Neue Berlinale-Leitung

Filmfestival gibt Doppelspitze auf

Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek vor einer Wand mit Symbolen der Internationalen Filmfestspiele Berlin
Die Geschäftsführerin der Berlinale Mariette Rissenbeek und der künstlerische Leiter Carlo Chatrian steigen nach dem Festival 2024 aus. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
07.09.2023
Die Leitung der Internationalen Filmfestspiele Berlin liegt künftig wieder in einer Hand. Auf Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian soll nach der Berlinale 2024 eine einzelne Person an der Spitze folgen. Warum hat sich das Führungsduo nicht bewährt?
Die Berlinale verabschiedet sich vom Prinzip der Doppelspitze. Nach nur vier Ausgaben mit dem Führungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian gab das Filmfestival bekannt, dass die Leitung nach der Berlinale 2024 wieder in einer Hand liegen soll. Auf die Doppelspitze folgt eine Intendanz, die geschäftliche und künstlerische Verantwortung trägt.
Rissenbeek hatte bereits vor dieser Entscheidung erklärt, dass sie ihren Vertrag als Geschäftsführerin nicht verlängern möchte. Chatrian gab danach sein Ausscheiden bekannt. "Ich dachte, dass Kontinuität gewährleistet werden könnte, wenn ich weiterhin Teil des Festivals bliebe, aber in der neuen Struktur, so wie sie nun vorgestellt wurde, ist ganz klar, dass die Bedingungen für mich, als künstlerischer Leiter weiterzumachen, nicht mehr gegeben sind", heißt es in seiner persönlichen Erklärung.
Eine Findungskommission unter der Leitung von Kulturstaatsministerin Claudia Roth klärt nun die Nachfolge für die Leitung des größten Publikumsfilmfestivals der Welt.

Wo hakte es mit der Doppelspitze?

Als Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek 2019 die Leitung der Internationalen Filmfestspiele Berlin vom langjährigen Berlinale-Direktor Dieter Kosslick übernahmen, verbanden damit viele in der Branche die Hoffnung auf einen Neuanfang. Filmschaffende hatten mit einem offenen Brief einen Richtungswechsel gefordert. Der Schauspieler und Regisseur RP Kahl, ein Mitunterzeichner, freute sich, dass mit Chatrian und Rissenbeek ein leidenschaftlicher Cineast und eine erfahrene Managerin das Ruder übernahmen.
Tatsächlich habe Chatrian als künstlerischer Leiter starke internationale Akzente gesetzt, urteilt die Filmexpertin Katja Nicodemus, etwa indem er die US-Schauspielerin Kristen Stewart 2023 als Jurypräsidentin gewann und Steven Spielberg eine Hommage widmete. Mit seinem Versuch, einen zweiten Wettbewerb zu etablieren, die Encounters, habe er das Profil des Festivals jedoch eher verwässert und zu Recht viel Kritik eingesteckt.

Ohne überzeugende Vision

Vor allem aber lasse Chatrian eine überzeugende Erzählung oder Vision für das Festival vermissen. "Es ist ihm nicht gelungen, auf den Riesentanker Berlinale seine Flagge zu setzen", sagt Nicodemus, dabei wäre ein solches Signal gerade in Zeiten von Streaming, medialen Umbrüchen und neuen Vertriebs- oder Vermarktungswegen aus ihrer Sicht umso wichtiger gewesen. Zudem hätten Chatrian und Rissenbeek zahlreiche Probleme, die das Filmfestival bereits seit Jahren unter Druck setzen, nicht entschlossen angepackt, sondern eher versucht, sie auszusitzen.
Chatrians filmische Kompetenz stehe außer Frage, sagt Nicodemus. Aber angesichts der Herausforderungen, vor denen die Berlinale steht, seien auch andere Qualitäten gefragt: "In solchen Zeiten braucht es in einer Leitungsfigur eben auch einen leidenschaftlichen Kämpfer für das Festival, auch einen überzeugten Lobbyisten gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit."

Internationaler Rückenwind für Carlo Chatrian

Doch Chatrian bekommt auch Zuspruch. So haben nach der Bekanntgabe des Führungswechsels zahlreiche internationale Filmschaffende Kulturstaatsministerin Claudia Roth scharf kritisiert. Ihr Umgang mit dem bisherigen künstlerischen Leiter Carlo Chatrian sei „schädlich und unprofessionell“, hieß es in einem beim US-Fachblatt „Variety“ veröffentlichten offenen Brief vom September 2023. Zu den mehr als vierhundert Unterzeichnern gehörten unter anderem die Regisseure Martin Scorsese, Margarethe von Trotta, Joanna Hogg, Claire Denis und Bertrand Bonello.
„Carlo Chatrian mag kein Showmann sein, aber mit seiner ruhigen Art haben er und sein Team einen offenen und künstlerisch lohnenden kuratorischen Weg eingeschlagen, neue Richtungen im internationalen Kino aufzuzeigen, Stereotypen infrage zu stellen und verschiedene Stränge des Filmemachens miteinander zu verbinden“, schrieben die Unterzeichner. Mit ihren Unterschriften wollen sie sich dafür einsetzen, dass Chatrians Vertrag doch noch verlängert wird.

