Begriffsgeschichte der Seele

"Das Wort bezeichnet alles, was lebendig ist"

08:56 Minuten
Illustration: EIn Schmetterling sitzt auf einem Finger.
Seelenverwandtschaft: Das altgriechische Wort "Psyche" bedeutet auch Schmetterling. © imago / fStop Images / Malte Müller
Johanna Haberer im Gespräch mit Christopher Ricke · 29.08.2021
Audio herunterladen
Hat die unsterbliche Seele ihre Bedeutung verloren? Die Naturwissenschaft hat diesen Begriff seit Langem verabschiedet. Doch die Theologin Johanna Haberer deutet ihn neu: als elementare Lebenskraft, die uns Menschen mit anderen Wesen verbindet.
Christopher Ricke: Deutschlandfunk Kultur beschäftigt sich mit der Seele, diesem unfassbaren, unsichtbaren Teil unseres Wesens, der uns zu dem macht was wir sind, der das Sein bestimmt. Wenn es sie denn gibt, die Seele.

Nicht greifbar, messbar, nachweisbar

Johanna Haberer, evangelische Theologin und Professorin für christliche Publizistik an der Uni Erlangen-Nürnberg hat ein Buch über die Seele geschrieben: "Die Seele – Versuch einer Reanimation". Frau Haberer, Reanimation setzt voraus: zumindest scheintot. Was macht Sie so pessimistisch?
Johanna Haberer: Na ja, ich komme ja aus dem wissenschaftlichen Diskurs zunächst mal, und da habe ich halt erlebt, dass zum Beispiel meine Kolleginnen und Kollegen von der Exegese oder von den Bibelübersetzungen versucht haben, Ersatzworte für das Wort "Seele" zu finden. Es gab auch die Diskussion schon in den 80er-Jahren, ob man nicht das Wort "Seele", das ja griechisch "Psyche" heißt, ob man dieses Wort nicht einfach durch "Leben" ersetzen kann. Weil seit dem 19. Jahrhundert spätestens infrage steht, ob der Mensch eine Seele habe oder beseelt sei.
Diese Frage, die wird mir von empirischen Wissenschaften verneint, weil man die Seele nicht vermessen kann und nicht messen kann. Und wenn dann die Theologie mit den Naturwissenschaften und den Lebenswissenschaften im Gespräch bleiben will, muss sie, so meinte man eine Zeit lang, auf diesen Begriff vielleicht verzichten, weil er nicht mehr kompatibel ist zu den empirischen Lebenswissenschaften, die nur das glauben und nur das aufschreiben, was messbar und vermessbar ist.

Unverwechselbare Innenwelt

Ricke: Vielleicht brauchen wir einfach noch ein bisschen Zeit und Geduld. Ich würde da mal auf die Quantenphysiker setzen, die ja sagen, menschliches Bewusstsein ist durchaus auch außerhalb des Körpers möglich. Das wäre ja zumindest ein Hinweis, ein Indiz. Also, brauchen wir einfach Geduld mit den anderen Wissenschaftlern?
Haberer: Das kann sein. Ich schreibe ja in dem Buch, dass es sich bei dem Wort "Seele" um eine Art Schirmbegriff oder eine Metapher für das Leben handelt. Und eine Metapher brauchen wir ja immer, eine Art Bild brauchen wir ja immer, wenn wir etwas noch nicht präzise beschreiben können. Das wäre sozusagen die Antwort auf Ihre Frage: Es kann sein, dass wir eines Tages plötzlich doch beschreiben können, was die individuelle Energie und das Bewusstsein eines jeden einzelnen Menschen eigentlich bedeutet.
Schwarz-weiß-Porträt der Theologin Johanna Haberer, mit dunklen schulterlangen Haaren in einem schwarzen Pullover
Die Theologin Johanna Haberer ist der Seele auf der Spur.© Vera Tammen
Vielleicht können wir auch aufzeichnen, wie die Innenperspektive eines Menschen aussieht, denn das eigentlich beschreibt ja "Seele": die Innenperspektive, die unverwechselbar ist. Sie und ich zum Beispiel, wir beide nehmen vermutlich manche Dinge in der Welt ähnlich, aber ganz viele auch vollkommen unterschiedlich wahr. Nehmen wir als Beispiel die Musik.
Und dieses Empfinden, diese Innenperspektive, die beschreiben wir eigentlich als Seele. Solche Innenperspektiven hat ja auch ein Tier zum Beispiel. Und dieses Unverwechselbare, "nur ich kann die Welt so sehen, mit meiner Geschichte, mit meiner Biographie, mit meinen Erinnerungen, mit meinen Empfindungen", das beschreibt das Wort Seele.

