Artenvielfalt

Das größte Massensterben seit 66 Millionen Jahren

30:31 Minuten
Ein Feuersalamander auf einem Baumstamm
Zu den stark gefährdeten Amphibien gehören neben Molchen, Unken, Kröten und Fröschen auch die Salamander. © picture alliance / Zoonar / Gerd Herrmann
Von Marko Pauli · 24.03.2022
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Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Die meisten Menschen scheinen davon jedoch unbeeindruckt. Doch was steht uns damit eigentlich bevor - und wie wirkt sich der Verlust auf uns Menschen aus?
Freundlich schauen die Konferenzbesucher zu Greta Thunberg hoch auf die Bühne. Sie schaut fassungslos zurück. Ein gutes Bild eigentlich. Denn das große Artensterben von dem sie spricht: Es scheint, als hätten wir nicht begriffen, dass es vor sich geht. Wir sitzen bloß da, als hätten wir nichts damit zu tun.

Mitten im sechsten Massensterben

Das letzte große Sterben fand vor etwa 70 Millionen Jahren statt, Opfer waren unter anderem die Dinosaurier. Heute sterben jeden Tag etwa 150 Arten - Tiere und Pflanzen - auf dieser Welt aus, kehren nie wieder zurück.
„150 Arten am Tag heißt ja, wir haben 150 Mal eine ganz eigene Historie, Geschichte, Evolution sozusagen vernichtet, die über Jahrmillionen angewachsen ist, die Erfahrungen gesammelt hat, die sich angepasst hat et cetera. Von daher: Ein Wissen in Form der genetischen Zusammensetzung der Eigenschaften einer Art geht jeden Tag 150-fach verloren“, sagt Josef Settele, Autor des Buchs "Die Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien".
Es dauert sehr lange, bis eine neue Tier- oder Pflanzenart entsteht, bei Säugetieren vergehen dafür etwa eineinhalb Millionen Jahre.
„Das Erschreckende ist eben, dass wir ja draußen in der Natur gar nicht so schnell mit dem Beschreiben hinterherkommen, wie wir jetzt Arten verlieren. Aber eben gerade Arten, die wir noch gar nicht kennen. Das sind eben alles Kettenglieder eines ökologischen Netzes, das unsere Lebensräume eigentlich aufbaut“, sagt Matthias Glaubrecht, Autor des Sachbuchs "Das Ende der Evolution: Der Mensch und die Vernichtung der Arten".
Es gibt ausgeklügelte Pläne, die Artensterben und Klimakrise gemeinsam angehen, die umsetzbar und sogar bezahlbar sind. Doch angesichts des derzeitigen Handelns der Regierungen der Welt erscheinen sie als unerreichbare Utopie. Und währenddessen geraten die letzten, besonders artenreichen Zonen rund um den Äquator immer mehr unter Druck.

Artenreiche Zonen am Äquator unter Druck

Die tropischen Regenwälder bedecken zwar nur noch rund sieben Prozent der Erdoberfläche, doch Schätzungen zufolge leben hier mehr als 30 Millionen Arten: etwa die Hälfte aller Tier- und Pflanzenarten insgesamt. Was für einzigartige Lebensräume die Regenwälder sind, ist in den Aufnahmen des Bioakustikers Bernie Krause zu erahnen. "Biophonien" nennt er das Zusammenspiel der einzelnen Tierstimmen - ein "Orchester der Tiere", in dem jede Tierart eine eigene akustische Nische besetzt. 
Hier lebten unsere Vorfahren, sagt Bernie Krause, eng verbunden mit der Natur, und hier verortet er auch die Ursprünge der menschlichen Kultur.
„Die Tiere haben uns das Tanzen und Singen beigebracht. Aus den Tierstimmen der Orte, in denen wir einst mit ihnen lebten, haben wir die Rhythmen, die Melodien herausgehört und nachgeahmt. Wir haben diese natürlichen Klänge dann in unseren musikalischen Ausdruck integriert. Und daraus entwickelte sich nicht nur die Musik, sondern auch die Sprache. In den Wäldern rund um den Äquator leben immer noch kleine Gruppen von Menschen, die eng mit dieser natürlichen Welt verbunden sind und daraus ihre Musik, Sprache, aber auch Spiritualität und Medizin ableiten.“