Mit welchen Problemen kämpft die Berlinale?

Seitdem Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek die Leitung der Berlinale übernommen haben, hatte das Festival mit einer Reihe von negativen Entwicklungen zu kämpfen. Die Coronapandemie zwang das Führungsduo zu drastischen Einschränkungen und Ausweichmaßnahmen. Sponsoren zogen ihre Unterstützung zurück. Kinoschließungen sorgten für weitere Probleme.
Im Juli 2023 wurde bekannt, dass die Berlinale massive Kürzungen hinnehmen muss und die Zahl der gezeigten Filme voraussichtlich um etwa ein Drittel von zuletzt 287 auf 200 reduzieren wird. Zudem sollen zwei Sektionen ganz entfallen, darunter die "Perspektive deutsches Kino" für Nachwuchsproduktionen.
Mit 200 Produktionen wird die Berlinale dann immer noch 120 mehr Filme präsentieren als etwa die Festivals in Venedig oder Cannes. Im besten Fall kann die Reduzierung sogar einer gewissen Konzentration dienen und dazu führen, dass es auf der Berlinale einen intensiveren Austausch über die wesentlichen Werke gibt, der bisher aufgrund der schieren Fülle nur selten zustande gekommen ist. Das zumindest gibt der Filmkritiker Patrick Wellinski zu bedenken.
In der insgesamt angespannten Lage fühle sich das Festival allerdings von der Kulturpolitik des Bundes im Stich gelassen, so Wellinski. Vom Bund und auch von der Stadt Berlin wünsche er sich deswegen mehr Engagement und einen klareren Kurs.

Was hat die Politik versäumt?

Die Internationalen Filmfestspiele Berlin sind zwar das weltweit größte Publikumsfestival der Filmbranche, dennoch ist die Berlinale nie ein Prestigeobjekt der Kulturpolitik gewesen. Das zeigt nicht nur die instabile Finanzierung, sondern auch die katastrophale Infrastruktur des Festivals. Die Berlinale muss immer wieder um Kinos betteln, Orte finden, wo sie Filme zeigen können.
Zwei Drittel seines Etats von rund 32 Millionen Euro muss das Festival selbst aufbringen. Zwar haben die Ticketverkäufe nach der Pandemie wieder angezogen, doch Preissteigerungen durch die Inflation und der Rückzug von Sponsoren machen dem Festival zu schaffen. Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die Stadt Berlin müssten nun dringend für Planungssicherheit sorgen, sagt Filmkritiker Patrick Wellinski.
"Frau Roth geht gerne über den roten Teppich, sie gibt sich in ihren Eröffnungsreden kämpferisch für das Kino, aber jetzt ist die Politik wirklich mal gefragt", unterstreicht auch Katja Nicodemus. Zuletzt teilte Roth jedoch mit, dass rund zwei Millionen Euro, die die Berlinale 2023 zusätzlich als Inflationsausgleich erhielt, künftig wieder wegfallen. Statt lautstark zu protestieren habe das Berlinale-Führungsduo jedoch sehr defensiv reagiert und die voraussichtlichen Einschnitte ins Programm "als Schärfung des Profils schöngeredet", so Nicodemus.

Was muss die neue Intendanz leisten?

Von der zukünftigen Intendanz der Berlinale erwartet Katja Nicodemus vor allem mehr Kommunikationstalent und Kampfgeist. In der gegenwärtigen Krise brauche das Festival an der Spitz eine Person, die sich "über das Kino, über die Filme hinaus für den kulturpolitischen Rahmen und den finanziellen Rahmen interessiert und auch dafür kämpft".
Die Doppelspitze von Chatrian und Rissenbeek habe sich auch deshalb nicht bewährt, "weil ihr etwas Wichtiges fehlt", sagt Nicodemus: "nämlich ein Charisma, ein Charme, eine Aura - und das ist ja auch eine wichtige Waffe im kulturpolitischen Kampf, das Auftreten".
Die künftige Intendanz müsse viel offensiver als "Kommunikator in Richtung Stadt Berlin, Bundespolitik und Öffentlichkeit" agieren, als dies Carlo Chatrian bislang gelungen sei: "Er schien mit dem Profil des Publikumsfestivals nicht wirklich etwas anfangen zu können und auch mit der Stadt Berlin keine wirkliche Verbindung aufzunehmen."

fka
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