Menschen mit Behinderung in der Literatur

Protagonisten im Rollstuhl

29:43 Minuten
Das Bild zeigt das Piktogramm für Menschen mit Behinderung an einer Wand.
Spielen im Roman selten die Hauptrolle: Menschen mit Behinderung. © picture alliance / dpa | Daniel Karmann
Von Marc Bädorf  · 08.04.2022
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Auf Menschen mit Behinderung trifft man in der Literatur eher selten. Meist ist ihre Darstellung dann klischeehaft. Doch es gibt einige überraschende Ausnahmen, und langsam setzt ein Umdenken ein.

Und dann gab es nur noch uns beide. Will lag halb aufgerichtet im Bett, sodass er auf dem Fenster auf seiner linken Seite schauen konnte, wo ein Wasserspiel ein munteres, klares Flüsschen unter die Terrasse perlen ließ.

Aus Jojo Moyes „Ein ganzes halbes Jahr“

Eine der letzten Szenen des Romans "Ein ganzes halbes Jahr" von Jojo Moyes. Will, der seit einem Motorradunfall querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzt, möchte in der Schweiz Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Er verabschiedet sich von seiner Pflegerin Lou, in die er sich im vergangenen Jahr verliebt hat. 
Der Roman der britischen Schriftstellerin, 2012 veröffentlicht, war eines der meistverkauften Bücher der vergangenen Jahre. Und er war einer der wenigen Bestseller, in denen Menschen mit Behinderung eine Rolle spielen.

Voll von Klischees

„Das ist ja so ein Unterhaltungs-Schmachtfetzen. Ich weiß, dass es keine Literatur sein soll und mir ist auch bewusst, dass man da wahrscheinlich gar nicht so viel Wert gelegt hat auf eine authentische Darstellung“, sagt Alexandra Koch, hauptberuflich IT-Projektleiterin, die seit vielen Jahren über Literatur und Behinderung bloggt.
Sie ärgert sich darüber, wie dieser junge Mann, der nach einem Unfall im Rollstuhl landet, dargestellt wird. Denn obwohl er sehr gute Bedingungen habe, aus einem wohlhabenden Haus komme und selbst seinen Job vielleicht noch machen könnte, werde es so dargestellt, als wäre damit sein Leben komplett zu Ende: „Und das war also inhaltlich voll von Klischees und einer ganz deprimierenden Darstellungsweise“, meint Koch.
Menschen mit Behinderung finden in Gegenwartsromanen kaum statt. Und wenn, geht es oft schief. Wie ist es, wenn Betroffene von ihrer Behinderung erzählen?
Als ich meine Diagnose bekommen hab, bin ich praktisch vom Tennisplatz gekommen. Und habe das auch wider besseren Wissens eigentlich nicht glauben können“, erzählt der Schweizer Schriftsteller Christoph Keller. Bei ihm wurde, wie bei seinen beiden älteren Brüdern auch, eine Spinale Muskelatrophie diagnostiziert.

Eine Wanzengeschichte

Keller beginnt zu schreiben. 1988 veröffentlicht er seinen ersten Roman. Es folgen weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke. 2020 dann eine Art Sammelband mit dem Titel: „Jeder Krüppel ein Superheld. Splitter aus dem Leben in der Exklusion“. Darin findet sich auch die „Wanzengeschichte.“ Eines Tages wächst dem jungen Amerikaner Dane eine Art Muttermal, aus dem später Ameisen kriechen. Sein Umfeld kann nichts mehr mit ihm anfangen.
Seine „Wanzengeschichte“ sei eine Umschreibung von Kafkas „Die Verwandlung“, in der Gregor Samsa als Käfer aufwacht. „Ich liebe diese Geschichte. Sie ist vermutlich die wichtigste Geschichte für mich überhaupt“, sagt Keller. „Aber mir gefällt nicht, wie Kafka das Problem Behinderung angeht. Also für mich ist das der ultimative Behindertentext. Und was da in der Geschichte passiert, ist eben, dass Samsa als Käfer immer mehr begreift, was er für ein schreckliches Problem für die Gesellschaft ist. Und der Gesellschaft dann den Gefallen tut, sich doch aus dieser zu entfernen, indem er stirbt.“ 
In Kellers „Wanzengeschichte“ stirbt der Protagonist nicht. Er schwebt davon.
„Man spricht eigentlich erst seit den 1970er-Jahren von Behinderten, während man vorher von Krüppeln oder Versehrten gesprochen hat“, erzählt Klaus Birnstiel, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Greifswald. Eines seiner Forschungsgebiete ist das Thema Literatur und Behinderung.

