Berliner Ermittlungen

Genaue Analyse aber auch viel Geduld

Kerzen und Blumen liegen in Berlin am Ort des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz.
Kerzen und Blumen liegen in Berlin am Ort des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Am heutigen Donnerstag soll er wieder geöffnet werden. © dpa / picture alliance / Rainer Jensen
Axel Petermann im Gespräch mit Korbinian Frenzel  · 22.12.2016
Der Kriminalist Axel Petermann hat vor schnellen Schlüssen nach der Gewalttat am Berliner Weihnachtsmarkt gewarnt. Solche Ermittlungen seien oft kompliziert.
Die Polizei werde sich bemühen, alle Details aufzuklären, sagte der Kriminalist Axel Petermann im Deutschlandradio Kultur. Der frühere Polizeiprofiler wies darauf hin, dass man bei der Aufklärung eines solchen Falles unter Umständen auch auf eine falsche Fährte setzen könne. Dies versuche man natürlich zu vermeiden, doch bei der Arbeit gehe es eben darum, verschiedene kleine Details und Bausteine in die Analyse des Tatgeschehens einzubeziehen.

"Es ist nicht nur das Verhalten am Weihnachtsmarkt, sondern auch das, was sich davor ereignet hat", sagte er. Das Verhalten nach der Tat spiele vor allem deshalb eine Rolle, um andere Versionen des möglichen Tatverlaufs entwickeln zu können.

Das Interview im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Es ist das Versprechen von höchster staatlicher Stelle: Die Bundeskanzlerin nach dem Anschlag von Berlin:
Angela Merkel: Ich habe großes Vertrauen zu den Männern und Frauen, die daran arbeiten, diese unselige Tat aufzuklären. Sie wird aufgeklärt werden in jedem Detail, und sie wird bestraft werden, so hart es unsere Gesetze verlangen.
Frenzel: Alle Details aufklären – das ist ein schnell gesprochener Satz, aber wir mussten in den letzten zweieinhalb, drei Tagen sehen, wie schwer er einzulösen zu sein scheint. Ein polnischer Lkw, ein toter polnischer Lkw-Fahrer, ein Pakistani, der am Dienstag wieder freigelassen werden musste, ein tunesischer Pass im Lkw. Jetzt jagt man also einen Tunesier, den 24-jährigen Anis Amri. Das ist die dringend notwendige Fahndung, aber noch wissen wir nicht, ob er es wirklich war. Insofern wollen wir klären, wie das läuft, was weiter dringend notwendig ist: Die Ermittlungsarbeit, die Spurensuche. Wir sprechen darüber mit Axel Petermann. Er ist Profiler, Kriminalist und Dozent für Kriminalistik an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung in Bremen. Guten Morgen!
Axel Petermann: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Petermann, Ihr Job ist die Aufklärung von Straftaten. Wie sehr schmerzt es Sie, wenn Sie sehen, wie möglicherweise in diesem Fall, dass ein möglicher Täter eigentlich schon bekannt war, bevor er die Tat begangen hat?
Petermann: Das ist natürlich wirklich schmerzhaft oder schmerzvoll, dass ein bekannter Täter möglicherweise diesen Anschlag begangen hat. Andererseits kann man natürlich nicht sagen, dass all die Menschen, die schon einmal eine Straftat begangen haben, immer wieder rückfällig werden würden oder könnten und neue Verbrechen begehen. Wir haben ja nicht so etwas wie eine Vorsorgehaft, um alle Möglichkeiten zu verhindern. Das ist ja auch Teil unserer Freiheit, in der wir leben, dass wir Menschen eben auch zugestehen, dass sie auch ihr Leben dann weiterführen können. Natürlich hoffentlich, dass sich nicht so etwas ereignet, wie wir es in Berlin gesehen haben.

Alle Details klären

Frenzel: Insofern ist es weiter wichtig, zu ermitteln. Wir haben das Versprechen der Kanzlerin gehört. Bei der schwierigen Lage, ist das ein zu vollmundiges Versprechen, wenn man sagt, wir werden alle Details klären?
Petermann: Ich denke schon, dass man sich sehr bemühen wird, alle Details zu klären. Vielleicht darf ich einen Satz zum kriminalistischen Ansatz sagen. Als Mordermittler, der ich ja früher lange Zeit gewesen bin, habe ich von Anfang an, sobald ein Verbrechen bekannt wurde, auf der Spur gearbeitet, das heißt also, Hinweise, die meine Kollegen und ich bekommen hatten beziehungsweise die Spuren, die es am Tatort gab, die gesichert wurden, sind verfolgt worden, und dann schlägt man natürlich einen Weg ein in der Hoffnung, auch in der begründeten Hoffnung, einen Tatverdächtigen zu finden. Das ist immer sehr schwierig. Es könnte auch sein, dass es eben halt, und das scheint Berlin ja auch zu beweisen, dass man mal auch anfangs auf eine falsche Fährte setzen kann.
Als Fallanalytiker, wenn ich das erklären darf, habe ich einen anderen Ansatz. Da prüfe ich die Entscheidungen eines Täters, die er getroffen hat – man sagt, er hat Bedürfnisse bei dem Verbrechen, oder man kann es auch als Motiv ausdrücken. Und dann schaue ich mir an, was hat er am Tatort gemacht, wie hat er die Tat begangen, wie hat er verletzt, wie hat er getötet, was hat er gemacht, und wer sind die Opfer. In diesem Fall ist es vielleicht nichts so entscheidend, weil es ja willkürlich gewählte Opfer gewesen sind, aber ich versuche, verschiedene Versionen zu kreieren, sage ich mal, um herauszufinden, welches Motiv dürfte der Täter gehabt haben. Und das hilft mir natürlich dann bei der Einschätzung der Persönlichkeit des jeweiligen.

