Bob Dylan: "Rough and Rowdy Ways"

"Etwas Derartiges hat Dylan noch nie gemacht"

07:14 Minuten
Schwarz-weiß Fotografie von Bob Dylan während eines Auftritts im Hyde Park im vergangenen Jahr. Er sitzt am Klavier, singt ins Mikrofon und trägt einen Hut mit breiter Krempe und Silberband, schwarzes Hemd und hellgrauen Sakko mit Pailletten und Stickmuster.
Bob Dylan zeige auf seinem Album die Weite seines Universums, als sei es ein Abendspaziergang durch seinen Garten, sagt Heinrich Detering © Getty Images / Dave J Hogan
Heinrich Detering im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.06.2020
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"Rough and Rowdy Ways" ist Bob Dylans erstes Album mit eigenen Songs seit 2012. Der Dylan-Experte Heinrich Detering fühlte sich beim Hören "wie vom Donner gerührt" - so reich sei das Universum des Musikers, so neu und doch vertraut seine Songs.
Dieter Kassel: Es ist nicht irgendein Freitag heute. Es ist zwar so, dass freitags immer neue Musikalben erscheinen, aber heute sind das ein paar ganz besondere. Zum Beispiel das, um das es jetzt gehen soll, denn nach seinem Album "Tempest" im Jahr 2012 hat Bob Dylan zwar noch drei weitere Alben veröffentlicht, aber das waren alles Songs aus dem so genannten "Great American Songbook". Also Bob Dylan hat sich sozusagen da als Coversänger etabliert. Das war eine interessante Erfahrung, vermutlich auch für ihn, ganz sicher für seine Fans, aber es bedeutete für Letztere auch relativ langes Warten auf neue Songs des Meisters.
Das Warten hat heute ein Ende. Heute erscheint das erste echte Dylan-Album seit acht Jahren, "Rough and Rowdy Ways" heißt es. Wir haben dafür gesorgt, dass Heinrich Detering, Literaturwissenschaftler und Autor einer ganzen Reihe von Büchern über Bob Dylan und sein Werk, dass er das Album schon gestern hören konnte und inzwischen, glaube ich, sogar ein paar Mal.
Für Sie ist das jetzt fast schon eine ungewöhnlich schwierige Situation, nach ungefähr 24 Stunden, sogar ein bisschen weniger, Zugriff auf dieses Album schon drüber zu reden. Sie haben, ich weiß, es inzwischen sogar auch mehrmals gehört, aber nach dem allerersten Hören, was war da Ihr spontaner Eindruck?
Detering: Überraschung. Wir haben alle, wenn wir uns dafür interessiert haben, in den letzten vier Wochen ja schon drei wichtige Songs aus diesem Album hören können, die Dylan selber gratis und for free vorab veröffentlicht hat. Ich habe dann viel gelesen über das Album in Rezensionen aus den Vereinigten Staaten vor allen Dingen und dachte, ich kann mir ziemlich genau vorstellen, wie es klingen wird und war gestern, ich muss schon sagen, vom Donner gerührt, als ich es zum ersten Mal hörte. Etwas Derartiges hat Dylan in seiner ganzen Laufbahn noch nie gemacht. Es ist was ganz Neues, obwohl einem so vieles im Einzelnen vertraut und bekannt vorkommt.

Dylans Universum von der Bibel bis zur Populärkultur

Kassel: Das ist extrem lustig, weil ich habe nur ein einziges Interview von ihm gefunden – ich glaube, es ist tatsächlich das einzige –, das er zum Album schon vor dessen Veröffentlichung gegeben hat, das war in der "New York Times", und da hat er sinngemäß gesagt, er würde eigentlich stets mehr oder weniger dem Stil treu bleiben, den er am besten draufhabe. Das klingt jetzt nicht so, als ob Sie das bestätigen könnten.
Detering: Er macht noch einmal auf einer aber sehr viel höheren Ebene, sozusagen mehrere Spiraldrehungen weiter nach oben das, was er zuerst 2001 auf seinem Album "Love and Theft" gemacht hat. Dieser Titel "Love and Theft", Liebe und Diebstahl, war damals schon als Zitat markiert, stand in Anführungszeichen, war der Titel eines Gelehrtenbuches über die amerikanische Populärkultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das macht er wieder. Er klaut, aber diesmal gibt er jedes Mal, nicht jedes Mal, aber sehr häufig, an, woher er gestohlen hat und wie er das Gestohlene zusammengesetzt hat. Er zeigt die Klebekanten sogar vor.

Wolfgang Niedecken über das neue Dylan-Album:

Bob Dylan sei ein Lyriker, sagt BAP-Sänger Wolfgang Niedecken in der "Tonart" über Dylans neues Album und fügt bewundernd hinzu: "Bei einem Stück wie 'Murder Most Foul', das fast 17 Minuten dauert, da nimmt er sich alle Zeit der Welt."
An seine erste Begegnung mit einem Song von Bob Dylan erinnert sich Wolfgang Niedecken noch genau. "Ich habe ja meine Kindheit, meine Jugend mit den Beatles, mit den Stones verbracht und habe in einer Band gespielt", erzählt er, aber als er das erste Mal den Song "Like a Rolling Stone" von Dylan hörte, war es um ihn geschen. "Von dem Moment an, da hat er mich gehabt. Das hat mich sowas von weg geflext."

