Bericht aus der Praxis

Wie, wo und bei wem lernen Flüchtlinge Deutsch?

Eine Tafel weist in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft auf einen Deutschkurs hin.
Eine Tafel weist in einer Berliner Flüchtlingsunterkunft auf einen Deutschkurs hin. © imago/Ditsch
Von Sabine Voss · 08.08.2016
Freiwillige übernehmen staatliche Aufgaben, und mit ihrer zunehmenden Professionalisierung verstetigt sich das Ehrenamt. Wir suchen die Realität auf und fragen nach: Wie, wo und bei wem lernen Flüchtlinge eigentlich Deutsch?
Ein Flüchtling, der in Deutschland ankommen und etwas werden will, braucht einen Zugangscode. Er lautet B1 und bezeichnet ein Sprachniveau, das nachweisen muss, wer etwa eine Ausbildung machen möchte.
Nur sind Geflüchtete im laufenden Asylverfahren längst in eine Zweiklassengesellschaft dividiert. Die einen werden bevorzugt und haben Zugang zu Integrationskursen, die anderen nicht. Sie sind besonders auf die ehrenamtlichen Helfer angewiesen.

Manuskript zur Sendung:
Hast du schon mal Deutsch gelernt?
Ein bisschen.
Ein bisschen, okay. Wie heißt du?
Äh, heiße... ich heiße Saida.
Okay, wie alt bist du, Saida?
21 Jahre alt.
Und woher kommst du?
Ich komme in Russland.
Du kommst aus Russland. Welche Sprachen sprichst du?
Sprachen: Russisch, Englisch und Awarisch.
(Babygequengel) Awarisch, was ist das für eine Sprache? Tschetschenien? Dagestan?
Dagestan.
Okay. Und was machst du gern in deiner Freizeit? Was sind deine Hobbys?
Hobbys?
(Sagt zur Tür) Wollt ihr Anmeldung machen? Dann könnt ihr bitte draußen warten!

Eine Flüchtlingsunterkunft am Berliner Stadtrand, für 480 Menschen. Quadratische Wohncontainer in Blau, Gelb, Orange und Weiß sind aufeinandergestapelt und jeweils an den Nachbarcontainer montiert. So sind drei Blöcke mit buntgewürfelten Fassaden entstanden. Im Innern eines Blocks geht man durch lange Flure an weißen Metallwänden entlang. Von Montag bis Donnerstag findet im Raum 3001 der Deutschkurs statt. Reza Gamsavar ist seit einem halben Jahr "der Lehrer" für die geflüchteten Männer und Frauen im Containerdorf. Es ist Pause, der Lehrer hat die Fenster geöffnet, um Sauerstoff hereinzulassen.
Reza Gamsavar: "Für sie bin ich nicht der blauäugige Deutsche. Für sie bin ich einer von denen. Sie erkennen, dass ich die deutsche Kultur internalisiert habe zum großen Teil. Und sie erkennen, dass ich auch aus ihrer Kultur sehr viel weiß, weil ich einfach aus der Kultur komme. Ich bin ein Unterhalter in meinen Kursen. Wenn jemand ein bisschen schlampig ist, dann schrei' ich: 'Hey, Arab! Hey Arab! So machen wir das nicht, du bist hier in Deutschland, so geht das nicht!' Und das darf ich, weil ich selbst kein Deutscher bin."

"Hier werd' ich kein Englisch sprechen, hier werd' ich Deutsch lernen"

