Barbara Streidl über Gier

"Ein gieriges Herz steckt in uns allen"

10:27 Minuten
Das Gemälde "Die sieben Todsünden: Gier" zeigt einen prächtig gekleideten Kaufmann, dem eine junge Frau mit Baby einen wertvollen Ring reicht.
Die Sucht nach immer mehr Reichtum zeigt das Gemälde "Die sieben Todsünden: Gier" von Jacob de Backer in allegorischer Form. Es wird auf das Jahr 1570 datiert. © picture alliance / Heritage Images
Barbara Streidl im Gespräch mit Shelly Kupferberg · 14.05.2022
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Die Grenzen des Wachstums sind längst erreicht, und doch verlangen die meisten Menschen nach immer "mehr". Barbara Streidl hat ein Buch über das Phänomen der Gier geschrieben und empfiehlt, sich eine einfache Frage zu stellen: Ist es nicht genug?
Shelly Kupferberg: „Mehr“ ist das in der Werbung am zweithäufigsten genannte Wort aller Zeiten, schreibt Barbara Streidl in ihrem gerade erschienenen Buch „Gier: Wenn genug nicht genug ist“. Seit wann hat dieses „Mehr“ zum Beispiel in der Werbung eine solche Konjunktur?
Barbara Streidl: Das ist eigentlich schon ganz lange so. Das können wir bis in die 50er-Jahre beobachten, dass das einfach etwas ist, was natürlich in der Werbung uns vorgegaukelt wird, dass darüber Dinge irgendwie attraktiver gemacht werden sollen. Und ja, das haben wir bis heute so, weil unsere ganze Gesellschaft darauf aus ist, dass es gut und angesagt und positiv und cool ist, mehr zu haben, mehr zu machen, mehr zu wollen, mehr zu können.
Kupferberg: Dabei müssten wir es ja eigentlich inzwischen besser wissen, dass dieses „Mehr“ nicht wirklich konstruktiv ist für unsere Welt, für unsere Ressourcen. Sie gehen in Ihrem Buch der Gier auf die Spur, die ja so alt ist wie die Menschheit überhaupt und schon seit Jahrtausenden auch immer eine moralische Frage war bis ins Hier und Jetzt. Welche erstaunlichen Entdeckungen konnten Sie im Zuge Ihrer Recherche machen, wer hat sich alles mit der Gier auseinandergesetzt?

Die Gier ist eine der Todsünden

Streidl: Mit der Gier haben sich eigentlich alle auseinandergesetzt. Viele denken: Oh, ist das nicht eine von den Todsünden? Ja, eine Tod- oder Wurzelsünde ist das. Die Todsünden sind ja vor allem auch dazu da, dass sie so eine Art Regulativ waren, so von wegen: Diese Dinge wie Gier oder Wut (ist ja auch eine Todsünde), die nennen wir euch als etwas, womit ihr euch nicht so sehr auseinandersetzen sollt, natürlich erst mal im spirituellen oder im christlichen Kontakt, aber doch natürlich auch im Hier und Jetzt.
Das ist lange her, aber wir sehen, dass die Gier bis heute bei uns ist. Ob wir jetzt Literaten oder Autor*innen hören, wie zum Beispiel Margaret Atwood – die hat mal gesagt, niemand hat ihr je gesagt, dass Gier und Hunger nicht dasselbe sind. Früher schon hat’s welche gegeben, ich zitiere noch Fontane, das ist dann ein Jahrhundert davor: „Geizhälse sind die Plage ihrer Zeitgenossen, aber das Entzücken ihrer Erben.“
Das heißt, alle haben die irgendwie so mitlaufen lassen, und sie ist ja bis heute auch bei uns dabei. Wir sehen Werbekampagnen wie „Geiz ist geil“ als etwas Witziges, Selbstverständliches, indem wir uns auf Schnäppchenjagd begeben und indem Bücher wie „1000 legale Steuertricks“ für uns etwas total Selbstverständliches sind.
Kupferberg: Früher sprach man von Habsucht, heute eher von Gier. Ist das eigentlich eins zu eins dasselbe?
Streidl: Würde ich mal sagen, kann man schon als Synonym sehen.
Kupferberg: Von der Bibel bis zur Popkultur, von Dante bis Dagobert Duck, sie kommt überall vor, aber wird dennoch ja auch gerne geleugnet – wer will schon als gierig dastehen? Sie haben sich auch damit beschäftigt, was Gier in unserem Gehirn auslöst und woher überhaupt dieser Trieb zum „Mehr“ kommt. Was konnten Sie da herausfinden?
Streidl: Zum Beispiel in der Psychologie ist das ganz spät erst überhaupt erkannt worden, dass das auch ein Thema sein könnte. Dann habe ich eigentlich auch erst aus jüngster Zeit eine ganz interessante Forschung von zwei deutschen Professoren gefunden, die haben sich so richtig mit der Gier auseinandergesetzt. Das waren die Professoren Hewig und Mussel, und die haben da ein Forschungsteam gemacht, in dem sie so eine Situation, die eigentlich ganz alltäglich ist, generiert haben: Man spielt ein Computerspiel. Und in dem Computerspiel geht’s wie in so vielen Computerspielen darum, dass man Punkte generieren muss, also so ganz normal, wie das viele Leute auch kennen.