Evolutionäre Begleiter des Menschen schwinden

Auch wenn sich die Linie von Tier- und Pflanzenklängen zur menschlichen Sprache und Kultur sicher nicht so eindeutig ziehen lässt: Was bedeutet es, wenn Klang-, Stimm-, Sprachvorbilder verschwinden? Wenn es immer stiller um uns wird? Tiere und Pflanzen sind evolutionäre Begleiter, geht mit ihrem Verlust nicht auch etwas in uns verloren?
„Also wir haben ja versucht, in diesem globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrates, 2019 war das gewesen, den Stand der Dinge bis dahin zusammenzufassen.“
Josef Settele ist Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle und Autor des Buchs "Die Triple-Krise: Artensterben, Klimawandel, Pandemien". Er ist auch für den Weltbiodiversitätsrat tätig.
„Das war ein Team von insgesamt 500 Leuten an dem Bericht. Und da hatten wir damals das Statement gehabt, dass eine Million Arten von acht Millionen, von denen wir ausgegangen sind, mittelfristig vom Aussterben bedroht ist, wenn wir nicht gegensteuern.“
Die Experten des Biodiversitätsrats haben rund 15.000 Studien ausgewertet, um auf diese Schätzung zu kommen.

Eine Million Arten vom Aussterben bedroht

Es sei eine konservative Abschätzung, sagt Josef Settele. "Auch deshalb, weil wir nicht den Alarmismus verbreiten wollen, sondern dafür sorgen wollten, dass die Daten zumindest mal das Minimum an Aussterben wiedergeben.“
„Das Überraschende für Biodiversitätsforscher ist aber, dass wir einen Bruchteil überhaupt nur im Blick haben.“
Matthias Glaubrecht, Direktor des Centrums für Naturkunde an der Universität Hamburg, und Autor des Sachbuchs "Das Ende der Evolution: Der Mensch und die Vernichtung der Arten".
„Es gibt eben sehr viel mehr Arten, die noch gar nicht beschrieben sind. Das ist erst einmal das erste verblüffende Faktum, wenn es um Artenvielfalt geht, dass wir gerade in den äquatorialen Regionen, in den Tropenwäldern vor allen Dingen, die wir ja im Übermaß abholzen, dass wir da eine große Artenvielfalt haben und dass diese Artenvielfalt aber keine Vielfalt ist, die wir jetzt bei Vögel oder Säugetieren sehen, sondern dass die gerade bei den Wirbellosen, bei den Insekten und vielen anderen Gruppen ist.“

Mit den Insekten sterben die Vögel

Hierzulande rückte der Verlust der Biodiversität mit der "Krefelder Studie" zum Insektensterben ins öffentliche Bewusstsein. Für diese hatten Entomologen zwischen 1989 und 2015 an über 60 Standorten Daten gesammelt und verglichen. Ergebnis: In den vergangenen 30 Jahren gab es in Deutschland mehr als 75 Prozent Verlust an Biomasse bei Fluginsekten.
„Das bedeutet, wir verlieren nicht einzelne Arten, sondern wir verlieren die Individuen, die Substanz, die Masse der Insekten. Und das ist dann kein Wunder, dass zum Beispiel eine Großzahl der Vögel auch verschwunden ist. Die jüngsten Zahlen deuten an, dass wir in der EU möglicherweise 600 Millionen Vögel weniger haben als noch vor einigen Jahrzehnten. Das heißt, um uns herum stirbt die Natur.“
Eine kaum begreifbare Tatsache.
„Es ist schwer zu fassen. Das stimmt. Und die Bedeutung der Vielfalt – und des Menschen als Teil der Vielfalt – ist nicht einfach rüberzubringen.“

Was tun gegen Teilnahmslosigkeit?