Reza Gamsavar stammt aus dem Iran und ist vor fünf Jahren mit einem Visum nach Deutschland eingereist. Der junge Englischlehrer hat so schnell so gut Deutsch gelernt, dass es nicht schwer für ihn war, eine Beschäftigung als Kursleiter an der Volkshochschule zu finden.
"Meine Onkel, mein Vater, sie haben auch immer sehr, sehr gut Fremdsprachen gelernt, bis sie kaum von Muttersprachlern zu unterscheiden waren. Ich habe keine Stunde Deutschunterricht genommen in meinem Leben. Im Iran habe ich in meiner Freizeit so ein paar Wörter gelernt, ganz gebrochen 'Guten Tag, mein Name ist Reza.' Bis ich dann hierher kam, dann wurde ich ins kalte Wasser geschmissen. Ich habe Englisch komplett ausgeschlossen in Deutschland. Hier werd' ich kein Englisch sprechen, hier werd' ich Deutsch lernen. Auf Silvester 2012, da war ich an meinem Schreibtisch, zwölf Stunden an diesem Tag, mit meinen Büchern beschäftigt gewesen, die Leute haben da draußen gefeiert, und ich hab' Deutsch gelernt. Mitternacht war ich dann müde und bin ins Bett gegangen. Und so langsam, durch meine Freunde, ich hatte ein paar Freunde, ich habe sie immer noch, sie haben einen großen Einfluss in meine Sprache geübt, bis es dann so weit war, dass ich unterrichten konnte."
Also dann nehmen wir hier mal die Jungs. Fahra Abdi Redban. Sprichst du arabisch?
Arabisch.
Woher kommst du?
Somalia.
Aus Somalia. Okay. - Hast du eine Zimmernummer hier?
Isch schlaf nicht hier.
Adresse?
Pankow.
Ein Flüchtling, der in Deutschland ankommen und etwas werden will, braucht einen Zugangscode. Er lautet B1 und bezeichnet ein Sprachniveau, das nachweisen muss, wer etwa eine Ausbildung machen will. Im November 2015 – da waren schon eine Million Flüchtlinge im Land – trat ein Gesetz in Kraft, das Asylbewerbern den Zugang zum Deutschlernangebot des Bundes eröffnet: zu den Integrationskursen, die mit einer B1-Prüfung enden. Aber nur vier Flüchtlingsgruppen dürfen einen Integrationskurs beginnen, noch bevor ihr Asylverfahren entschieden ist: Syrer, Iraker, Iraner und Eritreer. Sie haben die beste Bleibeperspektive und werden deshalb bevorzugt, ihnen gesteht man zu, schnell Deutsch zu lernen.
Reza Gamsavar nimmt Geflüchtete aus Somalia, dem Kamerun, Afghanistan, Pakistan und Tschetschenien in den Anfängerkurs auf. Dieser Deutschkurs wird aus Landesmitteln bezahlt und "Flüchtlingskurs" genannt zur besseren Unterscheidung von einem Integrationskurs des Bundes, auch wenn die Teilnehmer hier dasselbe lernen. Das Unterrichtsprogramm ist allerdings kürzer und endet mit einer A2-Prüfung. Einen Flüchtlingskurs kann aber unterschiedslos jeder Geflüchtete besuchen.

Es ist schwierig, Wörter wie "Würde des Menschen" zu vermitteln

"Sie sprechen in meinen Kursen hier sehr wenig Deutsch, leider, viel zu wenig Deutsch, um Wörter wie 'Menschenrechte' oder 'die Würde des Menschen' überhaupt vermitteln zu können. Aber für sie war das schon ziemlich interessant, als ich gesagt hab', dass Menschen – so mit meinen Händen, so eine Gleichheit habe ich den Leuten gezeigt – dass wir alle gleich sind, egal ob du schwarz bist, aus Kenia kommst oder aus Indonesien oder aus dem Iran oder aus dem Irak, aus Syrien. In Deutschland sind wir alle gleich. Und das ist das, was Deutschland ausmacht. Ich benutze die Merkel sehr oft als Beispiel, sie wird als ganz normaler Mensch behandelt. Sie muss ihre Steuern bezahlen, wenn sie im Bus ist, muss sie eine Fahrkarte haben. Vermutlich. Und wenn sie in der U-Bahn ohne Fahrkarte erwischt wird, dann muss sie auch ihre Strafe bezahlen. Dann darf sie weiter fahren."
Die Realität für Geflüchtete im deutschen Asylverfahren sieht anders aus. Längst gibt es eine Zweiklassengesellschaft, Flüchtlinge mit und Flüchtlinge ohne gute "Bleibeperspektive". Ob und wie lange ein Flüchtling voraussichtlich bleiben kann, hat Auswirkungen auch auf die Möglichkeiten, Deutsch zu lernen. Nicht jedes Bundesland bietet allen Geflüchteten kostenlose Kurse an – so wie etwa Berlin, Bayern, Baden-Württemberg oder Hamburg. Anderswo bekommt ein Asylbewerber, der nicht integrationskurs-berechtigt ist, überhaupt keinen regelrechten Sprachkurs, solange er keinen Aufenthaltstitel hat, was über ein Jahr dauern kann. Man verweist auf das Heer ehrenamtlicher Helfer. Sie allein sollen es richten.
Ulrike Weiß: "Es kann jeder kommen: Deutschkurse für alle, für jeden, der hier ankommt und erstmal im Verfahren ist und keinen Zugang zu einem Integrationskurs hat. Und die Volkshochschulen, die ja vermehrt jetzt auch Flüchtlingskurse anbieten, sind auch überlastet, und, ja, wir nehmen die Leute auf."
Christiane Teichner-Diabaté: "Wir fragen überhaupt nicht: Hast du einen Aufenthalt, hast du keinen Aufenthalt, hast du Asyl, hast du Duldung, hast du was?"
Christoph Hummel: "Wir fragen nicht danach, aber sie kommen von alleine."
Ulrike Weiß, Christiane Teichner-Diabaté und Christoph Hummel sind Lehrer und arbeiten ehrenamtlich – wie andere Deutschvermittler in bundesweit zahllosen Initiativen. Der Anspruch des Vereins "Offene Tür" im Berliner Wedding ist allerdings hoch: Deutschunterricht in stabilen Gruppen auf allen Niveaustufen, von der Alphabetisierung bis B1. Achtzehn Euro zahlt jeder Kursteilnehmer pro Monat dafür.