Wenn der Jagdinstinkt erwacht

Diese Sachen, die dabei herausgekommen sind, wenn nicht nur um Punkte gespielt wird, sondern um Geld, dann ist so richtig der Jagdinstinkt bei den Spielenden, das waren Männer und Frauen, erwacht. Das heißt, die haben dann so richtiggehend auch Sachen gemacht, die sie vorher nicht gemacht haben. Am allerkrassesten ist es eigentlich dann gekommen, als die nicht mehr gegen den Computer gespielt haben, also gegen einen Bot oder gegen einen Algorithmus, sondern als sie gegen einen richtigen Menschen, also gegen eine andere Person aus dieser Spielgruppe angetreten sind. Dann haben die so richtig vom Leder gezogen und wollten immer mehr Geld und immer mehr Gewinn erzielen und hatten da so richtiggehend auch Freude daran.
Diejenigen, die bei diesem Computerspiel, das von den Professoren beobachtet worden ist, mitgemacht haben, die haben auch einen Fragebogen zur eigenen Einschätzung ausgefüllt. Eine sogenannte Greed Scale, also eine Gier-Skala haben sie ausfüllen müssen, wo sie sich selbst eingeschätzt haben - „Ich habe einen sprichwörtlichen Hunger nach mehr“ oder „Um meine Ziele zu erreichen, ist mir jedes Mittel recht“. Das sind ja jetzt Sätze, die wir aus unserem Hier und Jetzt vielleicht schon auch kennen. Ja, und das Ergebnis dieser Untersuchung ist: Die beiden Professoren, die das gemacht haben, haben festgestellt, dass gierige Personen, die sich auch selbst so einschätzen, wenn man die Gehirnströme und alles anschaut und alles zusammen betrachtet, kommt man auf das Ergebnis, dass die weniger in der Lage sind, angemessen auf ihre Umwelt zu reagieren. Und das kennt man auch von Psychopathen.
Kupferberg: Muss denn Gier auch immer automatisch mit Geiz einhergehen?
Streidl: Die sind schon recht verbunden miteinander. Natürlich ist es erstaunlich, dass die Personen, die mehr haben, von dem Mehr aber gerne gar nichts abgeben wollen. Das ist ja sehr weit verbreitet. Wenn man sich vorstellt, jemand besitzt schon einen ganzen Häuserblock, und es wäre rein von den finanziellen oder ökonomischen Möglichkeiten durchaus drin, dass dann pro Haus in diesem Häuserblock, der vielleicht eine ganze Straße sich entlangzieht, ein Hausmeister eingestellt wird. Es ist aber dann oft so, dass genau diese Sache nicht gemacht wird, weil man da genau aufs Geld schaut. Das heißt, die sind schon sehr oft verwoben miteinander, sie kommen natürlich aber auch ohne einander aus.
Kupferberg: So wie Sie es jetzt beschrieben haben, vom Jagdtrieb bis zur Gier ist es ja erst mal ein gradueller Unterschied, und es hat ja fast was Pathologisches, was Sie uns gerade erläutert haben. Am Ende Ihres Buches geht es um die Transformation der Habsucht, der Gier. Wie wäre die möglich?
Streidl: Erst mal müssten wir uns alle damit abfinden, dass in uns allen ein gieriges Herz steckt. Das hat mit Prägung, mit Vorbildern, mit Sozialisation und so weiter zu tun, also da ist niemand frei von. Die wichtige zweite Sache ist aber, nachdem wir uns das erst mal eingestanden haben, dass wir lernen, ein Genug zu etablieren, das heißt zu sagen: „Okay, es reicht jetzt.“