Der Zeitverlust

Frenzel: Bleiben wir noch mal kurz, bevor wir auf die Persönlichkeit kommen, bei der Spurensuche. Sie haben es angesprochen, man ist ja erstmal einer falschen Spur gefolgt. Wie problematisch ist das, wie viel Zeit ist da verloren gegangen durch den Pakistani, den man zunächst im Verdacht hatte.
Petermann: Sicherlich ist das mit Zeitverlust verbunden, wobei ich jetzt nicht einschätzen kann, wie groß, wie umfangreich dieser Zeitverlust gewesen ist. Möglicherweise haben wir gar nicht alle Informationen bekommen, um vielleicht ein Ermittlungsergebnis nicht zu gefährden. Andererseits muss man natürlich sagen, wenn dann tatsächlich dort Papiere des jetzt Tatverdächtigen im Fahrzeug gelegen haben, muss man sich fragen, warum sind die nicht vorher bewertet worden.
Frenzel: Haben Sie dafür eine Erklärung?
Petermann: Das ist jetzt schwierig zu sagen. Vielleicht hat man erstmal wirklich gemutmaßt, dass der zuvor festgenommene Tunesier, dass er eben halt doch tatsächlich mit der Tat zu tun haben dürfte. Es schien ja so, als wäre er auf der Flucht beobachtet worden, und das war dann wohl erst einmal die Annahme, dass man damit dann auch richtig liegt. Nun ist es eben so, dass Zeugenaussagen stimmen können, teilweise stimmen können oder ganz falsch sind, und ohne dass dann diejenigen, die berichten, das auch absichtlich falsch machen. Es ist wirklich manchmal schwierig.
Frenzel: Sie haben das Persönlichkeitsprofil angesprochen, die andere große Möglichkeit, da ranzugehen. Wie groß ist die Gefahr, da in Stereotype zu verfallen? Manche Politiker sind diesem Reflex ja gleich verfallen – jung, männlich, Moslem, Flüchtling, das war vielen klar, dass das die Mischung sein muss, aus der der Attentäter ist.
Petermann: Ja, das ist natürlich schon sehr schnell argumentiert, ohne dass ich Inhalte dessen weiß, was sich dort eigentlich letztendlich zugetragen hat, wie die Umstände waren, die der Täter benutzt hat, um in den Besitz dieses Lkw zu kommen, um den Spediteur dann zu entführen und dann zu töten. Das sind alles so kleine Details, Bausteine, die man in eine Analyse einbeziehen muss.
Es ist nicht nur das Verhalten am Weihnachtsmarkt, sondern auch das, was sich davor ereignet hat, und auch das Nachtatverhalten. Und das muss eben gewürdigt und beurteilt werden. Und so kann man dann auch möglicherweise auf andere Gedanken kommen. Mit Sicherheit wird man andere Versionen entwickeln können, wer denn dafür verantwortlich ist, und aus welcher Motivation heraus diese Tat geschehen ist.

Ein Muster nach der Tat

Frenzel: Sie haben gerade gesagt, Nachtatverhalten. Wie kann man denn da herangehen? Wie kann man denn da Muster erkennen?
Petermann: Ein Täter, das hatte ich ja eben schon mal gesagt, der trifft Entscheidungen. Und eine Entscheidung ist ja zum Beispiel nach der Tat, ob er die Tatwaffen, die er benutzt hat im Lkw, ob er die mitnimmt, ob er Dinge versucht, Spuren zu verwischen, indem er zum Beispiel das Fahrzeug in Brand gesteckt hätte, das Führerhaus, um Spuren zu verwischen. Ob er eine Maskierung gehabt hat. Also all das, worin er geflüchtet ist, welchen Weg er gewählt hat. Ob er vielleicht geplant hat und hatte Begleiter, die ihn von dort dann weggefahren haben.
Also, das alles charakterisiert sein Nachtatverhalten. Und daran kann man eben auch erkennen oder kann man unter Umständen gut erkennen, ob eine Tat sehr gut geplant ist oder ob es dann eher so eine – nicht im Affekt, das ist natürlich Quatsch, aber ob eine Tat nicht recht schnell durchgeführt wurde, ohne dass man sich groß Gedanken darüber gemacht hat, wie es eigentlich aussehen soll.
Frenzel: Axel Petermann, Profiler, Kriminalist und Dozent für Kriminalistik in Bremen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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