"Wir tauschen uns immer über ein Online-Klassenbuch aus"

Christoph Hummel: "Ich kann vielleicht mal anfangen, wie ich zu dem Verein gekommen bin oder zum Unterrichten. Ich bin Lehrer, bin jetzt pensioniert, und was mich so erstaunt hat: Ad hoc-Unterricht ist hier überhaupt nicht. Es sind feste Gruppen. Wenn eine Gruppe vier Mal Unterricht bekommt, dann natürlich nicht immer von dem gleichen Lehrer. Wir tauschen uns dann immer über ein Online-Klassenbuch aus, wissen also ganz genau, wo wir stehen, wo bestimmte Schüler gefördert werden müssen, also die Kommunikation läuft besser als an einer traditionellen Schule, weil ständig der Kontakt unter den Kollegen dann auch da ist. Wir haben keine Schulleitung, aber es läuft trotzdem."
Das heißt, das Team ist stark gefordert.
Ulrike Weiß führt herum.
Judith ist auch schon lang dabei, macht die Anmeldesprechstunde mit Hans. Heute ist gar nicht so viel los. Also es ist sehr unterschiedlich, manchmal sitzen kurz vor vier hier schon fünfzehn Leute oder zehn.

Ein Stadtteilladen ist der Stammsitz des Vereins, der schon zehn Jahre existiert, unter dem Ansturm vieler Flüchtlinge aber förmlich explodiert ist. Zu viele fallen durch den staatlichen Versorgungsrost. Also ist das Team von "Offene Tür" auf über 40 Lehrerinnen und Lehrer angewachsen, aus zwei Standorten sind inzwischen vier geworden.
UlrikeWeiß: "Wir sind Untermieter. Wenn wir ein Büro hätten, ein eigenes Büro, wo wir unsere Sprechstunden stattfinden lassen könnten, ohne dass man das immer absprechen muss, dann könnte man auch regelmäßig eine Beratungssprechstunde einrichten. Wenn wir so etwas wie eine Verwaltungskraft hätten, die ein Stück weit die Büroarbeit von der Anmeldung bis zur Pflege der Teilnehmerlisten und des Kassenbuchs übernehmen könnte. Das wäre schön."
Bundesweit fehlen etwa 200.000 Integrationskurs-Plätze, schätzt der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Frank-Jürgen Weise. Man müsse die Lehrer besser bezahlen, um das Unterrichten attraktiver zu machen, hieß es zuletzt aus dem Bundesinnenministerium. Welche Kursleiter würden davon profitieren? Alle, die Flüchtlinge unterrichten? Der Verein Offene Tür erhält weder staatliche noch kommunale Fördergelder, um seine fixen Kosten zu decken. Einzig Stiftungen geben Geld, die Akquise gestaltet sich jedes Mal mühsam.