Es könnte ja noch was Besseres kommen

Das ist etwas, was vielen gar nicht so leicht fällt, weil wir ständig hier noch eine Möglichkeit sehen, da noch eine Möglichkeit – ob das jetzt bei Dating-Portalen oder Apps ist, wo man immer noch meint „Ah ja, es könnte noch was Besseres kommen“, oder wenn man vielleicht dann doch noch mal eine bessere Möglichkeit für eine Urlaubsreise findet oder sonst was, es ist überall so, dass wir – ich will schon fast sagen – verlernt haben, ein Genug zu erkennen oder es auch selbst zu bestimmen.

Das ist echt eine Herausforderung, aber ich glaube, dass es das ganz dringend braucht, weil, das wissen wir alle, Ressourcen sind endlich, und irgendwann ist halt in diesem ganzen Wachstum, mit dem wir uns vermeintlich ja immer nur auseinandersetzen können, da sollten wir auch aufhören. Wir wollen dann nicht mehr wachsen, weil wir sagen: „Es ist groß genug, es reicht.“

Barbara Streidl

Kupferberg: Aber Sie sagten gerade, wir sind ständig davon umgeben. Das beginnt ja mit den Nachrichten, wenn das Wirtschaftswachstum prognostiziert wird, das ist oft die erste Meldung. Was uns das genau sagt als Verbraucher, sei noch mal dahingestellt, aber dieses Umdenken, das muss ja im Großen wie im Kleinen passieren. Wo sehen Sie denn da wichtige und gute Hebel bereits?
Streidl: Diese ganzen Buzzwords, die es jetzt hierzulande ganz viel gibt, also von Nachhaltigkeit – wenn man zum Beispiel die Landwirtschaftsindustrie betrachtet, da gibt’s ja sehr viele tragische Geschichten, aber auch sehr viele Geschichten, die wirklich aufgrund von „Wir wollen noch mehr, noch mehr Tiere in noch weniger Stallfläche unterbringen, weil wir damit noch mehr Geld generieren können“ und so weiter … Da braucht’s – Nachhaltigkeit ist da eben ein gutes Stichwort – neue Strategien, neue Strukturen, in Sachen Klimakatastrophe natürlich auch, dass wir uns damit abfinden.

Für ein Wochenende nach New York fliegen

Das sagen ja Soziologen wie zum Beispiel Stephan Lessenich sehr lange schon, aber auch unser Wirtschaftsminister Robert Habeck verfolgt das ja, dass wir einfach uns damit abfinden müssen, dass sich unsere Leben ändern werden, dass wir vielleicht nicht nur schnell mal für ein Wochenende nach New York fliegen, einfach weil es geht, sondern vielleicht auch vorher mal überlegen: Muss ich das überhaupt machen?
Aber es gibt auf jeden Fall immer Alternativen, und das ist das, was ich mit diesem ersten Schritt gemeint habe, mit sich selbst wirklich in den Dialog zu treten. Wo kann ich einfach ein Genug etablieren, wo ist es ausreichend, was ich habe, und wo muss ich nicht noch weiter wachsen?
Und natürlich sind diese ganzen Nachrichten, die wir alle hören, von „Das Wachstum ist wieder um soundso viel Prozentpunkte dort hingekommen und trotz Krise, Krieg, Pandemie und so weiter sieht es doch ganz gut aus“, das sind so Sachen, wo viele Leute gar nicht so genau wissen: Was steckt jetzt eigentlich dahinter?
Die verunsichern natürlich dann auch, wenn man sagt: „Ich will vielleicht eigentlich gar nicht mehr wachsen.“ Das ist auf jeden Fall etwas, was aber in unserem Alltag so ganz stark einfach verwurzelt ist, dass sich kaum jemand vorstellen kann, dass man nicht wachsen möchte.

Barbara Streidl: "Gier. Wenn genug nicht genug ist"
S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022
112 Seiten, 15 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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