Erklärt das die allgemeine Teilnahmslosigkeit, mit der dem Sterben begegnet wird?
„Meine Theorie ist, dass wir uns immer mehr von unserm Ursprung abzweigen. Ist ja schön und gut, dass wir technologische Fortschritte haben, die uns wissenschaftlich alles Mögliche ermöglichen, auf der anderen Seite verlieren wir ein bisschen den Zugang zur Umwelt, zur Natur, zu unserem eigentlichen Ursprung.“
Moira Folk macht kurz Pause. Sie hält eine Hacke in der Hand, mit der sie die Wurzeln des japanischen Spierstrauchs aus der Erde arbeitet. Als eine von etwa 30 Freiwilligen, die heute mithelfen, ein Moorgebiet in Hamburg intakt zu halten.
„Ich glaube, es fehlt tatsächlich einfach das Wissen. Ich habe mit einer Freundin darüber geredet, dass ich einen Mooraktionstag mitmache. Da hat sie gefragt: ‚Warum ist das denn wichtig?‘ Da hab ich gesagt: ‚Das ist wichtig, auch für den Klimaschutz, dass die Moore erhalten bleiben‘.“
Das Flaßbargmoor liegt mitten in Hamburg, doch zeigt sich hier eine ganz und gar unstädtische Welt: Wilde Wiesen und kleine Teiche, in denen Frösche zuhause sind, hohe Bäume, zwitschernde Vögel, weiter hinten kreist ein Habicht. Der idyllische kleine Rest einer früher ausgedehnten Moor- und Heidelandschaft. Die Biologin Julia Glischinski ist Referentin für Moorschutz beim NABU und leitet den Aktionstag.
„Moore erfüllen sehr viele Funktionen, beginnend beim Klimaschutz als Kohlenstoffsenke, zum anderen sind sie wichtig für den Artenerhalt, denn sie haben eine hohe Vielfalt, die nur in diesen Gebieten vorkommt. Das sind zahlreiche Vogelarten, die in Mooren brüten, aber auch Amphibien, wo wir auch einen dramatischen Verlust verzeichnen, und auch viele Pflanzenarten.“

Rettende Inseln für bedrohte Arten

Mit den Pflegeeinsätzen soll der natürliche Zustand wiederhergestellt – und den Arten geholfen werden, sich wieder auszubreiten. Ein intaktes Moor ist eine rettende Insel für auch entfernt lebende Arten.
„Hier ist alles drumrum dicht bebaut und versiegelt, zugepflastert. Das ist hier so'n kleiner Trittstein für viele Tier- und Pflanzenarten. Es bringt ja nichts, wenn wir nur einen isolierten Bereich haben, die Arten müssen sich auch austauschen. Da ist diese kleine Oase sehr wichtig für den Arterhalt.“
Schiffe, auf denen Baufahrzeuge stehen, sind vor der Insel Fehmarn positioniert.
In Deutschland existieren zwar viele Schutzgebiete auf dem Papier, im Zweifelsfall obsiegen aber oft wirtschaftliche Interessen: der geplante Fehmarnbelt-Tunnel führt durch ein Meeresschutzgebiet.© picture alliance/dpa / Frank Molter
Eigentlich sollen die Bundesländer zehn Prozent ihrer Flächen für solche Biotope zur Verfügung stellen, so ist es seit 20 Jahren im Bundesnaturschutzgesetz verankert. Aber die Länder kommen dem Ziel nur unzureichend nach, die Regelung ist nicht wirklich verbindlich und es droht keine Strafe bei Nichterreichen. Doch fehlende Lebensräume und Verbindungen zwischen ihnen sind ein Grund für den dramatischen Rückgang der Arten und ihrer Populationen in Deutschland. Ein Viertel der hiesigen Pflanzen-, Pilz- und Tierarten gilt als gefährdet.
„Dass ich vor Ort etwas tun kann, und wenn es nur kleine Inseln sind, die wir hier schaffen können, ist das für mich Motivation genug. Wenn wir hier zum Beispiel den japanischen Spierstrauch zurückdrängen und hier eine Magerwiese entsteht und die einheimischen Insekten sich wieder ansiedeln können, dann ist das ein Gewinn.“

