Bernhard Schlink: "Die Enkelin"

Mit Musik und Literatur gegen rechte Ideologie

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Die Enkelin" von Bernhard Schlink.
Bestseller-Autor Bernhard Schlink befasst sich in seinem neuen Roman wieder einmal mit deutscher Zeitgeschichte. © Deutschlandradio / Diogenes Verlag
Von Dorothea Westphal · 15.11.2021
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Ein ehemaliger Buchhändler entdeckt nach dem Tod seiner Frau, dass sie eine Tochter hat. Er findet diese im völkischen Milieu und versucht, seine indoktrinierte Enkelin auf einen anderen Weg zu bringen. Bernhard Schlinks Roman überzeugt nur teilweise.
Kaspar, Buchhändler, Mitte 70, findet abends zu Hause wie so häufig das übliche Chaos vor: verstreute Einkäufe, schmutziges Geschirr, eine umgekippte Rotweinflasche. Seine Frau Birgit ist Alkoholikerin und leidet an Depressionen. Schon oft hat er sie völlig betrunken ins Bett gebracht. Doch an diesem Abend liegt sie ertrunken in der Badewanne.
Die Trauer um seine Frau sowie der Brief eines Verlegers, der ein Manuskript von Birgit veröffentlichen möchte, lassen Kaspar die gemeinsame Zeit rekapitulieren. Dass sie an einem Roman schrieb, wusste er nicht. Als er das Fragment schließlich findet, erfährt er, dass seine Frau noch weitere Geheimnisse hatte.

Enkelin im rechten Milieu

Birgits eigene Geschichte ist ein Romanfragment im Roman. So erfahren wir von ihr, wie sich sie und Kaspar kennenlernten: Bei Tagesausflügen, die der Westberliner Student 1964 nach Ostberlin unternahm. Kaspars Angebot, zu Birgit nach Ostberlin zu ziehen, lehnt sie ab. Sie flieht mit seiner Hilfe über Prag nach Berlin.
Was sie Kaspar nie erzählt hat: Birgit hatte vor ihm ein Verhältnis mit einem hohen Funktionär. Als sie schwanger wird, bittet der sie, das Kind ihm und seiner Frau zu überlassen, da diese keine Kinder haben kann. Birgit lehnt empört ab und gibt das Neugeborene zur Adoption frei.
Nach dem Tod seiner Frau macht Kaspar sich auf die Suche nach dieser verlorenen Tochter. Er findet Svenja erstaunlich schnell im rechten Milieu, einer völkischen Siedlung im Berliner Umland. Sie ist mit einem Neonazi verheiratet und hat eine Tochter: Sigrun. Kaspar, der mit Birgit keine Kinder hatte, möchte die 14-Jährige aus diesem Milieu holen, macht sie quasi zu seiner Enkelin.

Auswirkungen des Zerfalls der DDR

Natürlich stößt er dabei auf Feindseligkeit. Gegen Geld sind die Eltern allerdings bereit, Sigrun ihre Ferien bei Kaspar in Berlin verbringen zu lassen. Offenbar brauchen sie das Geld dringend für ihren Hof. Anders ist kaum zu erklären, dass sie ihm ihre ideologisch indoktrinierte Tochter so einfach überlassen.
Mithilfe von Literatur und Musik hofft Kaspar, eine Ebene zu finden, auf der Sigrun und er sich verständigen können. Das gelingt sogar, denn Sigrun ist musikalisch so begabt, dass Kaspar ihr Klavierstunden finanziert. Er besucht mit ihr auch das KZ Ravensbrück, gibt ihr Bücher über das Dritte Reich zu lesen.
Die Gespräche während der vorsichtigen Annäherung der beiden wirken oft ein wenig hölzern. Möglicherweise erscheinen die Figuren deshalb nicht recht glaubwürdig. Anders ist es mit der Verlorenheit von Sigrun, die sich bald nirgendwo mehr zugehörig fühlt und schließlich vorübergehend radikalisiert.
Der Roman gibt interessante Einblicke in eine rechte Szene, die auf dem Land völkische Siedlungen etabliert und in der Stadt mit Gewalt agiert. Und er zeigt, wie schwierig es ist, gegen ideologisches Denken anzugehen.

Die Familie zerbricht

Schlink befasst sich in seinem neuen Roman mit den Auswirkungen des Zerfalls der DDR. Er halte die Wiedervereinigung für noch nicht vollendet, sagte er erst kürzlich in einem Interview.
Kaspar gelingt es nicht, mit Sigruns Eltern ins Gespräch zu kommen. Dadurch, dass er Sigrun dem Milieu entzieht, zerbricht auch die Familie.
Die Lektüre lässt einen zwiespältig zurück. Schlink packt viel in den Roman. Was überzeugt, sind die leisen Töne, die Trauer als Antrieb, nach der verlorenen Tochter zu suchen, überhaupt der einfühlsam erzählte erste Teil. Und dass es in diesem Konflikt keine einfache Lösung gibt. Alles andere wäre auch zu blauäugig gewesen.

Bernhard Schlink: "Die Enkelin"
Diogenes Verlag, Zürich 2021
368 Seiten, 25 Euro

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