1300 Menschen leben im Flughafen Berlin-Tempelhof

Ulrike Weiß: "Tatsächlich scheint unser Konzept das Problem zu sein, nämlich, Deutschkurse für jeden anzubieten, auch für diejenigen, die möglicherweise das Land wieder verlassen müssen. Es ist nicht unmittelbar einleuchtend, dass doch eigentlich jeder, der hierher kommt, so schnell wie möglich Deutsch lernen muss – egal, wie lang oder ob er bleibt. Man muss einfach in dem Land oder an dem Ort, wo man ist, leben können, und das geht nicht ohne Sprachkenntnisse. Aber das scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein. Die Leute machen sich nicht bewusst auch, dass diese lange Zeit von der Ankunft bis zur Anerkennung als Geflüchteter, bis zu der Möglichkeit, einen Integrationskurs zu besuchen, verschwendete Zeit ist, wenn man so lange zum Nichtstun auch verdonnert ist. Man verliert den Mut einfach auch und die Voraussetzungen zu lernen. Die Neugier schwindet, und die Motivation überhaupt schwindet."
1300 Menschen leben zurzeit in den sieben Hangars des ehemaligen Flughafengeländes Berlin-Tempelhof, Deutschlands größter Notunterkunft. In jeder Halle sind Trennwände zu Wohneinheiten mit jeweils sechs Doppelstockbetten aufgestellt. Männer in Gruppen oder Familien wohnen hier, wie in Waben eines Bienenstocks. Eine Wabe ist nach oben hin offen und fensterlos – man muss sich mit Kunstlicht behelfen. Wer die Tür hinter sich zumacht, ist immer noch allen Geräuschen ausgesetzt. Auch hier lernen die Flüchtlinge Deutsch dank einer ehrenamtlichen Initiative. Kay Wishöth ist Lehrer und der pädagogische Leiter von "GermanNow".
Kay Wishöth: "Die Hangars sind schon ein spezieller Ort, einfach weil's so groß ist. Wir sind in den Speisesälen dort. In jeden Speisesaal in den Hangars passen circa 120 Leute rein, es hallt wie Sau, und du musst versuchen, nicht nur die Leute, die gern zusammen sitzen wollen – die kommen ja mit ihren Freunden, teilweise mit ihren Familien und dann schreien die Kinder dazwischen –, musst du versuchen, so ein bisschen System reinzubringen. Ich sag immer, das ist der Hühnerhaufen. Und für mich als Lehrer kräuseln sich immer die Nackenhaare, weil ich denke: Mann! Das ist keine Lernatmosphäre hier! Was soll denn das? Du verstehst da manchmal nicht dein eigenes Wort."
Einfach mal in eine Flüchtlingsunterkunft gehen und fragen, ob er helfen könne, so fing Kay Wishöth als einer der GermanNow-Gründer an. Heute kommen auf 800 Schüler in den Hangars 250 Sprachlernhelfer. Und GermanNow versorgt noch weitere Massennotunterkünfte mit Deutschlern-Angeboten: eine Sporthalle, ein ehemaliges C&A-Gebäude in Berlin Neukölln.
Kay Wishöth: "Wir müssen uns selbst manchmal kneifen, wie schnell das passiert ist.Dadurch dass wir so groß sind – wir haben momentan circa 1300 bis 1400 Ehrenamtliche in unseren Verteilern – müssen wir mit diesen IT-Tools arbeiten. Wir organisieren uns durch Doodles, durch Mailinglisten, wo wir Rundmails schicken zu allen unterrichtsorganisatorischen Sachen. Ich mache den pädagogischen Teil, also ich sorge mich darum, dass von der Wissensvermittlung her und vom Setting her – also wie die Kurse aufgebaut sind –, dass es ein Stück weit Hand und Fuß hat. Wir haben geguckt, dass wir an den Unterrichts-terminen, die wir anbieten, Leute haben, die a) die Verantwortung tragen, dass immer genug Ehrenamtliche da sind für den Termin, zweitens dass man weiß, was auf dem Lehrplan steht, dass man sich vorbereiten kann. Wir haben dafür ein Unterrichtspad, nennen wir das, das ist ein Online-Tool, wo jeder reinschreiben kann, was gelaufen ist in der Stunde vorher. Diese ganzen digitalen Geschichten brauchen wir unbedingt für so viele Aktive, die wir haben, dass man sich abspricht, sonst würde man 'ne Macke kriegen."