Viele Figuren mit Behinderung in der Bibel

„Wenn man das einmal begriffen hat, dann beginnt die Vorgeschichte der Behinderung schon sehr, sehr früh, nämlich in der Antike, in der Odyssee.“ Ein anderer zentraler literarischer Text, in dem es von Figuren mit Behinderung nur so wimmele, sei die Bibel, in der es Blinde, Lahme, Kleinwüchsige und Bucklige gebe. Für Birnstiel etabliere damit schon die Bibel eine Art und Weise, wie von Menschen mit Behinderung bis heute erzählt wird, wie er sagt:
„Aus der biblischen Tradition kommt ein Motiv, das wir bis heute kennen, nämlich, dass Behinderung in Literatur auf irgendeine Weise funktionalisiert wird. Wir kennen zum Beispiel behinderte Figuren, die als Bösewichter fungieren, und man sieht ihnen auf Grund ihrer Behinderung, ihrer Deformation, ihrer Hässlichkeit schon an, dass sie auch moralisch böse sind.“
Die Suche nach deutschsprachigen Romanen mit Figuren mit Behinderung in der Gegenwart ist nicht besonders ergiebig. Da gibt es „Peehs Liebe“, ein Roman von Norbert Scheuer aus dem Jahr 2012. Die Hauptfigur Rosarius ist kleinwüchsig und spricht die ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens kein Wort. Da gibt es „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, ein Roman von Clemens Setz aus dem Jahr 2015, der in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung spielt. Die Protagonistin ist Natalie Reinegger, die in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung einen im Rollstuhl sitzenden Mann betreut.

Comic über Jungen mit geistiger Behinderung

Ein interessantes literarisches Werk, das in Deutschland in den vergangenen Jahren über Menschen mit Behinderung erschienen ist, ist jedoch gar kein Roman, sondern ein Comic von Mikael Ross. Er trägt den Titel „Der Umfall.“ Der Protagonist Noel ist ein Junge mit geistiger Behinderung. Nach dem Schlaganfall seiner Mutter muss er in eine Betreuungseinrichtung in Niedersachsen umziehen. Der Comic begleitet sein erstes Jahr in der Einrichtung. Wochenlang hat Autor Mikael Ross dafür in Neuerkerode, einem Dorf für Menschen mit geistiger Behinderung südöstlich von Braunschweig, recherchiert und erzählt:
Ich dachte, dass das so geht, dass man da hinfährt und dann Fragen stellt. Und die antworten dann, und dann machst du damit was. Das hat halt überhaupt nicht funktioniert, weil die Bewohner, die ich getroffen habe, halt überhaupt kein Interesse daran hatten, mir irgendwelche Fragen zu beantworten, sondern die waren eher interessiert an dem Austausch.“
Ross ist nicht behindert. Wie war es für ihn, über Menschen mit Behinderung zu schreiben? Er habe Angst gehabt, sagt Ross: „Aber dann war es eher so mit der Zeit das Gefühl: Nur, weil du Angst davor hast, heißt es ja nicht, dass du das nicht machen sollst."
Auch die mittelalterliche Literatur kenne Figuren mit körperlichen Beeinträchtigungen, erzählt Klaus Birnstiel. Behinderung sei aus christlicher Sicht etwas gewesen, das zu Mitleid und Barmherzigkeit aufforderte. In der Frühen Neuzeit, also so ab dem 16. und 17. Jahrhundert, sei etwas Neues hinzugekommen: Behinderung wurde als eine Art Tatsache begriffen. Im „Simplicissimus“ von Grimmelshausen wimmele es von Versehrten, von denen, die einen Arm verloren, vom Pferd gefallen, von einer Seuche betroffen sind.
In vielen gesellschaftlichen, auch politischen Fragestellungen nimmt die Literatur heute eine Vorreiterrolle ein. Im Umgang mit Menschen mit Behinderung ist das nicht immer so. Erst allmählich vollziehe sich ein Wandel, findet die Bloggerin Alexandra Koch, die Glasknochen hat und einen Rollstuhl nutzt.

Immer dieselben Motive

„Da kommen in der Literatur jetzt vermehrt Figuren vor, wo ich das Gefühl hab, die sind nicht mehr nur ob ihrer Behinderung da, die sind nicht mehr dieses 'Ich muss jetzt ein bisschen Drama schaffen in der Geschichte'. Sondern die dürfen auch eine eigene Existenzberechtigung darüber hinaus haben. Ich selber bin ja auch behindert und das ist nicht meine Hauptaufgabe. Ich habe auch noch einen Job. Ich habe den Kontext in meiner Familie, in meiner Ehe, der eben nicht heißt, ich bin den ganzen Tag 24 Stunden damit beschäftigt, behindert zu sein.“
Seit einiger Zeit berät Koch auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die über Menschen mit Behinderung schreiben möchten. Es sei nicht nur die Sprache, die in der Gegenwartsliteratur immer wieder voller Klischees stecke. Oft seien es auch die Motive, zum Beispiel der Mensch, der einen Unfall hat und im Rollstuhl landet.
Menschen, die körperlich behindert sind, sind auch charakterlich fragwürdig: Das ist eine der Ideen, die sich nicht nur in Romanen der Klassik finden lässt, sondern auch in Märchen. Gerade hat die kanadische Autorin Amanda Leduc, die aufgrund einer leichten Zerebralparese und spastischen Hemiplegie leicht hinkt, ein Buch zu diesem Thema vorgelegt. Es ist 2021 auf Deutsch erschienen mit dem Titel: "Entstellt – Über Märchen, Behinderung und Teilhabe".
Leduc macht sich Gedanken über historische Märchen und Disney-Versionen von Märchen, untersucht Ausgangssituationen, Figurenzeichnungen, Konflikte und Beschreibungen. 