Mensch als Ursache des Artensterbens

Während die vorherigen Massensterben der Erdgeschichte durch Umweltkatastrophen ausgelöst wurden - durch Sauerstoffmangel oder Meteoriteneinschläge etwa -, ist das jetzt stattfindende sechste große Artensterben eindeutig vom Menschen verursacht.
„Was ist der Hauptverursacher des Verlustes von Artenvielfalt?“
Matthias Glaubrecht gibt selbst die Antwort: „Das ist die euphemistisch so genannte ‚Landnutzungsänderung‘. Soll heißen: für unsere Äcker, für unsere Ernährung, für unseren Fleischkonsum roden wir im Amazonas zum Beispiel, aber auch in anderen Erdregionen, Südostasien, vernichten wir Regenwälder. Die sind nicht nur wichtig für den Klimahaushalt unserer Erde, sondern die sind natürlich für den Erhalt der Artenvielfalt ganz, ganz wichtig.“
Die geraubten Lebensräume stehen an erster Stelle der Hitliste des Sterbens, die Josef Settele fortführt.
„Gefolgt von der direkten Ausbeutung, gerade im aquatischen Bereich, Meeresbereich, Fischerei zum Beispiel, ein ganz wichtiger Punkt; dann Platz drei bereits Klimawandel für die letzten 50 Jahre als auch direkter Treiber für die Veränderung der Artenvielfalt und der Ökosysteme. Platz vier ist dann Umweltverschmutzung, Chemikalien in der Umwelt, was zum Teil mit der Nutzung kombiniert ist, Pestizideinsatz ist ein Thema hier, und Platz fünf in der Rangliste sind invasive Arten. Das sind diese Top Five, wenn man diese kategorisieren wollte im Vergleich. Wobei es klar ist, dass gewisse Treiber stärker werden. Und Klimawandel wird sicher nach und nach die anderen überholen und zumindest sehr stark aufschließen.“

Das funktionale Netz der Arten zerreißt

Wenn Arten aussterben, wirkt meist eine Kombination der Faktoren, erklärt Josef Settele anhand der stark gefährdeten Amphibien – der Salamander, Molche, Unken, Kröten und Frösche.
„Amphibien leiden ja unter Klimawandel, ist klar, Trockenheit. Und Amphibien brauchen es feucht, vereinfacht gesagt. Sie leiden unter Lebensraumverlust, Landnutzung, und sie leiden unter einem Pilz, der sich über die Welt verbreitet hat, also eine Art invasive Pilzart, die noch dazu beitrug. Wenn die Kombination da ist, hat man als Tiergruppe oder als Pflanzengruppe besonders schlechte Karten, das ist so'n Beispiel, deswegen geht's den Amphibien so schlecht.“
Jede aussterbende Tier- oder Pflanzenart spielt dabei eine funktionelle Rolle in ihrem Lebensraum, sagt Matthias Glaubrecht.
„Wenn wir die rausnehmen - und wir wissen das von einzelnen Arten exemplarisch - dann reißt so eine ökologische Verbindung, so ein Netz. Und das können Sie sich vorstellen wie in so einem Sicherungsnetz, das sie im Zirkus haben. Da können sie einzelne Maschen rausnehmen. Aber irgendwann verliert das Netz seine Stabilität. Und wir kennen viel zu wenig funktionelle Zusammenhänge, um vorhersagen zu können, wann das genau ist. So wenig, wie die Klimaforscher genau sagen, wann ein Kipppunkt in ihrem System erreicht ist.“

Regenwald am Kipppunkt

Für den Amazonas-Regenwald könnte dieser Kipppunkt erreicht sein. Eine im März 2022 veröffentlichte Studie, für die Satellitendaten der vergangenen 30 Jahre ausgewertet wurden, kommt zu dem Ergebnis, dass die Widerstandsfähigkeit des Regenwalds messbar abgenommen hat. Der Wald benötigt immer länger, um etwa nach einer Trockenperiode wieder in den ursprünglichen Zustand zu kommen. Ein typisches Merkmal für Systeme nahe am Kipppunkt. Mit dem langsamen Niedergang des Regenwalds wird auch die Artenvielfalt weiter schrumpfen. Mit welchen Folgen?
„Wenn Sie daran denken, dass wir von morgens bis abends alles, was die Natur produziert, für unsere Ernährung und zu unserem Wohlbefinden brauchen. Sie können bei den Nahrungsmitteln anfangen: Sie nehmen den Kaffee oder den Tee oder Sie nehmen Früchte, all das sind zum Beispiel weitestgehend Pflanzen, Obst und Gemüse, die von Insekten bestäubt werden“, sagt Matthias Glaubrecht.
In Deutschland leben etwa 550 Wildbienenarten, 30 davon erledigen den Hauptteil der Bestäubung von agrarischen Produkten. Sterben einige dieser Bestäuberarten aus, könnten theoretisch manche der anderen Arten einspringen. Viele Arten sind also auch eine Versicherung dafür, dass es weiterhin Obst und Gemüse gibt. Doch sie droht verloren zu gehen: beinahe die Hälfte aller Wildbienenarten gilt als gefährdet oder vom Aussterben bedroht.
Neben Obst und Gemüse zählen Fisch und Meerestiere zu den meist gehandelten Lebensmitteln. Theoretisch eine erneuerbare Ressource. Nachhaltig bewirtschaftet, kann sie Menschen unendlich lange ernähren. Doch trotz schwindender Populationen holt die Fischereiindustrie jedes Jahr mehr Fische aus den Ozeanen. Bis zu 80 Prozent davon verendet nach wie vor als ungewollter Beifang. Darunter viele Jungfische, die sterben, bevor sie selber Nachkommen haben. Seit 1970 sind laut dem letzten Living Planet Report die Populationen um 68 Prozent zurückgegangen.

