Betteln um das Nötigste
17.01.2011
Mit überzeugender Detailkenntnis hat die Publizistin Renate Hartwig die Auswirkungen der wuchernden Gesundheitsindustrie analysiert. In "Krank in Deutschland" stellt sie in Fallbeispielen dar, wie Kranke längst die Opfer des Systems geworden sind, das ihnen eigentlich nützen sollte.
Aus Kostengründen werde der Blasenkatheter nicht mehr als Set bezahlt, informierte die Krankenkasse das Pflegeheim. Als die Heimleiterin darauf bestand, dass ein Katheter nur als Ganzes funktioniert, schlug die Mitarbeiterin der Krankenkasse vor, am Desinfektionsmittel zu sparen: Der Blaseneingang des Patienten könne doch mit demselben Mittel desinfiziert werden, das man dem Putzwasser des Heims zusetze.
In ihrem neuen Buch "Krank in Deutschland" präsentiert die streitbare Publizistin Renate Hartwig Fallgeschichten, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Kranke in Deutschland, so lautet die These der Autorin, werden zunehmend zum Opfer eines Systems, das die Gelder aus der medizinischen Grundversorgung heraus saugt und umleitet in eine wuchernde Gesundheitsindustrie mit ihren Kapitalgesellschaften, Managementfirmen, Beraterverträgen und Krankenkassen-Werbefeldzügen.
An Belegen zu ihrer These mangelt es der Autorin nicht. Abwechslungsreich bewegt sich ihr Buch zwischen packend erzählten Krankengeschichten und Kapiteln, in denen sie Grundsätzliches über den Umbau des Gesundheitssystems berichtet. Vor allem chronisch Kranke und Alte müssen bei ihrer Krankenkasse häufig um das Nötigste betteln. Nicht selten verlieren sich ihre Anliegen im Dickicht der Kostenstellen. Dann gibt es keinen Rollstuhl und der Gelähmte bleibt in der eigenen Wohnung gefangen. Oder die angemessene Versorgung des Augenleidens fällt aus und die Patientin schlägt sich blind durchs Leben.
Als Opfer der Entwicklung sieht Renate Hartwig aber auch Ärzte: Während Top-Manager der Krankenkassen mehrere Hunderttausend Euro im Jahr verdienen, und durch die Entwicklung der - von Ärzteverbänden als völlig unsinnig kritisierten - elektronischen Gesundheitskarte gar Milliarden an Steuern und Krankenkassenbeiträgen bei der Industrie landen, verdienen Hausärzte heute für viele Tätigkeiten weniger als vor fünfzig Jahren.
Eine besondere Leistung des Buches besteht darin, auch solche Akteure der Gesundheitsreformen auszuleuchten, die in der breiten Öffentlichkeit selten in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung, die seit Jahren emsig darum bemüht ist, Pharmafirmen, Gesundheitspolitiker, Marketingunternehmen und Experten für die Privatisierung des Gesundheitswesen miteinander zu verbandeln. Es funktioniert, wie die Autorin zeigt.
Längst haben die euphemistischen Formulierungen aus den Textschmieden der Stiftung ("integrierte Versorgung", "Gesundheitszentren") Eingang gefunden in die Bundestagsreden führender Gesundheitspolitiker. Dass es hier um die schlichte Umverteilung gesellschaftlichen Vermögens von vielen in wenige Taschen geht, können Laien - und vielleicht auch manch ein Politiker - meist schwer durchschauen.
Es ist die Mischung aus überzeugender Detailkenntnis, Wut auf neoliberale Entmenschlichung und sprachlicher Wucht, die Renate Hartwigs Text so kurzweilig und aufschlussreich macht. Auch wenn der Eifer der Autorin mitunter etwas schrill daher kommt, verdient ihr Anliegen Gehör.
Besprochen von Susanne Billig
Renate Hartwig: Krank in Deutschland - Ein Tatsachenreport
Pattloch Verlag, München 2010
267 Seiten, 18 Euro
In ihrem neuen Buch "Krank in Deutschland" präsentiert die streitbare Publizistin Renate Hartwig Fallgeschichten, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Kranke in Deutschland, so lautet die These der Autorin, werden zunehmend zum Opfer eines Systems, das die Gelder aus der medizinischen Grundversorgung heraus saugt und umleitet in eine wuchernde Gesundheitsindustrie mit ihren Kapitalgesellschaften, Managementfirmen, Beraterverträgen und Krankenkassen-Werbefeldzügen.
An Belegen zu ihrer These mangelt es der Autorin nicht. Abwechslungsreich bewegt sich ihr Buch zwischen packend erzählten Krankengeschichten und Kapiteln, in denen sie Grundsätzliches über den Umbau des Gesundheitssystems berichtet. Vor allem chronisch Kranke und Alte müssen bei ihrer Krankenkasse häufig um das Nötigste betteln. Nicht selten verlieren sich ihre Anliegen im Dickicht der Kostenstellen. Dann gibt es keinen Rollstuhl und der Gelähmte bleibt in der eigenen Wohnung gefangen. Oder die angemessene Versorgung des Augenleidens fällt aus und die Patientin schlägt sich blind durchs Leben.
Als Opfer der Entwicklung sieht Renate Hartwig aber auch Ärzte: Während Top-Manager der Krankenkassen mehrere Hunderttausend Euro im Jahr verdienen, und durch die Entwicklung der - von Ärzteverbänden als völlig unsinnig kritisierten - elektronischen Gesundheitskarte gar Milliarden an Steuern und Krankenkassenbeiträgen bei der Industrie landen, verdienen Hausärzte heute für viele Tätigkeiten weniger als vor fünfzig Jahren.
Eine besondere Leistung des Buches besteht darin, auch solche Akteure der Gesundheitsreformen auszuleuchten, die in der breiten Öffentlichkeit selten in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung, die seit Jahren emsig darum bemüht ist, Pharmafirmen, Gesundheitspolitiker, Marketingunternehmen und Experten für die Privatisierung des Gesundheitswesen miteinander zu verbandeln. Es funktioniert, wie die Autorin zeigt.
Längst haben die euphemistischen Formulierungen aus den Textschmieden der Stiftung ("integrierte Versorgung", "Gesundheitszentren") Eingang gefunden in die Bundestagsreden führender Gesundheitspolitiker. Dass es hier um die schlichte Umverteilung gesellschaftlichen Vermögens von vielen in wenige Taschen geht, können Laien - und vielleicht auch manch ein Politiker - meist schwer durchschauen.
Es ist die Mischung aus überzeugender Detailkenntnis, Wut auf neoliberale Entmenschlichung und sprachlicher Wucht, die Renate Hartwigs Text so kurzweilig und aufschlussreich macht. Auch wenn der Eifer der Autorin mitunter etwas schrill daher kommt, verdient ihr Anliegen Gehör.
Besprochen von Susanne Billig
Renate Hartwig: Krank in Deutschland - Ein Tatsachenreport
Pattloch Verlag, München 2010
267 Seiten, 18 Euro