Der Unterricht orientiert sich an den Erfordernissen des Alltags

Montag bis Freitag ist GermanNow vor Ort, in jedem der sieben Hangars. Im Hangar sechs haben heute acht Ehrenamtliche die Lernenden um sich geschart. Man sitzt in Lerngruppen an verschiedenen Tischen. Der Unterricht orientiert sich an den Erfordernissen des Alltags. Welche Wörter und Satzbausteine werden beim Arztbesuch, Einkaufen, Busfahren oder auf dem Amt gebraucht? Als Unterrichtender ist jeder bei GermanNow willkommen, niemand muss Grammatik-sicher sein. Aber Beständigkeit ist gefragt.
Kay Wishöth: "Eigentlich ist GermanNow nur der Türöffner. Wir sind die Kontaktstelle, wir besorgen die Räumlichkeiten, die Lehrmittel, man braucht ja Infrastruktur, unddu als Bürger gehst hin und triffst andere Menschen. Das ist das, was wir wollten. Wir sind nicht nur ehrenamtlicher Sprachunterricht. Wir sind auch zu mindestens der anderen Hälfte menschliche Begegnung. Also wir sind im Prinzip Leute, die die Kultur repräsentieren. Wir sind Bürger, die man treffen kann."
Wer nimmt dieses Angebot an? Es gibt Flüchtlinge, die monatelang einen regelrechten Sprachkurs suchen und keinen finden. Es gibt die Bevorzugten, die theoretisch zum Besuch eines Integrationskurses berechtigt sind und hier ihre Wartezeit überbrücken, weil das Bundesamt oft Monate für die Genehmigung braucht. Es kommen auch Teilnehmer eines Volkshochschulkurses mit Fragen zu ihren Hausaufgaben. Es kommen solche, die fertig mit ihrem Flüchtlingskurs, also "ausgefördert" sind und nirgendsweiter lernen können. In den Speisesaal im Hangar 6 kommen bemerkenswerterweise auch Frauen.
Kay Wishöth: "Der Klassiker ist, dass der Vater kommt oder ein junger Mann kommt, aber die Frauen bleiben weg. Wir haben's mittlerweile so gemacht: Wir schließen die Kinder nicht aus. Du musst die Kinder mit dazulassen, aber eine Kindergruppe machen, d.h. wir haben mittlerweile pro Team Kinderbetreuer. Und mit den Kindern sind die Frauen gekommen. Das ist uns ein großes Anliegen. Wir wollen einfach an die Frauen ran."
Philip Gienandt: "An den Deutschkursen nehmen, aus welchen soziokulturellen Gründen auch immer, sehr viel mehr Männer als Frauen teil. Die Frauen sitzen im Flüchtlingsheim, die könnte man mit einem digitalen Deutschkurs wie von LinguaTV viel besser erreichen, insbesondere da wir ja mit Videos arbeiten, in denen gezeigt wird, wie die Muttersprachler Deutsch anwenden, in der Situation."
Philip Gienandt ist Geschäftsführer von LinguaTV, einem digitalen Lernportal zum Fremdsprachenlernen. Seine Online-Sprachkurse werden von Unternehmen, Bildungseinrichtungen oder Privatkunden genutzt und nun auch von Geflüchteten.
"Ich nehme einen Kaffee bitte."
Im Deutsch-für-Anfänger-Kurs kann der Teilnehmer über einfache Alltagsszenen den Zugang zur deutschen Sprache finden.
"Hallo Lisa, wie geht es dir?"
Die Videos lassen sich beliebig oft ansehen.
Philip Gienandt: "Man muss sich das so vorstellen: Frau und Mann geben sich, wie in Deutschland üblich, die Hand. Das ist ja mehr als nur Deutsch lernen. Das ist auch ein Einblick, ein Sichtfenster in: Wie verhalten sich Deutsche. Und dann haben wir Szenen beim Arzt, auf der Behörde usw. Da kann man natürlich die deutsche Kultur zusätzlich mit der deutschen Sprache in ein Flüchtlingsheim reinbringen. Und dann muss man sagen, sind für uns, für digitale Bildungsanbieter, die geflüchteten Menschen Idealkunden, weil, sie haben extrem viel Zeit, sie haben eine ganz hohe Motivation, teilweise auch Selbstdisziplin und eben Ehrgeiz. Die wollen arbeiten, und die wissen auch, dass sie Arbeit nur finden, indem sie die deutsche Sprache halbwegs beherrschen."