Worauf er als Dylan-Fan bei einem neuen Album seines Idols am meisten achte? Niedecken fragt zurück: "Worauf achtet man bei Tomatensuppe, auf die Tomaten oder aufs Wasser?"

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Das, was er geklaut hat, kommt mittlerweile aus so vielen unterschiedlichen Traditionsbeständen der amerikanischen Hochkultur und Populärkultur, der europäischen Kultur, der Antike und Shakespeares und der Bibel und des Blues und des frühen Rock’n’Roll, des Gospels, dass man schon die Fülle oder die Weite dieses Universums nicht so schnell erfassen kann, durch das Dylan so spaziert, als sei es ein Abendspaziergang durch seinen Garten.
Kassel: Was ich daran so faszinierend finde … Ich muss es ehrlich zugeben, weil ich auch nicht gerne lüge im Radio, ich kenne nur die drei Songs, die schon vorher veröffentlicht wurden. Wir hatten sozusagen die Wahl, Detering oder Kassel, nur einer konnte das Album vorher kriegen, aber was mich wundert, ich kann das alles nachvollziehen, was Sie sagen, und trotzdem ist es nicht so, dass man nicht mehr mitkommt, finde ich, beim Hören.
Detering: Nein, im Gegenteil. Ich habe mich auch gefragt, das Album ist eines, das ich Leuten, die – und ich kenne viele solcher Leute – mich etwas skeptisch angucken und sagen, ja, aber Dylan, dieses Riesenwerk, wo soll ich da überhaupt noch mal mit anfangen, wo steigt man da ein, denen würde ich sagen, nehmt dieses Album. Zugleich würde ich Leuten, die schon alles zu wissen glauben über Dylan und alles auswendig kennen, sagen, nehmt dieses Album. Er benutzt noch einmal, er bewegt sich noch einmal auf all den Wegen, die er im Laufe seiner nun 60-jährigen – man muss sich mal vorstellen, 60 Jahre nimmt der Mann Songs auf – Karriere zurückgelegt hat. Er bewegt sich auf diesen Wegen, aber es sind viel mehr als man gedacht hat, viel weitläufigere Wege, und sie vernetzen sich miteinander.
Ich habe gedacht, es ist so, als hörte man dieses Album ganz leicht und ohne besondere Eingangsvoraussetzungen. Man muss nicht viel über Dylan wissen, man muss auch nicht viel über die zitierten Zusammenhänge wissen. Es ist keine Geheimnistuerei und kein Bildungsgehubere, auch kein popgeschichtliches Bildungsgehubere darin. Man hört die Platte leicht und, ich glaube, mit viel Entzücken und manchmal sogar mit Rührung, aber unter ihr liegen drei, vier, fünf, zehn, zwanzig weitere Platten. Es ist dieselbe Platte noch einmal und noch einmal und noch einmal, und ich glaube, man wird einige Monate brauchen, um all diese Platten mit herausgehört zu haben, die auch noch drinstecken.

Beschwörung der Kunst gegen die Düsternis der Geschichte

Kassel: In dem Song "False Prophet", den wir gleich auch hören werden und der schon vorher rausgekommen ist, einer der drei, den viele deshalb schon kennen, da singt er annähernd wörtlich, er habe sein Herz der Welt geöffnet, und die Welt kam hinein. Im Rest des Textes wirkt er aber nicht so richtig glücklich über diese Entwicklung, aber trotzdem klingen Sie jetzt so, als ob Sie nicht das Gefühl haben, er verschließt sich der Welt wieder.
Detering: Nein. "I opened my heart to the world and the world came in", the world heißt hier zunächst Weltgeschichte. Das Album handelt in einem sehr viel größerem Maße als, glaube ich, alle erwartet haben, von Geschichte. Es kommt Julius Cäsar vor, und es gibt einen Song über den Rubikon, und da ist wirklich Cäsars Rubikon gemeint und nicht nur die Redensart. Es gibt einen Song an die griechische Göttin der Musen und viel Homer steckt darin, vor allem aber amerikanische Geschichte. Das kulminiert dann in diesem 17-minütigen Song über die Ermordung John F. Kennedys, der sich als ein Song erweist über den Niedergang Amerikas seit den 1960er-Jahren bis in die Trump-Ära, ein großer, epischer, majestätischer Song.
Die Welt, die da hereinkommt, ist voller Schmerzen und Gewalt, Unterdrückung der Schwarzen, Klassenkonflikten, Gewalttätigkeit, ein Gewaltzusammenhang, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Trotzdem haben die Songs manchmal etwas fast Heiteres und Beschwingtes, weil er immer wieder, auch im Kennedy-Song, auch in "False Prophet", die Gegenkraft der Kunst beschwört, und man muss sagen, er beschwört sie. Die Hymne an die Mnemosyne, die Mutter der Musen, ist eine Hymne an die musikalische Kunst selbst. Poesie und Gesang können nichts verändern, das glaubt er jedenfalls nicht, aber sie können trösten, stärken, die Widerstandskraft aufbauen. Darum ist das Album vielleicht noch mehr als ein geschichtspessimistisches Zeugnis, ein amerikapessimistisches Zeugnis, eine Liebeserklärung an die Kunst, vor allem an die Musik.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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