Bilanz der Ära Holtzhauer beim Kunstfest Weimar

Viel gewagt, viel gewonnen

Auftakt zum Kunstfest Weimar 2018 mit der Staßentheater-Aufführung "Mu – Cinematique des fluides" der Gruppe "Transe Express" aus Frankreich
Bild vom Auftakt zur letzten Ausgabe unter Christian Holtzhauer: Auch immer gern dem Affen Zucker gegeben. © picture alliance /dpa / Candy Welz
Von Henry Bernhard · 01.09.2018
Fünf Jahre war Christian Holtzhauer künstlerischer Leiter des Kunstfestes Weimar. Eine Zeit, in der das Publikum zahlreicher wurde, in der es trotzdem nicht am Mut für Experimente mangelte. Ob geglückt, oder gescheitert – sie haben dem Fest gut getan.
Aus einer esoterisch angehauchten wirren Orchesterprobe hinter halb verschlossener Tür lösen sich immer wieder Fetzen von Strauß‘ "Also sprach Zarathustra", fliegen durch die Nietzsche-Huldigungsstätte hoch oben auf dem Berg über Weimar, fliegen den Zuschauern um die Ohren, heißen sie willkommen zu knapp zwei Stunden musiktheatralischer Spurensuche nach dem "Neuen Menschen".
Stimme: "Liebe Auserwählte! Wie sie aus der Broschüre wissen, hat Friedrich Nietzsche mit der Figur des Zarathustra den Prototypen des Neuen Menschen geschaffen. Keine Idee hat mehr Unheil über die Menschen des 20. Jahrhunderts gebracht. Aber heute sind wir einen Schritt weiter: Wir sind im 21. Jahrhundert."

Der Neue Mensch

Die Nietzsche-Weihehalle gleich neben dem Sterbehaus des damals schon lange umnachteten Philosophen ist nie ihrer eigentlichen Bestimmung übergeben worden. Konzipiert 1910, Baubeginn 1937, Baustopp im Krieg. In der DDR wurde der monströse Bau zum Rundfunkstudio, zum "Sender Weimar". Der Neue Mensch aber war Genosse der Zeitläufte: bei Nietzsche, im Bauhaus, im Faschismus, im Sozialismus und wohl auch im homo oeconomicus der radikalen Marktwirtschaft.
Er sollte rational, zukunftsgewandt und fern des alten Aberglaubens in eine lichte Zukunft schreiten. Das Kunstfest Weimar zeigte ihn in verschiedensten Facetten, auch hier in der musiktheatralisch-sportlichen Performance "Funkhaus Weimar – mit Nietzsche auf Sendung" von Rebstock & Compagnons.
Stimme: "Vertikalspannung. Bekenne Dich zum Primat des Vertikalen!"
Ein Mann sitzt, klemmt in einem kleinen Fach in einem Wandschrank, gefaltet wie ein Schmetterling. Verbindet das Physische mit dem Metaphysischen.
Stimme: "Beweise, dass Dir der Unterschied zwischen Vollkommenem und Unvollkommenem nicht gleichgültig ist! Misstraue dem Philister in dir, der meint, du seiest, wie du bist, schon ziemlich in Ordnung! Ergreife die Gelegenheit, mit einem Gott zu trainieren!"

Wiedererweckung verlassener Orte

Der Selbstoptimierer, der Übermensch, der Bauhäusler, der Philosoph – alle tauchen sie auf in der Eigenproduktion des Kunstfests, das mit dem Funkhaus mal wieder einen vergessenen, verlassenen Ort Weimars wiedererweckt hat. Eine vielfältige, verstörende, selbstironische Produktion, ganz nah am historischen Ort.
Nicht alles ging auf in diesem Kunstfest-Jahrgang. Das Thema Bauhaus sperrte sich mitunter gegen die Bearbeitung, sei es bei ins esoterische abgleitenden Diskussionen, sei es bei einem nicht ausgegorenen Puppentheater über den Widerstand gegen das Bauhaus in dessen Gründungsphase in Suse Wächters Stück "Hört! Hört!".
Stimme: "Die Regierung Weimar will aus Sparsamkeit das Bauhaus paffen!"
Das Projekt der CyberRäuber, "Meet Juliet, Meet Romeo", verlegte die Tragödie in eine virtuelle Realität; der Zuschauer bestimmte selbst, was er zu sehen und zu hören bekommt – wenn er es denn fand. Bei aller technischen Faszination berührten die Szenen nur wenig.

Eine Tonne Salz als Zeichen der Vergänglichkeit

Dem niederländischen Künstlerkollektiv "Wild Vlees" gelang dies umso besser – mit geringem Aufwand: Eine Tonne Salz rieselt innerhalb einer knappen Stunde aus einem Trichter auf eine still liegende Darstellerin. Bis diese verschwindet. Das Ereignis ist das Publikum, das erst aus der Ferne schaut; dann näher tritt, neugierig; sich dann sorgt, im Moment des endgültigen Verschwindens des letzten Haarzipfels entsetzt leise aufschreit. Ein Stück über die Zeit, die zum Ende hin immer schneller verrinnt, über das Verschwinden, Verschütten von Leben, über Vergänglichkeit.
Christian Holtzhauer hat in seinen fünf Jahren als Leiter des Kunstfestes Weimar viel gewagt. Jedes Experiment, selbst die manchmal weniger geglückten oder gar gescheiterten, hat dem Festival für zeitgenössische Kunst unbedingt gut getan.
Holtzhauer hat das oft abgehobene Kunstfest, vorher lange Jahre unter Nike Wagner, den Bürgern der Stadt zurückgegeben, hat es auf die Straße und in die abgelegenen Viertel gebracht und die Kunstinteressierten von außerhalb ebenso angelockt. Hat vor drei Jahren Hitlers "Mein Kampf" auf die Bühne gehoben und vor zwei Jahren mit dem Theaterstück "Eure Gewalt, unsere Gewalt" von Oliver Frljic heftigen Widerspruch heraufbeschworen.

Holtzhauer hat dem Affen Zucker gegeben

Christian Holtzhauer sagt nun dazu: "Wir hatten ja an beiden Abenden, nachdem wir das Stück gezeigt haben, Publikumsgespräch. Die Leute sind auch alle geblieben und wollten mitreden. Und am ersten Abend war ein älterer Herr da drin, der sich wahnsinnig aufgeregt hat. Und den habe ich am nächsten Morgen nach einer anderen Veranstaltung wieder getroffen. Und da sagte er mir, dass er noch bis morgens um vier mit seiner Frau und seinen Töchtern über diesen Abend diskutiert hätte. Wo ich dann dachte: So ganz verkehrt kann es dann doch nicht gewesen sein."
Aber Holtzhauer hat auch immer gern dem Affen Zucker gegeben: Tanz, Zirkus, Musik frei für alle rundeten seine Kunstfeste ab und machten sie zu wirklichen Kunst-Festen. Am Sonntag geht sein letztes Kunstfest in Weimar zu Ende, ab Montag ist er Theaterintendant am Nationaltheater Mannheim. Das nächste Kunstfest 2019 wird der Kurator und Dramaturg Rolf Hemke verantworten.
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