Mit Artenschwund drohen Hunger und Krankheit

Artenvielfalt ist aber auch eine Grundlage für die erfolgreiche Entwicklung von Medikamenten, ergänzt Josef Settele.
„70 Prozent unserer Krebsmedikamente weltweit basieren auf natürlichen Substanzen, die wir der Natur entnommen und weiterentwickelt haben zum Teil. Also im Prinzip auch eine ganz wesentliche Basis des menschlichen Überlebens, in der Medizin eben die Vielfalt an Naturstoffen zu nutzen. Und je mehr da ist, umso mehr Optionen habe ich, mehr Chancen, auch etwas zu entdecken.“
Abholzung, Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes zur Gewinnung von Weideland, Mato Grosso, Brasilien, Südamerika
Für den Fleischkonsum: Abholzung im Amazonas-Regenwald zur Gewinnung von Weideland.© picture alliance / imageBROKER / Florian Kopp
Auch hier stellen die Regenwälder die größte Ressource dar: Ein Viertel der Inhaltsstoffe unserer Medikamente entstammt Regenwaldpflanzen; und das, obwohl erst etwa ein Prozent von ihnen auf medizinische Verwendbarkeit getestet wurde. Aber: Jedes Jahr werden 158.000 Quadratkilometer tropischer Regenwald abgeholzt, unter anderem für die Rinderzucht.
„Das heißt, durch unseren Fleischkonsum, durch unsere Handlungsweise exportieren wir die Extinktion von Arten.“ 

Nie dagewesener Evolutionsdruck

Die Methoden und Maschinen, nach und mit denen die jeweiligen Industrien an Land und zu Wasser vorgehen, sind dabei so effizient und großflächig wirksam wie nie zuvor. Sie greifen radikal in Ökosysteme ein – das erzeugt einen Anpassungsdruck, der die übliche Evolutionsgeschwindigkeit der meisten Arten bei weitem übersteigt.
„Da ist natürlich auch die Chance für Organismen sich anzupassen minimal. Es gibt ein paar, die können das supergut: Mikroorganismen, Bakterien, Viren. Bei Viren wissen wir genau, was das bedeutet, die schnelle Anpassung und Weiterentwicklung. Das erleben wir gerade, wie fix sowas gehen kann“, sagt Josef Settele.
Ökosysteme unter nie dagewesenem Evolutionsdruck – Ausgang: ungewiss. Welche Arten diesem Druck gewachsen sind und welche nicht: derzeit noch ungewiss. Und was es letztlich für ein Gesamtsystem bedeutet, auch für uns Menschen, wenn bestimmte Arten überleben und andere nicht: auch ungewiss. Für das Gefühl der Ohnmacht angesichts dieser Umweltzerstörung gibt es mittlerweile einen Fachbegriff: „Ecological Grief“ – Umwelttrauer. Mit psychischen Begleiterscheinungen wie Angststörungen, Depressionen, Traumata.
Natürlich sei alles miteinander vernetzt, so Josef Settele, aber man dürfe sich dennoch natürlich dadurch nicht abschrecken lassen, selbst aktiv zu werden.
"Ich meine, wenn ich sage: ‚Okay, ich kann eh nix machen‘ und verzweifle nur, dann ist es, glaube ich, immer noch besser, sich die Elemente rauszusuchen, wo man aktiv werden kann, wo man weiß, da kann man was Gutes tun.“