Lernräume werden mit gespendeten Computern eingerichtet

30.000 Zugangscodes zum LinguaTV-Portal wurden von McDonalds gespendet und über die Jobcenter an Geflüchtete verteilt, die einen Aufenthaltstitel, also das Asylverfahren, schon hinter sich haben. Viel zu spät, findet Philip Gienandt. Er hat Kontakte zu Flüchtlingsunterkünften geknüpft und ist dabei, mit gespendeten Computern Lernräume einzurichten. Das Nutzungsverhalten der Geflüchteten gibt ihm Recht.
Philip Gienandt: "Im digitalen Bereich sehen Sie, wie viele Stunden im Schnitt ein Lerner auf der Lernplattform verbringt. Und mein persönlicher Wunsch wäre, dass man die viel früher erreicht. Also selbst die Menschen, die keine sichere Bleibeberechtigung haben, bleiben trotzdem zwei oder drei Jahre. Und jetzt nehmen wir mal eine Vogelperspektive ein: Ist es nicht für uns als Gastland und als Volkswirtschaft nicht wichtig, wenn diese Menschen, egal wann und wie sie zurückgehen, Deutsch lernen würden? Stellen Sie sich mal vor, die Deutsche Sprache wäre in Afghanistan die wichtigste Fremdsprache im Land, oder die zweitwichtigste. Also Sprache als Exportprodukt zu verstehen."
Annette Flade: "Sie wollen fast alle zurückgehen. Sie haben längst kapiert, dass das sogenannte schöne Leben viel unschöner ist auch in Deutschland, viel anstrengender, als sie sich je es haben träumen lassen. Die meisten wollen, wenn es möglich ist, in ihr Land zurück aus unterschiedlichen Gründen. Aber diese Zeit hier, die man vor einem Krieg geflohen ist, als sinnlose Zeit dann eines Tages für sich ansehen zu müssen, finde ich menschlich und auch politisch ein Unding für ein Land, wie wir es sind."
Annette Flade ist Pfarrerin in Rente und das Herz einer Willkommensinitiative in Groß Schönebeck nördlich von Berlin. Hier, im Brandenburgischen Dorf mit rund 2000 Einwohnern, macht man Erfahrungen, die exemplarisch sind für Flüchtlingsinitiativen auf dem Land. Dorfbewohner Rainer Klemke ist ein tatkräftiger Unterstützer.
Rainer Klemke: "Ein Problem sind die Entfernungen. Und das gilt auch für die Integrationskurse, die finden ja nicht bei uns im Dorf statt, sondern die finden in Eberswalde und in Wandlitz statt. Das heißt, wie kommen sie nach Eberswalde? Mit dem Schulbus. Aber in den Ferien fährt der Schulbus nicht. Das heißt, wir fahren sie mit dem Auto hin und holen sie wieder ab. Das sind immer 35 Kilometer hin, 35 Kilometer zurück. Jetzt haben wir ja Gott sei Dank eine Zugverbindung nach Wandlitz, aber es kostet immer 3,50 Euro und das über einen Monat, das ist praktisch der Ernährungskontingent innerhalb der Zuweisung."

