Belletristik

Er liebt mich, er liebt mich nicht

Paar im Sonnenuntergang am Strand
Das "Missverständnis" zwischen Yves und Denise beginnt in einem Seebad © dpa / picture alliance / Zhang Jie
Von Irene Binal · 17.01.2014
Mit gerade mal 23 Jahren hat die in Kiew geborene Französin Irène Némirovsky im Jahr 1926 ihren ersten Roman "Das Missverständnis" geschrieben. Das Debüt ist ein bezauberndes und kluges Buch über Irrungen und Wirrungen der Gefühle und wurde nun erstmals veröffentlicht.
Man schreibt das Jahr 1924. Europa laboriert an den Wunden des Ersten Weltkriegs, die alten Ordnungen sind zerbrochen, aber die feine Gesellschaft trifft sich nach wie vor im noblen Seebad Hedaye. Einer der Sommergäste ist Yves, ein einstmals wohlhabender, nun aber verarmter junger Mann, der sich mit einem Bürojob über Wasser hält und den alten Zeiten des luxuriösen Müßiggangs nachtrauert.
Eines Nachmittags begegnet er Denise, der verwöhnten Gattin eines Kriegskameraden, und beginnt einen Sommerflirt mit ihr, der sich bald als verhängnisvolle Affäre erweisen soll. Denn Denise langweilt sich in ihrer Ehe, sie träumt von der romantischen Liebe und erwartet von Yves, dass er ihr diesen Traum erfüllt.
Es ist das erste Missverständnis in einem an Missverständnissen reichen Roman. Als Yves und Denise nach Paris zurückkehren, wird klar, dass die beiden ganz unterschiedliche Vorstellungen von Liebe haben: Denise verlangt von Yves, sich ganz und gar ihr zu widmen, sie hofft auf Liebesschwüre und Abenteuer, während Yves in der Liebe vor allem Ruhe sucht und zusehends unter der Diskrepanz zwischen Denise’ luxuriösem Leben und seinem eigenen ärmlichen Dasein leidet.
Nebenbei entsteht das Porträt einer Gesellschaft
Mit einem für eine 23-Jährige erstaunlichen Einfühlungsvermögen seziert Irène Némirovsky in einer zarten, fast fragilen Prosa die Emotionen ihrer Figuren, eindringliche Emotionen, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben - etwa wenn Denise verzweifelt reagiert, als der Geliebte sich nur um wenige Minuten verspätet, oder wenn Yves sich von der Beziehung zusehends eingeengt fühlt, gleichzeitig aber unruhig wird, wenn sich Denise einmal nicht meldet - nur dann flackert eine Ahnung von Gefühl in ihm auf, nur dann kann er sich vorstellen, Denise tatsächlich zu lieben.
Irène Némirovsky, undatiertes Porträt in Schwarz-Weiß
Undatiertes Porträt: Irene Nemirovsky ist in den 1930ern Star der französischen Literaturszene© dpa / picture alliance / imec archives
Gleichzeitig entwirft die Autorin fast nebenbei das Porträt einer Gesellschaft, die der "Große Krieg" nachhaltig verwüstet hat. Yves, der einen Lungendurchschuss erlitten hat, wird von Kriegstraumata gebeutelt und fühlt sich abgestumpft, will Denise jedoch nicht mit seinen Sorgen behelligen. Denise wiederum kennt keine finanziellen Nöte und versteht nicht, wie sehr Yves unter dem Zerbrechen der vertrauten Strukturen leidet.

Nah am Kitsch, aber nicht trivial

Némirovsky lässt beide Welten aufeinanderprallen, was für ihre Figuren tragisch endet: Denise, an Yves’ Kühle und seiner oft abweisenden Art verzweifelnd, lässt sich von ihrem Cousin umwerben, womit es zum finalen Missverständnis kommt, aus dem Denise die traurige Erkenntnis gewinnt, dass man das Glück immer erst dann erkennt, wenn man es verloren hat.
Es ist ein Debüt, das seinesgleichen sucht. Zwar schrammt der Text mitunter nah am Kitsch vorbei, aber Némirovsky behält die Zügel stets in der Hand und bewahrt ihre Prosa geschickt davor, ins Triviale abzugleiten. Die wenigen Schwächen überliest man gern, angesichts der Wucht der Emotionen, des Scharfblicks und der Sensibilität der Autorin sowie der Intelligenz, mit der sie ihren Roman sicher durch alle Tiefen und Untiefen der menschlichen Gefühlswelt steuert.

Irène Némirovsky: "Das Missverständnis"
Aus dem Französischen von Susanne Röckel
Verlag Knaus, München 2013
172 Seiten, 17,99 Euro

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