Aktiv zum Artenschutz beitragen

Die Aktivist*innen im Flaßbargmoor versuchen genau das - ohne die Wirkung ihres Tuns zu überschätzen.
„Das ist ne Herzensangelegenheit. Vielleicht können wir die jüngeren Generationen dazu wecken, wie schön es ist, draußen zu arbeiten. Dieses Aktive für alle find ich toll, das bringt einen so aus dem Muspott raus.“
„Ich kann gar nichts machen, die Erde ist im Arsch. Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist ne Stunde nach zwölf. Aber es schadet ja nicht. Ich muss ja nicht mit nem Kreuzfahrtschiff fahren. Ich mach meine ganzen Urlaube nur mit dem Fahrrad. Ich hab nicht viel Hoffnung, aber ich steuere trotzdem dagegen an, in dem Rahmen, wo ich das kann. Ich finde das Klasse in der Natur, ich brauch auch Bewegung, bin viel zu dick. Und hier sind ja auch nette Leute. Aber Hoffnung habe ich keine.“

Problem Anthropozentrismus

Wir wissen, dass wir die Biodiversität erhalten, dass wir Arten schützen müssen. Und viele tun es, weil das massenhafte Artensterben die Grundlagen der menschlichen Existenz bedroht. Das ist richtig. Und trotzdem: Sich nur aus diesem Grund für den Artenschutz einzusetzen – das erfasst den Kern des Problems noch nicht ganz.
„Da muss man aufpassen, dass man da nicht wieder in den Anthropozentrismus hineinkommt. Dann ist man schnell wieder dort, dass man sagt: Ja, was ist mir nützlich?“
Karin Wohlgemuth hat sich in ihrer Philosophie-Dissertation mit der Mensch-Tier-Beziehung im Zusammenhang mit dem Artensterben beschäftigt.
„Überlegungen beim Artenschutz sind schon oft: Ist eine Art jetzt nützlich, bringt sie wirtschaftliche Vorteile, ist die ästhetisch schön, also fühlen wir Sympathien dafür, bringt sie Deviseneinnahmen oder eben auch: Ist sie selten geworden? Also, wenn eine Art vom Aussterben bedroht ist, dann wird sie plötzlich wichtig und gut.“
Aber nicht alle vom Aussterben bedrohen Arten schaffen es auf die „Rote Liste“. Die meisten Insekten oder Schnecken etwa sind dort nicht gelistet, obwohl 99 Prozent aller bekannten Arten zur dieser Tier-Gruppe gehören. Amphibien, Säugetiere und Vögel – Arten, die Menschen gefallen oder ihnen nützlich sind – haben es leichter.
„Es wäre wichtig, dass wir auch sehen, dass die Tiere - es gilt ja auch für die Pflanzen - einen Eigenwert haben, der unabhängig ist von dem, was wir ihnen zuerkennen.“

Artenschutz nach Kosten- und Nutzenerwägungen

Gesellschaftliches Aussterben“ wird das Phänomen genannt, dass viele Arten aussterben, ohne dass die Gesellschaft jemals von ihnen Notiz genommen hätte.
Kleine, unscheinbare, im Verborgenen oder auch viele im Wasser lebende Spezies haben keine Lobby und sind auch seltener Empfänger von Schutzmaßnahmen. Die großen Raubtiere dagegen - Löwen, Tiger, Elefanten, Eisbären - erhalten viel Aufmerksamkeit. Ihr Eigenwert steht nicht in Frage, allerdings auch hier nur dann nicht, wenn die Tiere bestimmte Bedingungen erfüllen.
„Ein Beispiel wäre da der Safari-Tourismus. Sie werden geschätzt und geschützt, wenn sie Devisen bringen, das kann man einigermaßen gut nachvollziehen aus wirtschaftlicher Hinsicht. Aber was ist, wenn der Tourismus wegfällt, was ist dann mit der Existenzberechtigung der Tiere, die fällt dann schnell weg.“
Interessengeleitetes Denken lässt sich auch anderswo beobachten. Die Abholzung im Kongo-Becken etwa, in einem der letzten intakten Regenwaldgebiete, sieht man von Europa aus durchaus kritisch.
„Dass man von der EU-Kommission her das per Gesetz verbietet, dass man Produkte aus diesen Regionen einführt, weil die eben sehr viel Waldzerstörung verursachen. Und da lässt man dann aber eine eigennützige Lücke im Gesetz, nämlich der Kautschuk ist ausgeschlossen, den Kautschuk brauchen wir für die Autoreifen. Da gibt's eine Doppelmoral.“