42 Flüchtlinge aus Syrien, Pakistan und Tschetschenien wohnen in Groß Schönebeck. Die Dorfbewohner haben die allein Geflüchteten, aber auch große Familien in Wohnungen untergebracht. Es gibt keine Wohnungsnot auf dem Land, und die Mieten sind günstig. Dreimal pro Woche am Vormittag findet ehrenamtlicher Deutschunterricht im Bürgerhaus statt. Der Betreuungsschlüssel hier könnte nicht besser sein. Manchmal kommt auf einen Lerner ein Sprachlernhelfer. Dreißig Unterstützer machen im Willkommensteam Groß Schönebeck mit, darunter auch sogenannte Paten, die sich mit den Geflüchteten durchs Bürokratiedickicht im Asylverfahren kämpfen. Man kommt sich nah im überschaubaren Dorfkosmos.
Rainer Klemke: "Und wenn man sich dann anhört, was die für Schicksale haben, wie die ihren Mann gefoltert, in Stacheldraht gewickelt und mit offenen Wunden gefunden haben und daraufhin geflüchtet sind. Ich finde das enorm, was die für eine psychische Belastung ausgehalten haben, und gleichzeitig noch mal diese Belastung, sich in einer fremden Umgebung zurecht zu finden und zu öffnen, das verlangen wir ja von denen, und wie sie das hinkriegen, ohne durchzudrehen. Ich meine, bei uns ist das eine beschützte Situation, sie leben alle in Wohnungen bzw. Einfamilienhäusern mit Nachbarn, die sich um sie kümmern. Aber wenn man dann denkt, die leben jetzt in so Massenunterkünften und dann noch auf dem Dorf. Das kommt ja noch dazu."

Engagement in der Flüchtlingshilfe ist extrem hoch

Zermürbend sind auch die Paradoxien, in die die deutsche Flüchtlingspolitik die Geflüchteten verstrickt. Einerseits verpflichtet das Integrationsgesetz mit großer Geste den anerkannten Flüchtling zum Deutschlernen. Andererseits erhalten immer mehr Syrer statt einer Aufenthaltsgenehmigung von drei Jahren nur noch subsidiären Schutz für ein Jahr, eine Änderung, die darauf abzielt, den Familiennachzug auszusetzen. Gleichzeitig schwindet die gute Bleibeperspektive und damit die Voraussetzung für den Integrationskurs. Wer Deutsch lernen will, wird darin nicht mehr vom Staat unterstützt.
Verglichen mit anderen Bereichen ist das Engagement in der Flüchtlingshilfe extrem hoch. Aktuelle Studien besagen, dass der größte Teil der ehrenamtlichen Arbeit dort investiert wird, wo Behörden und der Staat darin versagen, ihre Dienstleistungen angemessen bereit zu stellen. Die allermeisten Flüchtlingsinitiativen entstehen spontan und lokal aus hohem Bedarf. Eines ihrer wesentlichen Kennzeichen ist die Selbstorganisation. Und gerade darin stoßen die ehrenamtlich Engagierten und Aktiven irgendwann an ihre Grenzen. Wo stehen wir? Wie können wir weiter machen? Das sind Fragen nicht nur in Groß Schönebeck sondern in vielen ehrenamtlichen Initiativen.
Rainer Klemke: "Was neu und verstärkt auftritt, sind Probleme innerhalb der Willkommensteams, die sozialen Kommunikationsprobleme, weil, wir arbeiten ja alle seit mehr als einem Jahr, und da bilden sich natürlich unterschiedliche Enttäuschungen, Erwartungen aus, nach dem Motto: Ich hab dem jetzt einen Zahnarzttermin besorgt, hab' ihm gesagt, wann er wo sein muss und wollte mit ihm hinfahren, hab' mir Urlaub genommen, und der hat verschlafen und ist nicht gekommen."
Annette Flade: "Die einen sagen: 'Du und du, ihr macht zu viel. Ihr seid viel zu viel bei denen und bestimmt die zu sehr und macht alles für die. Die müssen das jetzt alleine schaffen nach Eberswalde und zu den Behörden.' Es ist nicht schlimm, wenn wir unterschiedlicher Meinung auch sind und unterschiedliche Herangehensweisen haben, aber darüber würde ich viel intensiver streiten und in einen Austausch gehen. Wir brauchten jemand von außen, der so etwas professionell begleitet und auch ein Stück provoziert, so dass wir das auch üben können. Weil sonst, das merken wir auch, es bleiben einfach ein paar Leute weg, sie sagen nicht warum. Und ich find' es nur zu schade, dass wir mit dieser drunter liegenden Schicht wenig im Gespräch sind."
Auch im 40-köpfigen Lehrerteam des Vereins "Offene Tür" treten Spannungen auf. Ehrenamtliche Arbeit im Kollektiv ist kompliziert. Es gibt ja keinen von außen gesetzten Rahmen wie in einem Arbeitsverhältnis mit einem Vertrag. Auch sind die Motive, aus denen der Einzelne helfen will und sich engagiert, vielfältig und durchaus verschieden. Hinzu kommt Überforderung und Arbeitsüberlastung. Da die Aufgaben immer größer wurden und werden, überlegen die Lehrer und Lehrerinnen, wie Verantwortung neu zu verteilen wäre. Auch darin, erklärt die Vereinsvorsitzende Christiane Teichner-Diabaté, wünscht man sich professionelle Beratung.
Christiane Teichner-Diabaté: "Also, der Organisationsaufwand, der ist wirklich immens und eigentlich an einem Punkt, wo man das ehrenamtlich nicht mehr stemmen kann. Also wir sind ein kleines Orga-Team und sehr gut aufeinander eingespielt, aber es ist trotzdem wirklich viel zu viel."
Kay Wishöth: "Wenn bei uns Kurse eingeführt werden – ich nenne das die Kursetablierungsphasen, von null auf hundert zu gehen, da arbeite ich – das sind meistens um die vier bis fünf Wochen – arbeite ich circa 20 Stunden pro Woche extra. Zu meinem Vollzeitjob dazu. Da bin ich dann auch am Limit."