„Warum war Scar, der Bösewicht aus dem 'König der Löwen', nur unter der Narbe bekannt, die sein Gesicht zeichnete? Warum war es in all den Geschichten über jemanden, der oder die jemand oder etwas anderes sein möchte, immer das Individuum, das sich ändern musste, und nie die Welt?“

Aus Amanda Leduc „Entstellt – Über Märchen, Behinderung und Teilhabe“

Bücher in einfacher Sprache

2017 hat Uta Lauer in Nauen den Verlag naundob gegründet. Drei oder vier Bücher bringt sie im Jahr heraus. Einige wenige Verlage gibt es in Deutschland, die Bestseller in einfache Sprache übersetzen und verkaufen. Doch Bücher, die direkt in einfacher Sprache geschrieben sind - die verlegt nur Lauer.
Eine der wichtigsten Zielgruppen des Verlags seien Menschen mit geistiger Behinderung, sagt Lauer: „Das waren so die ersten Leute, die wir angesprochen haben, und die immer noch viel zu oft eher Kinderbücher, die ja manchmal sehr einfach geschrieben sind, vorgesetzt bekommen als Lesestoff und darauf keine Lust haben.“

Kriegsversehrte in der Literatur

Nach zwei Weltkriegen gab es Tausende Menschen mit Behinderung, die sich auch in der Literatur finden, sagt Klaus Birnstiel: „Es scheint ein bisschen so, als dass nach dem Zweiten Weltkrieg das Erzählen von Menschen mit Behinderungen etwas versteckter oder verdeckter funktioniert. Und das mag mit der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg zu tun haben. Nach dem Ersten Weltkrieg gibt es eine ganze Menge von Heldenerzählungen über behinderte Menschen, die sich also trotz ihrer Verletzungen mit ihren Prothesen zurück ins Leben kämpfen, wie man so gerne sagt.“
Neben Ernst Tollers „Hinkemann“ fällt hier vor allem Joseph Roths Roman „Die Rebellion“ ins Auge. Protagonist ist der 45-jährige Andreas Pum, der im Krieg ein Bein verloren hat:

"Sie waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie hatten ein zerschossenes Rückgrat. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompagnie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg: gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden."

Aus Joseph Roth „Die Rebellion“

Psychische Versehrtheit

Nach dem Zweiten Weltkrieg rücken andere Facetten von Behinderung in den Fokus. Dabei stehe aber weniger die Frage der körperlichen Verletztheit im Raum als vielmehr die psychologische Dimension, die Verletzung der Seele, sagt Birnstiel.
Auch heute sind mentale Erkrankungen, vor allem Depressionen, in der Literatur immer wieder Gegenstand. Zum Beispiel in Terezia Moras „Das Ungeheuer“, bei Thomas Melle, der in „Die Welt im Rücken“ seine Bipolare Störung thematisiert oder in Ronja von Rönnes 2022 erschienenen Roman „Ende in Sicht.“

Transhumane Zukunftsperspektiven

Über körperliche Behinderungen wird seltener geschrieben. Doch der Körper ist als Thema auch in die deutsche Literatur zurückgekehrt, vor allem in die literarische Science-Fiction. Hier interessiere die Beziehung zwischen Mensch und Technik. Behinderung als Kategorie existiere nicht mehr, sagt Birnstiel:
„Perspektiven, die man unter Schlagworten wie Transhumanismus beschreiben würde. Wenn man also an Autorinnen und Autoren wie Dietmar Dath oder auch Sibylle Berg in ihren letzten Büchern denkt, dann haben wir es auf einmal mit Figuren zu tun, die herkömmliche Körperlichkeit, Zweigeschlechtlichkeit, Lebendigkeit, Behinderte, Nichtbehinderte, Männlichkeit hinter sich lassen. All diese transhumanen Zukunftsperspektiven, die sind im Moment, glaube ich, ein großes Faszinosum. Und dieses Faszinosum findet man eben auch in der Literatur.“ 
(DW)
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