Ökosysteme als Subjekt denken

In Deutschland existieren zwar viele Schutzgebiete auf dem Papier, im Zweifelsfall obsiegen aber oft wirtschaftliche Interessen: der geplante Fehmarnbelt-Tunnel führt durch ein Meeresschutzgebiet, die Zeitersparnis gegenüber der Fährverbindung ist aber wichtiger, er wird also gebaut. Die Baggerarbeiten bei der Elbvertiefung belasten das Ökosystem, die Wettbewerbsvorteile des Hafens sind jedoch wichtiger.
„Man kann über eine anthropozentrische Einstellung hinausgehen und versuchen die Perspektiven von anderen Arten einzunehmen, aus der Perspektive des Leidens zum Beispiel. Was bedeutet unser Handeln für bedrohte Arten, welches Leid ist damit verbunden? Oder aus der Perspektive des Rechtes: Welche Rechte verweigern wir Tieren oder welche Rechte sollten wir ihnen zugestehen? Zumindest das Recht auf Leben und das Recht auf einen Lebensraum.“
Die deutsche Verfassung sieht die Natur nicht als ein mit klar definierten Rechten ausgestattetes Subjekt, sondern lediglich als bewahrenswertes Objekt. Angesichts des Massensterbens werden jedoch Forderungen lauter, der Natur eigene durchsetzbare Rechte zu verleihen. Ein Klagerecht für Arten, um Naturschutzziele verbindlich zu machen.
Kolibri und Pflanze im pazifischen Nebelwald, Los Cedros, in Ecuador
Kolibri im pazifischen Nebelwald, Los Cedros, in Ecuador: Dort existiert ein Klagerecht für Arten bereits.© picture-alliance / united-archives/mcphoto
In Ecuador etwa existiert so ein Recht bereits und verhinderte dort schon, dass in der artenreichen Bergregenwald-Region Los Cedros Kupferminen errichtet werden. In Europa könnte es den Druck auf die Politik erhöhen, beispielsweise den Biotopverbund umzusetzen oder geplante Tunnel durch Meeresschutzgebiete oder Flussvertiefungen aus Sicht der Natur zu überprüfen.
„Die, die das machen, die müssen nachweisen, dass es keinen Schaden für einen Fluss hat und nicht umgekehrt. Und dieses Umdrehen im Zusammenhang mit einem anderen Verständnis der Rechte, das fände ich schon einen sehr wichtigen Ansatz. Und es geht nicht alleine. Also die Juristen setzen nur ein verändertes Bewusstsein der Gesellschaft um als Instrument.“

Vorstoß in Bayern: Naturrechte in die Verfassung?

In Bayern sammelt eine Initiative bereits Unterschriften für ein Volksbegehren, das die Aufnahme von Naturrechten in die Verfassung verlangt.
Eine Veränderung vorherrschender Denkmuster deutet sich an: Mit dem Verlust der Arten schwindet auch die vermeintliche Gewissheit, dass der Mensch das Zentrum ist. Derjenige, der außerhalb und über der Natur steht, sie kontrolliert und unter Kontrolle hat. Sich der eigenen Position auf der Erde neu bewusst zu werden, darum geht es auch in der Ausstellung „Critical Zones“ im Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe. Critical Zones ist ein Begriff aus den Geowissenschaften, erklärt Kunstvermittlerin Mira Hirtz während einer Online-Führung. Er steht für die äußerste Schicht des Planeten.
„Ungefähr zwölf Kilometer hinauf und hinunter, die ist sehr dünn im Vergleich zum ganzen Planeten Erde, aber alle Lebensformen und Lebensräume, die befinden sich in dieser Zone. Die sind nicht nur dicht aufeinander gedrängt, die hängen voneinander ab, in feinsten Nuancen und Zyklen. Diese Beziehungen sind kritisch, delikat, sie können aus der Balance herausfallen. Wie genau das alles zusammenhängt, darüber wissen wir sehr wenig. Wir haben keinen Überblick, wir sind abhängig davon und wir können auch zu keinem Zeitpunkt hinaustreten.“
Ein miteinander vernetztes großes System, das sich auf kaum bekannte Art in Balance hält. Diese Schicht muss durch den Menschen vor ihm selbst geschützt werden.