Annette Flade: "Von daher muss sich darüber noch viel mehr Gedanken gemacht werden, wie können wir diese ehrenamtliche Arbeit so unterstützen, dass sie überhaupt bleiben kann?"
Kay Wishöth wünscht sich, damit die Arbeit in den Hangars sich weiterentwickeln kann, vor allem eines:
Kay Wishöth: "Leute, Bürger, die sagen, ich mach' das, ich mach' da mit. Auch wenn vielleicht die Flüchtlingsthematik nicht mehr so ganz in den Schlagzeilen ist, nicht zu vergessen, dass die Geflüchteten da sind. Und die gehen nirgendwo hin, und die brauchen nach wie vor, ich nenn's jetzt mal, diese Zuwendung."

Anfangs gab es Widerstand aus der rechten Szene

Die Flüchtlinge im Containerdorf in Berlin-Buch mögen ihren Lehrer, Reza Gamsavar. Kinder umringen ihn, Frauen versorgen ihn mit selbstgekochtem Essen. Die Flüchtlingsunterkunft traf anfangs auf Widerstand vor allem aus der rechten Szene. Die Neonazis initiierten Demonstrationen, nachts gab es Angriffe auf den Wachschutz. Inzwischen hat man sich auf Facebook verlegt, beobachtet das Containerdorf am Stadtrand und redet darüber.
Reza Gamsavar: "Eines Tages kam ein junger Mann aus Syrien hier nach dem Deutschkurs zu mir. Er war sehr traurig. Ich habe gefragt, was ist los, was ist passiert? Er stand den ganzen Tag plus die Nacht davor vor dem LaGeSo im kalten Berliner Winter und war dann einfach vollkommen fertig. Dann hab ich ihn auf ein Bier eingeladen. Wir sind dann in eine Bar gegangen hier in der Nähe. Wir wurden angestarrt, als wären wir Pandas. Weil wir auch Englisch gesprochen haben. Die Leute haben sich an unseren Tisch setzen müssen als die allerletzte Alternative, sie haben sich so ganz umgedreht mit dem Rücken zu uns. Jemand hat uns dann nachgemacht. Die Leute wussten nicht, dass ich auch Deutsch spreche. Dann hab ich dem jungen Mann gesagt, lass uns die Biere schnell austrinken und abhauen. Wenn ich mit meinen europäisch aussehenden Freunden spreche, können sie sich diesen Rassismus nicht vorstellen."
Als Iraner am Berliner Stadtrand nimmt Reza Gamsavar jede ausländerfeindliche, aber auch ausländerfreundliche Schwingung wahr.
Reza Gamsavar: "Eines Tages saß ich hier im Deutschkurs, und da kam ein 17-jähriges Mädchen ganz schüchtern rein. Ein Mädel aus Buch, direkt hier aus der Nähe. Ja, ich bin Melanie, ich würde euch gerne helfen. Dachte ich mir, wow, geht doch, super, wir freuen uns. Das war eine großartige Erfahrung. Der Baum, der fällt, macht Krach. Der Wald wächst leise."
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