Boris Groys: „Philosophie der Sorge“

Ungezügelte Assoziation, folgenlose Erkenntnis

06:14 Minuten
Auf dem Cover ist in blauer Farbe der Buchstabe "P" abgebildet, darüber der Autorenname und der Buchtitel.
© Claudius Verlag

Boris Groys

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stauder

Philosophie der SorgeClaudius Verlag, München 2022

144 Seiten

20,00 Euro

Von Pascal Fischer · 08.09.2022
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In „Philosophie der Sorge“ umkreist Boris Groys in zwölf Essays den Begriff der Sorge. Von der Fürsorge über die Sorge um den guten Ruf bis hin zur staatlichen Gesundheitsvorsorge: Hier wird wild, aber folgenlos herumassoziiert.
Vollmundig preist Slavoj Žižek dieses Buch an: Groys zeige, wie wir aus dem Schlamassel gerade herausfänden. Gemeint ist die Corona-Pandemie – neben anderen Krisen – und sie habe gezeigt, dass die Sorgearbeit Epoche bestimmend sei.
Befinde ich über meine Gesundheit oder doch der Staat? Als Unwissender kann ich über Heilverfahren nur durch einen irrationalen Glaubensakt entscheiden. Schwierig, ist doch unser Leib einer staatlichen Biopolitik unterworfen, die wiederum eine Urenkelin der sorgenden Religion ist, wie Groys durchgängig in klugen Analogien aufzeigt. 

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Dabei sei die Sorge elementar für unsere Existenz: als Fürsorge, Selbstsorge, medizinische Heilung; aber auch als Sorge um den eigenen Ruf, ob nun als Privatperson im Netz oder als Künstler in der Kunstwelt. Stets gelte es, Autonomie und Abhängigkeit von den anderen auszutarieren: Wie alternativ darf ich leben? Wie revolutionär kann ein Künstler sein?
Die gesamte Philosophiegeschichte, womöglich auch Kulturgeschichte, lasse sich als Geschichte der Sorge umschreiben. Doch das Buch kündigt hier eine Systematik an, die ihm letztlich fehlt.  

Essaysammlung statt Monografie

So schrumpft der Kanon auf die Steckenpferde des sowjetischstämmigen Theoretikers zusammen: Platon, Hegel, Kojève, Nietzsche, Heidegger, Arendt; von Georges Bataille oder Nikolai Fjodorow lässt sich Groys streckenweise ins Esoterische fortreißen. Eigentlich sind die zwölf Kapitel für sich stehende Interpretationen großer Denker, zusammengehalten durch das Wortfeld der Sorge und gewollte Überleitungen. 
In Foucaultscher Manier berauscht Groys sich gerne daran, in Phänomenen ihr Gegenteil aufzuspüren: Der Staat wolle uns gesund machen, eigentlich aber mache er uns krank. Im Netz stelle man sich einzigartig dar, eigentlich aber als Allerweltsperson. Vereinzelte Blicke in die Medizingeschichte münden in steile, abwegige Thesen.  
Denn hier regiert die ungezügelte Assoziation, als Ergebnis steht eine folgenlose Erkenntnis: Der menschliche Körper werde durch das System der Sorge zu einem Readymade – und nun? Die wachsweiche Unverbindlichkeit beginnt auf der Satzebene: „Man kann behaupten…“ Kein Schluss scheint zwingend.
Espritreicher sind wenigstens die vielen Analogien: Wie die Kirche einst die Seele, so umsorge der Kulturbetrieb den Ruhm längst gestorbener Künstler – ihr Körper ist ein symbolischer, ewiger geworden.

Folgenlose Philologie

Letztlich zeigt Groys gerade nicht, wie wir unsere Autonomie zurückgewinnen können. Ein Übermensch-Leben jenseits staatlicher Sorgestrukturen ist allenfalls Starken und Jungen vergönnt. Deprimierend und abrupt endet das Buch mit einer literarischen Figur, die sich selbst verbrennt und das Autonomiestreben vergeigt, weil dieser Suizid etablierten kulturellen Mustern folge … 
Es ist eine Volte im Buch, dass Nietzsche sich als Unverstandener inszenierte und sich doch um den Ruf des Publikums sorgte – nur eben des zukünftigen. Boris Groys tut das nicht. Angesichts der Heroen Nietzsche und Marx erschüttert es, wie diese Philologie die Welt auf keinen Fall verändern will. 
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