Kolonialer Missbrauch der Symbolik

Ricke: Sie haben ja gesagt, man muss es aufzeichnen. Wir können es ja mal versuchen: Wenn wir es jetzt wirklich mit Stift und Papier machen würden, wie würden Sie die Seele zeichnen? Als Vogel, als Licht, als Rauch? Und vor allen Dingen: Wo sitzt sie? Im Kopf, im Herzen, wo ist diese Innenperspektive verankert?
Haberer: Da müssen wir uns ja auf unterschiedliche Traditionen besinnen. Ich meine ja auch, dass das Wort eine so dicke Geistesgeschichte hat, dass wir es nicht einfach beiseite legen können. Es hat natürlich auch eine Missbrauchsgeschichte – in dem Augenblick, wo Menschen unterschieden wurden zwischen denen, die eine Seele haben, und denen, die keine Seele haben, zum Beispiel in der Kolonialzeit.
Bilder gibt es natürlich genügend, aber das Wichtigste und das Aussprachefähigste ist dieses Bild auf dem Titel meines Buchs: Gott Zeus malt Schmetterlinge, schafft Menschen, Seelen. Und Merkur legt den Finger auf den Mund und versucht, die Leute zum Schweigen zu bringen.

"Volksseele": ein belasteter Begriff

Die Seele ist etwas, was man nicht mit präzisen Bildern aufmalen kann, aber es gibt natürlich in der Tradition ganz viele Bilder. Wie gesagt, schon ganz frühe Zeichnungen von Vögeln, die Verstorbene symbolisieren, oder Schmetterlinge, die ja auch die Gestalt wechseln.
Im Grunde genommen bezeichnet das Wort "Seele" einfach alles das, was sich stickstoffbasiert, selbst navigierend bewegt, also das, was wir mit "lebendig sein" beschreiben, was uns ja dann auch mit den Tieren in große Verwandtschaft bringt.
Ricke: Wir können da sogar noch den Kreis sehr viel größer machen, wir haben ja jetzt erst in den letzten Monaten von US-Präsident Biden gelernt, dass die Seele nichts Persönliches ist, sondern eher etwas Kollektives. Das hat er ja mehrfach gesagt, er sei gekommen, um "die Seele Amerikas zu heilen". Da hat gleich ein ganzes Land eine Seele!
Haberer: In unserer deutschen Geschichte ist das ein kontaminierter Begriff. Im Nationalsozialismus wurde ja von Volksseele geredet: Zu diesem Kollektiv gehörten einige, und einige gehörten eben nicht dazu.

Raum der Erinnerungen

Aber ich glaube, dass dieses fast sakrale Nationalbewusstsein der USA auch mit diesem Soul-Begriff beschrieben werden kann. Und ich glaube schon auch, dass Nationen, die eine bestimmte Geschichte teilen und die bestimmte Erfahrungen miteinander gemacht haben, dass man den Begriff Seele dafür schon auch verwenden kann.
In unserer biblischen Sprache ist es dieser Raum der Erinnerungen, der in der Tradition auch der Raum der Seele genannt wird. Zum Beispiel gibt es im Hebräischen ein Bild, dass die Seele so eine Art Kasten ist, wo man die Erinnerungen reinpackt.
Ricke: Es ist auch etwas, was Hilfe braucht, wenn ich in diesen sakralen Raum gehe. Ein guter Ort, sich mit der Seele zu beschäftigen, ist natürlich zum Beispiel eine Kirche. Mich berührt das jedes Mal am Sonntag, wenn ich in der Messe dann mit der ganzen Gemeinde spreche: "Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund". Da spüre ich als Kirchgänger echt ein Vertrauen, kann etwas abgeben, kann vertrauen, loslassen – das tut der Seele gut.
Haberer: Seelenheil, die heile Seele, oder bei den Mystikern der Seelengrund, das ist der Raum, wie der Meister Eckhart sagt, zu dem nur Gott Zugang hat und wo uns Gott näher ist als wir uns selbst. Martin Luther hat es auch als eine Art Raum gesehen. Aber all das sind natürlich Bilder, deswegen war in der wissenschaftlichen Sprache das Wort verschwunden.

Gemeinsames Singen als Seelenpflege

Aber in der Alltagssprache wissen wir alle ganz genau, wenn wir jemanden fragen, wie geht es deiner Seele, oder diese alten liturgischen Formeln, die Sie gerade verwendet haben – jeder Mensch weiß intuitiv genau, wovon die Rede ist.
Ricke: Wenn es um diese empfundene Seele geht, da spielt ja Musik auch eine Rolle, ich denke da gerade an Johann Sebastian Bach, "meine Seele erhebt den Herrn". Auch das gemeinsame Singen dient ja der Seelenpflege.
Haberer: Bach hat sich natürlich ganz stark an den Gebeten des Alten Testaments orientiert. Diese Dialoge mit sich selbst, "lass meine Seele singen" oder "Oh Herr, nimm meine Seele auf", diese Psalmengesänge, kommen dann in den Kantaten wieder, wo der Mensch sozusagen sich selbst auffordert, sich zu Gott hin zu öffnen.
Und bei Johann Sebastian Bach hat ja die Seele meistens auch eine eigene Stimme in den Kantaten: Der hohe Sopran ist die Seele, die dann ihre eigenen, ganz feinen Töne anstimmt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Johanna Haberer: "Die Seele. Versuch einer Reanimation"
Claudius Verlag, München 2021
152 Seiten, 16 Euro

Mehr zum Thema