Die Natur vor dem Menschen schützen

Der US-amerikanische Biologe Eric Dinerstein hat mit seinem Team zwei Jahre daran gearbeitet, ein Konzept für Schutzzonen auf der Erde zu entwickeln. Um das Artensterben und die Klimakrise gleichermaßen aufzuhalten, müsste demnach etwa die Hälfte der Erde unter Schutz gestellt werden. Der Schutz der artenreichen Zonen rund um den Äquator wäre am dringendsten. Die größten Schutzzonen für Tiere würden in abgelegenen Regionen in Nordasien und Kanada entstehen, zugleich als natürliche Kohlenstoffsenken. Alles ist eng miteinander verwoben, sagt Eric Dinerstein.
„Man kann das eine Problem nicht ohne das andere lösen. Wenn wir den Regenwald verlieren, verlieren wir nicht nur die dort lebenden Arten, sondern auch die Fähigkeit, eine riesige Menge an Kohlenstoff zu binden. Ebenso verhält es sich auch mit den Korallenriffen.“

Weltweites Sicherheitsnetz schaffen

Das weltweite Sicherheitsnetz, das "Global Safety Net" ist online Schicht für Schicht nachvollziehbar. Die Bevölkerung der Schutzgebiete soll ansässig bleiben – ansonsten aber soll der Kontakt zwischen Menschen und Wildnis stark eingeschränkt werden, so dass es auch gefährliche Krankheitserreger schwerer haben von Tieren auf Menschen überzuspringen.
„Und inzwischen ist es ein politisches Ziel von der EU-Kommission und vielen anderen nicht nur im Naturschutz, sondern auch Regierungsverbünden, darauf hinzuwirken, dass wir im nächsten Jahrzehnt, also bis 2030, 30 Prozent der Erdoberfläche unter Naturschutz stellen“, sagt Matthias Glaubrecht.
Josef Settele präzisiert: „Schutzgebiete sind solche, wo eine extensive Nutzung mit einer gewissen Anwesenheit von Menschen durchaus möglich ist, zum Teil sogar dafür sorgt, dass entsprechend die Vielfalt da ist - eben der Mensch als Teil der Natur begriffen wird. Und dann kann man sich diese 30 Prozent, das wird häufig so als Zahl genannt, als Minimum, eigentlich durchaus realisierbar vorstellen.“
Ob große Schutzgebiete mit den derzeitigen Regierungen weltweit durchzusetzen sind? Eric Dinerstein bezweifelt das.
"Es bedarf einer neuen Ära der globalen Verantwortung. Wir müssen Politiker wählen, die eine umfassendere Weltanschauung haben als nur den Blick bis zur nächsten Wahl und was in den eigenen Hinterhöfen vor sich geht. Die auch an die folgenden Generationen denken und was für eine Welt diese erben sollen."

"Neue Ära globaler Verantwortung"

Das Bewusstsein von der mächtigen Größe des eigenen ökologischen Fußabdrucks wächst langsam. Jeder und jede Einzelne kann entscheidend mithelfen, diesen zu verkleinern, sagt Karin Wohlgemuth.
„Die Zerstörung im großen Stil – das ist ein Mosaik von kleinen Handlungen. Und die Erhaltung von Lebensräumen kann auch ein Mosaik sein von kleinen Handlungen. Und es ist ja nicht so, dass man notwendigerweise was Schlechtes macht, ne? Wir leben so, wie wir leben, aber insgesamt durch diesen Multiplikationsfaktor von Milliarden, sage ich jetzt mal, die einen westlichen Lebensstil halt leben oder denen der möglich ist, daraus ergibt sich eine irrsinnige Zerstörungskraft auch.“

Menschen als Teil im Netz des Lebens

Eine Kraft, die in der Lage ist, das Netz des Lebens zu zerschneiden. Aber vielleicht sind wir heute tatsächlich auf dem Weg zur Erkenntnis, dass Menschen Teile dieses Netzes sind. Dass alle menschlichen Pläne und Visionen letztlich zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie Tiere und Pflanzen lediglich als Ressource vorsehen. 
„Aus meiner Sicht fehlt total entscheidend das Mitgefühl. Dass Menschen verstehen, dass wir mit allem verbunden sind. Es heißt immer: der Mensch und die Natur. Das ist Quatsch. Wir sind ein Teil der Erde. Eigentlich ein wunderbarer Planet, den haben wir ganz schön versaut.“

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