Jahrhundert mit all seinen Zutaten für einen echten rührseligen Schmachtfetzen, würde dem Autor nicht etwas ganz Besonderes gelingen: eine geschickte Verschiebung der Perspektive. Ist zunächst Zöllner William in seinem Gewissenskonflikt die vermeintliche Hautfigur und Maggie nur eine schwärmerische Seele, so rückt Seite für Seite Maggie in den Mittelpunkt der Erzählung.
Sie fährt eher verzweifelt als wagemutig in einem kleinen Ruderboot hinaus aufs tobende Meer, um ihren Vater vor der drohenden Verhaftung durch seinen zukünftigen Schwiegersohn zu warnen. Zweiter Protagonist wird das stürmische, tobende Meer.
Spannend, sprachgewaltig und atmosphärisch dicht beschreibt Bram Stoker im dritten der fünf Kapitel - seine Erzählung hat den klassischen Aufbau eines Dramas in fünf Akten - wie Maggie sich ein Fischerboot schnappt, die scharfen Klippen an der Küste umfährt, wie die tosenden Brecher sie überspülen und sie dabei ganz neue Facetten ihrer Persönlichkeit zeigt. Entschlossen statt hadernd, selbstbestimmt und selbstbewusst.

Eine sprachgewaltige Entdeckung

Sie kämpft gegen das Meer, das sie zu vernichten droht und das sich immer stärker zum persönlichen Gegenspieler Maggies entwickelt. Es wirkt fast so, als habe das Meer die Absicht, die Fischerstochter scheitern zu lassen. Als sei es das Schicksal und fordere ein Opfer für die Ehrenrettung des Vaters – ein Opfer, das es am Ende auch erhält: Die Liebenden sind erst im Tode wieder vereint.
Bram Stokers kurzweilige Erzählung ist eine echte Entdeckung. Sie ist mit ihrer Wahrnehmung und Schilderung der stürmischen Nordsee ein beeindruckendes Stück Nature Writing, hervorragend übersetzt von Alexander Pechmann, der auch ein sehr lesenswertes Nachwort geschrieben hat.
Zudem ist der Band wundervoll gestaltet: Leineneinband, Lesebändchen und im kleinen Schuber - somit auch optisch und haptisch ein Vergnügen. Wie natürlich ein großes Leseabenteuer!

Bram Stoker: "Der Zorn des Meeres"
Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Pechmann
Mare, Hamburg 2020
174 Seiten, 20 Euro

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